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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

868–870

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lüdtke, Antonia

Titel/Untertitel:

Confessional Gap. Konfessionalität und Religionsunterricht denken.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 440 S. m. 12 Abb. Kart. EUR 59,00. ISBN 9783170388772.

Rezensent:

Gerd Neuhaus

Mit dem Titel Confessional Gap legt die Studie von Antonia Lüdtke schon sprachlich den Eindruck nahe, sich in einer partikularen Reflexionskultur aufzuhalten, die ihre eigenen Codierungen hervorgebracht hat. Es handelt sich hier nämlich um eine religionspädagogische Dissertation, die an der Theologischen Universität Kiel im Rahmen des Projektes »Religiöse Vielfalt im konfessionellen Religionsunterricht« entstanden ist und sich ganz offensichtlich im Rahmen einer hier gepflegten Rhetorik aufhält.
Die Lücke (englisch gap), die L. in der schulischen Ortsbestimmung des konfessionellen Religionsunterrichts ausfüllen will, ergibt sich aus den veränderten Rahmenbedingungen, innerhalb derer er sich seit seiner verfassungsrechtlichen Grundlegung vollzieht. Denn auch wenn er inhaltlich in Verantwortung der Kirchen erteilt wird, sind unter den gegebenen schulorganisatorischen Bedingungen konfessionell homogene Lerngruppen immer seltener möglich. Für Schleswig-Holstein bedeutet dies, dass die traditionell protestantische Prägung der Bevölkerung unter den Schülern nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden kann – sei es, dass diese einer anderen Konfession oder Religion angehören, sei es, dass sie in ihrer eigenen Konfession nicht mehr beheimatet sind. Für L. ist dies jedoch kein Grund, das Konfessionalitätsprinzip zu verabschieden. Sie weiß vielmehr, dass die Auseinandersetzung mit einer Religion den Wechsel von Teilnehmer- und Beobachterperspektive braucht. So nimmt sie die Diversität und Multioptionalität des gesellschaftlichen Lebens als Herausforderung an, um das Konfessionalitätsprinzip neu zu bestimmen.
Insofern weiß sie auch, dass die Auseinandersetzung mit einer religiösen Lebensdeutung auf einen Lehrer angewiesen ist, der sich erkennbar positioniert. Dieses »Positionalitätsprinzip« grenzt sie nun in zweierlei Richtungen ab. Sie will es nicht mit einem »Repräsentationsprinzip« verwechselt sehen, das den Religionslehrer zu einem an die Schule versetzten Agenten seiner Kirche macht. Er soll vielmehr für Schüler erkennbar werden lassen, wie er sich als Glied seiner Kirche versteht. Daraus ergibt sich die angedeutete zweite Abgrenzung: Die solcherart geforderte Authentizität des Lehrers darf nicht in eine intellektuelle Überwältigung des Schülers geraten. Sie muss vielmehr erkennbar exemplarisch bleiben und in Ab­wandlung des berühmten Luther-Wortes signalisieren: Hier stehe ich, aber ihr könnt jederzeit auch anders.
Damit wird auch das Konfessionalitätsverständnis deutlich, zu dem L. gelangt: Konfessionalität ist für sie ein mehrdimensionaler »Containerbegriff«, dessen Unbestimmtheit es nicht zu überwinden, wohl aber zu reflektieren gilt. In ihm artikuliert sich für sie die genannte Multioptionalität eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem Menschen ihre Lebenswelt immer wieder neu erbauen und Identitäten sich verflüssigen.
Mit diesem aufgeweichten Verständnis von Konfessionalität ist nun auch einem etwaigen Kommunikationsgefälle zwischen Lehrern und Schülern eine weitgehende Absage erteilt. Schüler sind zuallererst als Konstrukteure ihrer eigenen Identität ernstzunehmen. Damit die angestrebte Diversität solcher Identitätsbildung nicht in Konfusion und Diffusion ausartet, bedarf es allerdings im Austausch von Lebensdeutungen zumindest vorläufig stabiler Orientierungspunkte. Diese erkennt L. in der bereits genannten Positionierung des Lehrers, der als »Fremdenführer« die Landschaft seiner Religiosität exemplarisch erkunden lässt. Sofern die Multioptionalität des Religionsunterrichts wirklich durchgehalten werden soll, muss jedoch für ihn ein schulischer Organisationsrahmen geschaffen werden, in dem die unterschiedlichen – und nicht nur christlichen – Gestalten von Konfessionalität ihre Erkundungslandschaften anbieten.
Spätestens hier stellt sich aber die Frage, ob auf diesem Wege ein Religionsunterricht, den wir vielerorts schon haben und der zum unverbindlichen Geplauder geworden ist, unter den Leitbegriffen von Individualisierung, Multioptionalität, Diversität und Heterogenität rhetorisch zu etwas gemacht wird, was er gar nicht ist und auch nicht sein kann. Diese Frage stellt sich umso mehr, als L. unter Identität etwas versteht, was sich erst als Ergebnis einer dialogischen Verständigung – und immer auch nur vorläufig – ergibt. Wenn Schüler aber Konstrukteure ihrer eigenen Identität sein sollen, dann gibt es Subjektivität nicht nur als Konstruktion, sondern auch als Konstrukteur, und das Verhältnis von Subjektivität und Identität wäre zuallererst einmal näher zu bestimmen. Insbesondere wenn Identität als etwas vorgestellt wird, was beständig im Fluss ist, muss es im Wechsel der Identitäten auch ein stabiles Subjekt geben, das die Abfolge diverser Identitätszustände als seine Entwicklung identifizieren kann. Denn in ihrer nur oberflächlichen Wahrnehmung dialogphilosophischer Entwürfe übersieht L., dass es nicht nur den Dialog über etwas, sondern auch den Dialog als eine Gestalt der Anrede gibt, die mich über meine vorläufigen Ich-Zustände erhebt (unübertrefflich dargestellt in Wolfgang Borcherts Erzählung vom »Schischyphusch«). Dies ist vor allem dann zu bedenken, wenn man die Sorge L.s vor solchen Identitätsangeboten teilt, die mehr als nur exemplarisch sein wollen. Ein Religi onsunterricht, dessen Konzeption diese Unterscheidung nicht mehr kennt, hat sich dem Dogma unterworfen, dass es keine letzten Verbindlichkeiten geben dürfe. In seiner Sorge darum, dass menschliche Identität flüssig und formbar bleibt, liefert er die Schüler spätestens jenseits des schulischen Schonraumes umso schonungsloser den Anpassungszwängen des ökonomischen und medialen Marktes aus, die gerade nicht exemplarisch sein wollen, sondern Unterwerfung verlangen. Die angebliche Kultur der Diversität und Heterogenität, welcher der vorliegende Entwurf sich verpflichtet weiß, dürfte eher eine Kultur des Marktes sein, die zu den überlieferten Gestalten der Konfessionalität nur noch als eine weitere hinzutritt. Der Separatismus, der hier überwunden werden soll, wird dabei nur neu erzeugt.
Das gilt nicht zuletzt für die eingangs angesprochene Sprachgestalt dieser Studie, die u. a. mit Kapitelüberschriften wie »Minding the gap«, »Surrounding the gap«, »Mapping the gap«, »Colouring the gap« und »Bridging the gap« keinen Anglizismus auslässt und den Leser in eine ganz eigene Sprachwelt entführt. Bedenkt man weiterhin, dass L. bis hin zur »Schüler*innenschaft« und »Zeug*in-nenschaft« ihre Sprache fast konsequent »gendert« – lediglich das Christentum ist noch nicht zum »Christ*innentum« mutiert –, kann man sich bei der Lektüre bisweilen fragen, ob es nicht authentischer gewesen wäre, das Buch gleich in englischer Sprache vorzulegen, da diese die Geschlechterproblematik nicht kennt.
Umgekehrt wäre es eine lohnende Aufgabe, darüber nachzudenken, was der schulische Religionsunterricht zur Stärkung derjenigen Ich-Instanz beitragen könnte, die dazu befähigt, zu der Verflüssigung menschlicher Identitätszustände in das genannte Verhältnis der Distanz zu gelangen. Hier böte die Auseinandersetzung mit dem biblischen Gott, der kein Ding in der Welt ist, uns aber in ein Verhältnis des Abstandes zur Welt bringt, einen ganz eigenen Ansatz dazu, Konfessionalität und Vielfalt in ein Verhältnis zu bringen.