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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

866–868

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lindner, Heike, u. Monika Tautz [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Heterogenität und Inklusion. Reflexionen und Anwendungen für die Religionspädagogik. Praxisband.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2019. 276 S. = Kölner Studien zur Religionspädagogik, 3. Kart. EUR 19,90. ISBN 9783643142672.

Rezensent:

Sabine Pemsel-Maier

Theoretische Abhandlungen zu Heterogenität und Inklusion auf der einen und Unterrichtsmaterialien auf der anderen Seite gibt es mittlerweile zahlreiche, doch religionspädagogisch begründete und didaktisch konturierte Publikationen sind nach wie vor eher rar gesät. Von daher ist es nachdrücklich zu begrüßen, dass die beiden Herausgeberinnen, evangelische Professorin für Religionspädagogik und katholische Studienrätin im Hochschuldienst, beide an der Universität zu Köln, auf ihren Theorieband von 2018 nun einen Praxisband folgen lassen, der beide Zugänge verbindet. Die Gliederung weist vier Themenbereiche auf: Grundlagen zu Religion, Bil dung und Inklusion; Lehr- und Lernort Hochschule; Lehr- und Lernort Religionsunterricht; der vierte Teil, mit »Entwicklungskonzepte: Schule« umschrieben, bündelt nicht primär Vorschläge zur Schulentwicklung, sondern Varianten und Weiterentwicklungen des Religionsunterrichts. Dieser und die Lehrkräftebildung stecken den Rahmen für die Darstellung ab.
Der Band legt einen weiten, in der Religionspädagogik üblichen Inklusionsbegriff zugrunde, der von religiöser, sozialer und kultureller Heterogenität an Regelschulen oder im Hochschulbetrieb bis zu Kindern und Jugendlichen mit Behinderung oder spezifischem Förderbedarf reicht. Diese umfassende Sicht macht ihn auch für diejenigen interessant, die nicht durch inklusive Schul- oder Hochschulsituationen im engen Sinne herausgefordert sind, die aber in ihrer täglichen Arbeit mit Heterogenitäten verschiedenster Art konfrontiert werden. Inhaltlich eröffnen die verschiedenen Beiträge ein weites Feld: von der Berufsschule bis zum Praxissemester, vom spirituellen bis zum interreligiösen Lernen, von der Kirchengeschichtsdidaktik bis zur Erschließung von religionspädagogischer Jugendliteratur, von Godly-Play bis zur komparativen Theologie, vom konfessionellen bis zum religionskooperativen Unterricht. Entsprechend erstreckt sich das Spektrum der Autorinnen und Autoren vom Förderschullehrer bis zur Hochschullehrerin, teils mit einander ergänzenden Ko-Autorenschaften über die vers chiedenen Berufsgruppen hinweg, so dass sich theoretische Re-flexion und praktische Umsetzung sinnvoll ergänzen. Je nach Perspektive werden Inklusion und Heterogenität religionspädagogisch, empirisch, theologisch, historisch, politisch, kulturhermeneutisch und mediendidaktisch reflektiert und in unterschiedlichem Maße auf die Praxis hin konkretisiert. Heterogenität spiegelt sich nicht nur in solcher Mehrperspektivität und in der Vielfalt der Themen wider, sondern auch in den unterschiedlichen Ausrichtungen der Beiträge, die Forschungsprojekte, Examensarbeiten, Werkstattberichte, Best-Practice-Beispiele und theoretisch grundierte Reflexionen umfassen. Sie alle – und das ist eine große Stärke des Buches – sind voll und ganz auf der Höhe des aktuellen Forschungsstands verfasst. Damit setzt der Band bei den Lesenden Vertrautheit mit den Diskursen um Inklusion und Heterogenität voraus, um gewinnbringend rezipiert zu werden.
Nicht unmittelbar praxisbezogen, sondern auf die Sensibilisierung für Praxis ausgerichtet, sind die beiden ersten Grundlagen-Beiträge: Sie stellen grundsätzliche Überlegungen an zu religionssensibler Bildung in heterogenen Berufsintegrationsklassen mit Geflüchteten sowie zur Wahrnehmung und Reflexion von Grenzen und der Notwendigkeit von Entgrenzungen. Der Teil zu Inklusion und Heterogenität in der Hochschule nimmt, neben allgemeinen Überlegungen zu Inklusion als Aufgabe von Hochschulbildung (Reis), zwei Herausforderungen in den Blick, die sich an allen Hochschulen in der Religionslehrkräftebildung stellen: zum einen die notwendige Entwicklung eines inklusionsadäquaten Habitus im Kontext des Praxissemesters, zum anderen das Konzept erinnerungskultureller Arbeit in der Kirchengeschichtsdidaktik und seine Relevanz für die Ausprägung eines Habitus von Lehrpersonen, wobei hier die Dimension der Heterogenität eher knapp bedacht wird. Weitere Überlegungen zu anderen hochschuldidaktischen Feldern, etwa der Bibel- oder der Ethikdidaktik, hätten sich hier angeboten. Stattdessen werden Erfahrungen aus einem Kölner Lehrprojekt zum Umgang mit herausfordernden Lehr-/Lernsituationen in den Fächern Biologie und evangelische Theologie vorgestellt, die vor allem auf die spezifische Situation vor Ort fokussieren. Einen weiten Horizont spannen die Beiträge zum Religionsunterricht auf: Die Ausführungen zum dis/ability-kritischen Um­gang mit biblischen Texten, die von Behinderung und Heilung handeln und nach neuen Lesarten verlangen, weil ihre traditionelle Auslegung stigmatisieren und das ureigene Anliegen von Inklusion konterkarieren kann, seien allen Lehrkräften an Sonder- wie an Regelschulen ans Herz gelegt. Das Gleiche gilt auch für die konkret gestaltete Erschließung von Texten der Jugendliteratur, die religionspädagogisches Potential für inklusive Lernsettings in der Sekundarstufe bieten. Ebenfalls auf die Sekundarstufe bezogen ist die Vorstellung einer an spiritualitätsdidaktischen Leitlinien ausgerichteten spirituellen Projektwoche als außerunterrichtliches Angebot an eine heterogene Schülergruppe.
Auf die spezifische Situation in einer Förderschule für Sprachentwicklungsverzögerung heben Überlegungen ab, wie das ur­sprünglich für Gemeindekontexte entwickelte Konzept des Godly-Play für die Förderschule modifiziert und gewinnbringend eingesetzt werden kann. Unter dem Stichwort »Entwicklungskonzepte« inspiriert ein Kölner Projekt zur Lehrkräftefortbildung, das nach einer Neuformatierung des konfessionellen Religionsunterrichts angesichts wachsender Heterogenität sucht – eine Herausforderung, vor der gegenwärtig ebenfalls ausnahmslos alle Lehrkräfte stehen. Nicht neu, sondern auch in anderen Zusammenhängen praktiziert und evaluiert ist das im Folgebeitrag dargestellte christlich-islamische interreligiöse Begegnungslernen nach dem Prinzip der komparativen Theologie, das hier unter dem Begriff »religionskooperativer Religionsunterricht« firmiert. Ein weiteres Modellprojekt zum interreligiösen Lernen stellt verschiedene Kooperationsformen (Parallelunterricht, Lehrerwechsel, Ar­beit in gemischten Gruppen) des christlich-islamischen Lernens an einer Schule in evangelischer Trägerschaft vor.
Der Band besticht durch seine vielfältigen Perspektiven, die, in inklusiver Diktion formuliert, Inklusion und Heterogenität als »gemeinsamen Gegenstand« von unterschiedlichen Seiten be­leuchten. Die Kehrseite der inhaltlich, methodisch und perspektivisch gewollten Heterogenität in Bezug auf die Auswahl der Beiträge ist eine gewisse Disparatheit, die allerdings den meisten Sammelbänden zu eigen ist. Sie schmälert auch nicht die Erträge des Bandes. Von Seiten der Lesenden lässt sich dieser Disparatheit da­durch leicht begegnen, dass sie das für sich und ihren Arbeitsbereich Relevante auswählen – und mit Gewinn lesen werden. Unabhängig von der Anlage dieses Bandes bleibt als offene Frage: Wenn Heterogenität überall gegeben ist und Inklusion alles umfasst – Kinder und Jugendliche mit spezifischem Förderbedarf, interreligiöses Lernen und Lernen in allen möglichen heterogenen Lerngruppen (existieren überhaupt homogene Lernsituationen?) –, wie lässt sich dann verhindern, dass Inklusion und Heterogenität zu Containerbegriffen werden, die am Ende inhaltsleer sind?