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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

859–861

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Beile, Markus

Titel/Untertitel:

Erneuern oder untergehen. Evangelische Kirchen vor der Entscheidung.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2021. 384 S. Geb. EUR 22,00. ISBN 9783579071725.

Rezensent:

Alexander Garth

Dieses Buch ist ein Plädoyer für die Erneuerung des Protestantismus bei uns. Ausgehend von einer Studie zur religiösen Situation in der Schweiz und vielen Beobachtungen und Erfahrungen aus der Lebenswirklichkeit von Welt und Kirche steht den protestantischen Kirchen ein beispielloser Niedergang bevor. Der badische Pfarrer Markus Beile entwickelt eine radikale Therapie. Das Buch steht in der Tradition des liberalen Protestantismus, die christliche Botschaft anzupassen an das aktuelle Denken und Lebensgefühl, um Glauben und Kirche attraktiv zu machen. B. nimmt spätmoderne und säkulare Menschen in den Blick, die mit dem Christentum nichts anfangen können. Welche Inhalte, Kommunikationsformen und kulturellen Erscheinungsbilder verhindern das In-teresse für Glaube und Kirche? Wie muss Kirche arbeiten, um einladend und gewinnend in diese Milieus hinein zu wirken?
Zu den Stärken des Buches gehört erstens, dass es flüssig geschrieben ist und sich gut liest. Zweitens verlässt ein Kirchenautor die Box protestantischer Kirchlichkeit und fragt, wie Kirche wohl an­kommt bei Leuten, die postmodern und säkular ticken. Man liest mit großem Gewinn, wie B. spätmoderne Lebenswirklichkeiten und Befindlichkeiten beschreibt. Diese konfrontiert er mit dem kirchlichen Erscheinungsbild, das für viele Menschen einfach nur fremd und abgehängt wirkt. Was in kirchlichen Räumen geschieht, hat oft etwas »Schweres, Dunkles und Vergangenes« und widerstrebt dem Lebensgefühl spätmoderner Menschen: zu wortlastig, unsinnlich und verstaubt, als dass das interessieren könnte, ge­schweige denn begeistern. Die existenziellen Probleme und Fragen der Leute tauchen kaum auf. Drittens steckt das Buch voller kreativer Ideen und Anregungen, das Gemeindeleben nahe am Puls der Zeit und an den Lebenswelten der Menschen zu gestalten. In zwölf Kapiteln, die verschiedenen Bereichen kirchlicher Arbeit zugeordnet sind, beschreibt B., wie theologische Aussagen und praktische Umsetzungen neu formatiert werden müssen, um die Menschen zu erreichen. Das macht diese Publikation zu einem inspirierenden Arbeitsbuch für die gemeindliche Praxis.
Was die Kritikpunkte anbelangt, die ebenfalls zu bemerken sind, ist Folgendes zu sagen:
1. Die Zukunft des Protestantismus erblickt B. darin, den Glauben für spätmoderne, säkulare Menschen attraktiv zu machen. Dieses respektable Anliegen wird umgesetzt, indem alle kirchlichen Lehren, die sich nach seiner Überzeugung überlebt haben, entsorgt oder wenigstens neu interpretiert werden: der personale Gottesbegriff, Gottessohnschaft Jesu, Erlösung von Sünde, stellvertretender Sühnetod Jesu, Jüngstes Gericht. Das ist weder gelungen noch zeitgemäß. Was am Ende herauskommt, ist ein auf das Verstehbare heruntergestutzter Jesus als »Wegweiser zu einem erfüllten Leben« und Lehrer einer »heilen Welt«. Die Frage ist, ob die Botschaft der Kirche mit diesem netten, aber harmlosen Christus die Dynamik generieren kann, die es für einen Aufbruch der Kirche braucht?
2. Gerade in seinen kritischen Passagen versteigt sich B. in intellektuelle Höhen. Dabei wird alles irgendwie unverständlich, unanschaulich, kryptisch, verkopft, professoral. Er lehrt, dass die Bibel »mytho-poetisch« zu lesen sei. Wer soll das verstehen? Ist die Bibel ein Buch nur für Leute, die mindestens ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert haben? Gleichzeitig schwärmt B. vom »Priestertum aller Gläubigen«. Wie soll das funktionieren, wenn die Gläubigen die Bibel nicht richtig lesen können? B. stellt die »einseitig personale Gottesvorstellung kritisch infrage« und fordert »das anspruchsvolle Unternehmen«, diese metaphorisch zu verstehen. Der Bibelleser als kleiner Literaturprofessor? B.s Buch bestätigt, dass der liberale Protestantismus ein Elitephänomen ist, das vielleicht eine gewisse Attraktivität für skeptische Intellektuelle hat, aber sicher keine Breitenwirkung im Volk zu erzielen vermag. Im Gegenteil: Leute, die nicht theologisch verbildet sind, verstehen nur, dass das mit dem christlichen Glauben total kompliziert und abgehoben ist und hinten und vorn nicht stimmt. Und: B.s liberaler Protestantismus zerstört den schlichten Glauben, den Jesus gepriesen hat.
3. Das Denken und Lebensgefühl spätmoderner Menschen ist gekennzeichnet von einer radikalen Diesseitigkeit. Das Leben er­eignet sich hier und jetzt. Diese Eingrenzung kollidiert mit der christlichen Hoffnung, dass unser Leben seine letzte große Bestimmung und Vollendung findet in Gottes neuer Welt. Wer sich der weltanschaulichen Diesseitsfixierung beugt, der hat über den Himmel kaum noch etwas zu sagen. Man spürt B.s verkrampftes Bemühen, angesichts dieser Diesseitigkeit doch noch irgendwie den Himmel zu retten, wenn auch nur als vage »Hoffnung auf eine qualitative Vertiefung ›jetzt und hier‹, die auch angesichts der Todesgrenze Gültigkeit behält«. Wie soll aus solchen Formulierungen Trost sprechen?
4. Dem Diktat der Diesseitigkeit folgend, ist es nach B. Aufgabe der Kirche, das Reich Gottes »in dieser Welt zu leben und in der kirchlichen Praxis Wirklichkeit werden zu lassen«. Es gibt viele Beispiele in der Geschichte, die Reich-Gottes-Idee Jesu in dieser Welt zu verwirklichen. Das ist nie gelungen und endete oft in der Katastrophe. Wenn die Theologie die Tiefe des Sündenfalls nicht mehr versteht und die Sündhaftigkeit des Menschen unterschätzt, kann man leicht der Illusion erliegen, wir könnten das Reich Gottes schon hier und jetzt errichten. Mit Jesus ist das Reich Gottes zwar angebrochen, aber die Vollendung steht noch aus, und die ge­schieht durch Gott am Ende der Zeit. B.s Anliegen, das Reich Gottes in der kirchlichen Praxis zu verwirklichen, erzeugt Stress, Aktionismus, Überforderung und letztlich Frustration, weil der Mensch scheitern muss bei dem Versuch, etwas zu wirken, was nur durch ein übernatürliches Eingreifen Gottes Wirklichkeit wird.
5. Die starke Diesseitsfixierung von B.s Entwurf verhindert die Anschlussfähigkeit des Christentums an Spiritualität und geist-liche Selbstvergewisserung. Menschen mit spirituellem Weltbild gehen von der Verdopplung der Wirklichkeit aus: diese Welt und die jenseitige geistlich-geistige Welt. Es ist ein spätmoderner Trend, dass die Anzahl der Menschen zunimmt, die an Wunder, Visionen, Offenbarungen, Engel glauben. Sie würden B.s reduktive Weltsicht einseitig und uninteressant finden.
6. B. will den Protestantismus zukunftsfähig machen. Das Christentum, insbesondere der Protestantismus, lässt sich in einer globalisierten Welt nur als globale Bewegung verstehen, die in fast allen Teilen der Welt eine unglaubliche Wachstumsdynamik entfaltet, besonders durch den linken Flügel der Reformation, die pentekostalen und charismatischen Kirchen und Bewegungen. Der liberale Protestantismus des Westens ist global gesehen ein winziges Randphänomen und ein Notstandsgebiet. B. möchte zu einem Aufbruch inspirieren und konzentriert sich dabei einseitig auf die Rettung des liberalen Protestantismus Deutschlands und der Schweiz, ohne über den Tellerrand zu schauen, warum der Protes-tantismus woanders ein Erfolgsmodell ist. Dieser Tunnelblick verleiht dem Buch etwas Provinzielles.
Fazit: Wer wissen will, warum Kirche bei uns nicht mehr läuft, sollte B.s Buch lesen. Wer wissen will, wie Kirche wieder lebendig wird, sollte das Wachstum des weltweiten Protestantismus stu-dieren.