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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

856–859

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bär, Martina

Titel/Untertitel:

Urbane Logik und Theo-Logik. Gottesrede in (post-)modernen Stadtgesellschaften.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 400 S. Kart. EUR 65,00. ISBN 9783451389740.

Rezensent:

Christopher Zarnow

Dominierte lange ein sozialwissenschaftliches Narrativ, demzufolge die großen Städte als Vorreiter und Speerspitze der Säkularisierung galten, hat sich die Perspektive in den letzten zwei Jahrzehnten gründlich verschoben bzw. erweitert. Die Erzählung von der säkularen Stadt wird um das Kapitel von der Stadt als Ort der religiösen Produktivität und Vielfalt ergänzt. Wie Religion in den urbanen Räumen eingeschrieben ist, welche sozialen und ökonomischen Dynamiken urbane Religionsmärkte entfalten, welche In­terdependenzen zwischen religiösen Topographien und der städtischen Raumgliederung bestehen – diese Fragen werden zum Ge­genstand empirischer Forschung und Thema wissenschaftlicher Diskurse gemacht.
Auch theologischerseits wird Anschluss an diese neueren raum- und stadtsoziologischen Debatten gesucht. Dabei gehören die Selbstverortung des christlichen Glaubens innerhalb der eigenen Gegenwart sowie die Deutung der »Situation« bzw. der »Großwetterlage«, in die hinein Glaube sprechen soll, zu den Kernanliegen des modernen Protestantismus. Allerdings wird die räumlich-lokale Dimension dieser Gegenwart eher selten reflektiert. Die »Zeichen der Zeit« gelte es zu erkennen – weit weniger diejenigen des (konkreten) Raums. Eine Theologie der Stadt, die in Auseinandersetzung mit Themen, Fragestellungen und Perspektiven der zeitgenössischen Urbanistik die Stadt als Kontext und Lebensraum des christlichen Glaubens reflektiert, ist bislang – trotz vieler vorrangig praktisch-theologischer Einzelstudien zum Thema – ein Desiderat.
Etwas anders stellt sich die Sache aus katholischer Perspektive dar. Unter dem etablierten Stichwort der »urbanen Pastoral«, das seinen Ursprung in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie hat, wird das städtische Umfeld unter apologetischen, missionstheologischen und interkulturellen Gesichtspunkten programmatisch in den Blick genommen. Von daher nimmt es auch nicht wunder, dass eine der ersten deutschsprachigen systematisch-theologischen Monographien, welche die Breite des aktuellen stadtsoziologischen Diskurses rezipiert, von einer Katholikin verfasst wurde.
Die im Herder-Verlag erschienene Habilitationsschrift von Martina Bär ist in drei Hauptteile und eine Einleitung gegliedert. Im einleitenden Abschnitt wird die Fragestellung der Untersuchung motiviert und innerhalb der Forschungslandschaft verortet. Die bereits angedeutete Säkularisierungsthematik wird ausführlich besprochen, wobei B. eine mittlere Position zwischen Befürwortern und Gegnern der Säkularisierungsthese bezieht. Einerseits schließt sie sich der grundsätzlichen Annahme an, »dass Modernisierung und Säkularisierung miteinander korrelieren und die Prozesse der Säkularisierung am stärksten in (post-)modernen Großstädten wirken« (35). Andererseits will sie sich gleichermaßen von der Vorstellung »lösen, dass Religion und Moderne nicht zusammengehen« (65). Auf den Begriff gebracht findet sie dieses Spannungsverhältnis in dem Ambivalenzmodell der multiplen Modernen von Shmuel N. Eisenstadt: »In modernen Gesellschaften ko-existieren traditionelle, moderne und postmoderne Strömungen. Religion hat einen Platz in der Moderne.« (68; Herv. M. B.) Dieser affirmative Gestus vermag auf den ersten Blick zu verwundern. Denn dass die (hier: den »traditionellen Strömungen« zugehörige?) Religion einen Platz in der Moderne hat, erweist sie ja schon durch ihr faktisches Bestehen. Die Frage kann also nur lauten, ob sie diesen Platz auch legitimerweise bezieht. Über diese Frage geben empirisch-soziologische Befunde freilich gar keine Auskunft. Ihre Bearbeitung setzt, wie B. selbst bemerkt, eine Analyse des »kulturelle[n] Programm[s] der Moderne« (63) – früher hätte man gesagt: ihres »Wesens« oder »Geistes« (Ernst Troeltsch) – voraus. Worin das normative Anforderungsprofil dieses Programms in religionstheoretischer Hinsicht besteht, darüber liest man nicht nichts, aber wenig. Das mag auch damit zusammenhängen, dass der Religionsbegriff selbst von B. nicht kategorial entfaltet wird. Dadurch wird das Beweisziel dieses Teils, die Widerlegung der Annahme, dass »Religion und Moderne nicht zusammengehen« (65), argumentativ nur zur Hälfte eingelöst.
Der erste und umfangreichste Hauptteil der Untersuchung bietet eine Darstellung unterschiedlicher stadtsoziologischer Ansätze und Konzepte. Im Rahmen einer historischen Grundlegung werden in knappen, aber präzisen Zusammenfassungen die soziologischen Klassiker zum Thema – Max Weber, Georg Simmel, Emile Durkheim, Walter Benjamin, Robert E. Park – dargestellt. B. zeichnet sodann nach, wie sich in der Folgezeit eine Sichtweise auf die (Groß-)Stadt etabliert hat, nach der diese als »Laboratorium« bzw. »Spiegel« allgemeiner gesellschaftlicher Tendenzen zu gelten habe. Die Stadt gilt hier als »Bühne« (111) des gesellschaftlichen Lebens, und die Stadtsoziologie erforscht das Leben, das sich auf dieser Bühne abspielt – nicht aber die Bühne selbst. Damit ist aber bereits die Krise der modernen Stadtsoziologie programmiert: Die Stadtsoziologie wird zur allgemeinen Gesellschaftstheorie und verliert ihren distinkten Gegenstand aus den Augen.
Die so skizzierte Krisendiagnostik ist vor zehn Jahren prominent von Martina Löw vorgetragen worden und hat maßgeblich dazu beigetragen, das von ihr und Helmuth Berking entwickelte Programm einer vergleichenden Stadtsoziologie wissenschaftsstrategisch zu positionieren. B. übernimmt diese Sichtweise und folgt dem von Löw angebotenen Forschungsnarrativ: Das (vermeintlich) in die Krise geratene »Labor-« bzw. »Spiegelkonzept« wird nur knapp erwähnt, während der inhaltliche Schwerpunkt der Darstellung auf der historischen Soziologie und vor allem auf dem von Löw und Berking entwickelten »Eigenlogik-Ansatz« liegt. Beide Ansätze kommen für B. dabei in dem Punkt zusammen, dass sie die konkrete, individuelle und historisch gewordene Stadt in ihrem einzigartigen Stadtbild, ihrer Ikonographik und der sich in die Alltagspraktiken ihrer Bewohner und Bewohnerinnen einschreibenden »Eigenlogik« zum Gegenstand der Betrachtung erheben. Ebenfalls im Gefolge Löws zeichnet B. diesen Kurswechsel des stadtsoziologischen Forschungsinteresses in den größeren Rahmen eines spatial turn innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften ein und bietet auch hier eine knappe, aber präzise Darstellung maßgeblicher Referenzautoren (noch einmal Durkheim und Simmel, Michel Foucault, Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu, Anthony Giddens). Beweisziel der Argumentation ist die Erhärtung der These, dass der Stadtraum »von einer bestimmten Logik geprägt ist, der auf die Stadtmenschen wirkt und ihren Lebensstil und ihre Alltagsroutinen beeinflusst« (25) – damit aber auch ihre Empfänglichkeit in Sachen Religion.
Im zweiten Hauptteil entfaltet B. die theologischen Prämissen ihrer Untersuchung und verortet ihren Ansatz im innerkatholischen Fachdiskurs. Dazu nur ein paar evangelische Außenwahrnehmungen zum Theologiebegriff. Erstens: Theologie ist nach B. Rede über Gott auf Grundlage des offenbarten Wortes Gottes und zielt auf eine wirkmächtige Veränderung der individuellen und sozialen Lebensverhältnisse nach dem Vorbild der Evangeliumsverkündigung Jesu. Damit wird die Theologie vorrangig als Impulsgeberin für urbane Transformations- und Integrationsprozesse gesehen, um »den Stadtraum im Sinne und nach den Prinzipien des Reiches Gottes« (318) zu gestalten – weniger als möglicher Ort, an dem auch und gerade die Endlichkeit und Begrenztheit menschlicher Integrationsbemühungen reflektiert wird. Zweitens: Subjekt und Organ dieser Theologie ist die katholische Kirche und ihre Gläubigen. Sie ist in Gestalt ihrer Dogmatik im Besitz der »gegebenen Glaubenswahrheit« (279), deren Inhalte dann allerdings der urbanen Lebenswelt auf eine verständliche Art und Weise zu vermitteln sind. Drittens: Die so umrissene »Theo-Logik« versucht B. durch eine an Schelling anknüpfende vernunft- und freiheitstheoretische Grundlegung mit der modernen Individualitätskultur zu vermitteln. Dem Freiheitsbewusstsein des modernen Menschen soll nämlich insofern Rechnung getragen werden, »dass der Mensch in einem Akt freier Selbstbestimmung entscheiden kann, ob er sich in seinem Leben und Handeln von der Liebe Gottes bestimmen lassen und in die Wahrheit und Wirklichkeit Gottes eingeführt werden will« (267). Kritisch rückzufragen wäre aus religionsphilosophischer Perspektive, ob eine solche Bestimmung religiöser Freiheit nicht allerdings in gewisser Weise zugleich zu stark und zu schwach ist: zu stark, weil sich der Widerfahrnischarakter religiöser Sinnerschließung aus Perspektive des Subjekts zumindest prima facie gar nicht als Akt einer freien Entscheidung darstellt; zu schwach, weil sich das Prinzip der Selbstbestimmung auch und gerade in religiöser Hinsicht nicht auf den Punkt einer Einwilligungsfreiheit zum Fremdbestimmtwerden reduzieren lässt.
Im Schlussteil werden die soziologischen und theologischen Erträge der vorangegangenen Kapitel in Beziehung zueinander gesetzt. Die Erfassung der städtischen »Eigenlogik« dient nun vorrangig dazu, die Verkündigung der Kirche gleichsam punktgenau auf die Wirklichkeit der jeweiligen Stadt zuzuschneiden. Problematisch wirkt sich spätestens hier der mit »Eigenlogik-Ansatz« verbundene methodische Holismus aus. Die einzelne Stadt wird als ein geschlossenes Ganzes in den Blick genommen, so dass bspw. das »Ausdifferenzieren von Handlungen« (359) – nach klassischer so-ziologischer Theorie ein Merkmal komplexer sozialer Systeme schlechthin – nun als individuelle Besonderheit der Stadt Frankfurt am Main erscheint (vgl. ebd.). Der Ertrag der exemplarisch nachgezeichneten »Eigenlogiken« unterschiedlicher Städte für das im jeweiligen Kontext »zu vermittelnde Gottesbild« (358) bleibt jedenfalls eher abstrakt – was umso stärker ins Auge fällt, weil der Teil ansonsten viele konkrete Anregungen für die Selbstpositionierung der Kirche im urbanen Raum enthält.
Diese Rückfragen, die natürlich auch meinen eigenen (evangelischen) Standpunkt widerspiegeln, sollen den Gesamtwert der Untersuchung nicht schmälern: Es handelt sich um das erste Werk seiner Art, das die Entwicklungen der neueren deutschsprachigen Stadtsoziologie umfänglich und systematisch rezipiert sowie theologisch fruchtbar zu machen sucht. Von daher wünsche ich dem Buch eine breite Rezeption, auch innerhalb der evangelischen Theologie. Besonders das ausführliche zweite Kapitel, das einen gut lesbaren Überblick über die Diskurslandschaft des 20. Jh.s gibt, scheint mir darüber hinaus auch für den Einsatz in Lehrveranstaltungen gut geeignet zu sein.