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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

854–856

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Stricker, Anne Katrin

Titel/Untertitel:

Zwischen Konstruktion und Erfahrung. Eine Auseinandersetzung mit Gordon D. Kaufmans Theologie der »imaginative construction«.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. VIII, 261 S. = Religion in Philosophy and Theology, 103. Kart. EUR 69,00. ISBN 9783161590061.

Rezensent:

Marion Grau

Anne Katrin Strickers Monographie wurde von Christian Schwarke als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der TU Dresden betreut und ist nun in der von Ingolf U. Dalferth herausgegebenen Mohr Siebeck-Reihe »Religion in Philosophy and Theology« erhältlich. Diese Arbeit will der Entfremdung von Kirche und Christentum und den daraus resultierenden Schwierigkeiten, christliche Inhalte zu vermitteln, dadurch begegnen, das Potential von Gordon Kaufmans theologischem Beitrag kritisch zu erweitern und einer kreativen Neuformulierung von Theologie zugänglich zu machen.
Die Arbeit widmet sich nach der obligatorischen thematischen Hinführung und einem Durchgang durch den Stand der Forschung Gordon Kaufmans Konzeption der »imaginative construction«. S. weitet Kaufmans Theologie dadurch aus, dass sie seine Re­zeption der Wittgensteinschen Sprachphilosophie (Kapitel 3) und von Kants Diskussion der Erfahrung (Kapitel 4) weiterführt und einen neuen Ansatz zur Verknüpfung von Konstruktion und Er­fahrung aufzeigen will. Kapitel 5 beschäftigt sich mit den individualpsychologischen Grundlagen des Erinnerns als Basis für Erfahrung. Abschließend webt S. diese Einsichten in ihren Entwurf zur »Praxis des kreativen Erinnerns« als Grundlage von Theologie und Religion zusammen.
S.s Gang durch Kaufmans theologische Produktion ist durch-gehend gründlich und widmet sich detailliert der Entwicklung des Denkens des mennonitischen Theologen und seinem Beitrag zum Begriff der »constructive imagination«. Kaufmans Darstellung der konstruktiven Theologie als öffentliche Theologie (48), die von den Theologisierenden auch einen gewissen kritischen Abstand von der eigenen konfessionellen Tradition fordert (55 f.), führt dann für S. zu einem Dilemma, an dem Kaufmans Ansatz leidet. S.s Hauptkritik zielt auf dieses ihrer Meinung nach unzureichend behan-delte Dilemma: den unscharfen Sprachgebrauch Kaufmans. S.s Darstellung analysiert Kaufmans mangelnde Definition von »constructive«. Der Begriff bleibt offen und wird auch in den späteren Arbeiten nicht zufriedenstellend eingegrenzt. S. kritisiert weiter, dass Kaufman es nicht vermag, die problematische Spannung zwischen der Undenkbarkeit des göttlichen Mysteriums und der eigenen Betonung, dass Theologie neu und passender konstruiert werden solle, sinnvoll darzustellen. Anders gesagt, wenn Gott für Kaufman nicht erfahrbar ist, wie lässt sich dann die Adäquatheit konstruktiver theologischer Sprache bewerten, die eine befreiende Wirkung auf Menschen haben soll (81)?
S. macht dies im Besonderen an der Spannung zwischen »Sprache« und »Erfahrung« in Kaufmans Werk fest. Beide Begriffe werden laut S. in Kaufmans Texten widersprüchlich verwendet, was sie als sowohl paradox aber auch paradigmatisch für den gegenwär-tigen Kontext sieht (69). Daher konzentriert sich S.s Darstellung auf das Verhältnis zwischen Glaube, Sprache, Erfahrung und Erinnerung als Komponenten konstruktiver, kreativer Imagination, die laut Kaufman helfen soll, die Welt zu beschreiben und sich in ihr zu orientieren (86).
Das dritte Kapitel widmet sich der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Revolution der Sprache, die diese Konstruktion verlange. Nach einer Besprechung Wittgensteinscher Sprachphilosophie, so wie sie von Kaufman rezipiert wurde, zieht S. den Schluss, dass Entfremdung von der Kirche nicht unbedingt an mangelnder Rekonstruktion von Sprache allein festgemacht werden könne, dass aber aktualisierender Sprachwandel schon immer Teil des theologischen Denkens sei (139). Kapitel 4 befasst sich mit der Frage, wie die von Kaufman vernachlässigte Kategorie der Erfahrung in diesen Sprachwandel produktiv integriert werden kann. Hier werden unter anderem Arbeiten von Martin Jung, Jörg Lauster und Hans-Peter Großhans in die Erläuterung des Erfahrungsbegriffs als Lebensdeutung miteingebunden. Das von S. definierte Hauptproblem Kaufmans, nämlich die mangelnde Differenzierung von Offenbarung, religiöser Sprache, Konstruktion, Glaube und Erfahrung (186), stellt hier die Möglichkeit konstruktiver Theologie in Frage: »Der undifferenzierte Bezug Kaufmans auf religiöse und theologische Sprache erschwert es, genau zu bestimmen, worauf er sich eigentlich bezieht, wenn er die mangelnde expres-sive Angemessenheit der Sprache beklagt.« (187) Ob aber Missverständlichkeit eine Unmöglichkeit von (konstruktiver) Theologie à la Kaufman darstellt, ist fraglich.
Ansätze, die sich mit dem Beitrag einer einzigen Figur beschäftigen, haben Vor- und auch Nachteile. Zu den Nachteilen zählt, dass wenig Raum für die weitere Aufnahme von anderen relevanten Beiträgen zur gestellten Fragestellung bleibt und die Betrachtungen sich sozusagen nicht über den Kaufmanschen Tellerrand hinausbewegen. Deswegen scheint es hier und dort unproduktiv, immer wieder auf der gleichen scheinbaren Unzulänglichkeit Kaufmans herumzureiten: S.s Ansatz postuliert einen relativ starken Gegensatz von Sprache und Erfahrung, der Kaufmans theologischer Methode zugrundeliegt. Diese sei basiert auf Kaufmans Wittgensteinrezeption, die ein autonom konstruierendes Subjekt benötigt (6).
Doch haben andere Theologen neben und nach Kaufman weiter an der Begrifflichkeit von Sprache und Erfahrung gearbeitet und theologische Sprache als notwendiges Medium für Erfahrung neu betont, auch wenn die Unzulänglichkeit von Sprache im Allgemeinen und von theologischer Sprache im Besonderen immer in Rechnung zu stellen ist. Die Spannung, die zwischen Apophase, also der Unsagbarkeit des Göttlichen und dem bestmöglichen Gebrauch von theologischer Sprache besteht, wird z. B. von Catherine Keller als endemisch für jede Theologie angesehen und bleibt ein wichtiges Korrektiv für jede Art von Theologie, auch die eigene.
Der sprachlichen Spannung zwischen Apophase und theolo-gischer Sprache, die den Fokus von S.s wertvoller Arbeit bildet, haben sich einige Kaufman folgende konstruktive Theologinnen und Theologen gewidmet. Als ein Beispiel sei hier Kellers Rezep-tion von Nicholas von Kues und seiner docta ignorantia ge­nannt, die sich mit der Unvereinbarkeit und dem gleichzeitigen paradoxen Miteinander von via negativa und via positiva in der theolo-gischen Sprache auseinandergesetzt hat.
Einige Unschärfen im Sprachgebrauch sind auch in dieser sehr mit Sprache befassten Untersuchung anzumelden: S.s wiederholte Behauptung, dass Kaufman »breit rezipiert wird, aber nicht schulbildend gewirkt« (10) habe, wird nicht weiter belegt. Die Frage erhebt sich, was mit »schulbildend« gemeint ist und wo eine implizierte Grenze zwischen Rezeption und theologischer Schulbildung verläuft. Denn die konstruktive Theologie hat sich mit und durch den Beitrag Kaufmans hinaus wesentlich über die letzten Jahrzehnte weiterentwickelt. Ein Ausblick auf Autorinnen und Autoren, die Kaufmans Ansatz und Impetus weiterentwickelt haben, und Theologien, die Kaufman wegweisend beeinflusst hat, wären hier hilfreich gewesen. So stellt etwa Jason Wyman in seiner Ge­schichte der konstruktiven Theologie in den USA Kaufman zusammen mit Sallie McFague, Edward Farley und David Tracy als Theologen dar, der wesentlich zu den Prolegomena der konstruktiven Theologie beigetragen hat (s. Wyman, Constructing Constructive Theology).
Ein Hinweis auf Kaufmans direkten Einfluss auf die konstruktive Theologie in den USA hätte dem Text m. E. zusätzliche Anknüpfungspunkte zur gegenwärtigen Verbreitung dieses theologischen Ansatzes auch in Europa gegeben, in den S. ja hineinschreibt. Leider bleiben diese Verzweigungen so in diesem Text unsichtbar und werden noch nicht für mögliche Ansätze der Sprachlosigkeit des Christentums in der (westlichen) Moderne miteinbezogen. In den USA zumindest wird der Begriff »constructive theology« besonders mit der expliziten Reflexion von Kontext und Erfahrung theologisch verknüpft, und daher setzt sich S. mit diesen ineinander verschränkten Begriffen auseinander. Sprache ist in diesem Zusammenhang eine Art und Weise, wie erinnerte Erfahrung sich weiterbildet, und wird oft nicht im Gegensatz zu Erinnerung aufgefasst, so dass Sprache erinnerte Erfahrung ergänzend zur »creative imagination« verarbeitet.
S.s Arbeit ist ein wichtiger und fundierter Beitrag im gegenwärtigen deutschsprachigen theologischen Diskurs, der Kaufmans Arbeiten zum Thema Konstruktion und Erfahrung für die theo-logische Arbeit fruchtbar macht. Damit fordert S. den deutsch-sprachigen theologischen Diskurs dazu auf, sich nicht nur mit der gegenwärtigen Sprachlosigkeit zu beschäftigen, sondern auch Modelle theologischen Denkens aus dem in der deutschen Theologie oft ignorierten US-amerikanischen Diskurs mit einzubeziehen. Dies öffnet auch für eine Erweiterung der Methodenvielfalt in der systematischen und praktisch-theologischen Arbeit und wird hoffentlich Gehör finden und neue Kommunikationsansätze inspi-rieren. S.s Konzeption einer »Praxis des kreativen Erinnerns als Grundlage von Theologie und Religion« kann hier einen Beitrag zur weiteren Entfaltung und genaueren Verortung einer »creative imagination« liefern.