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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

836–838

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Patzold, Steffen

Titel/Untertitel:

Presbyter. Moral, Mobilität und die Kirchenorganisation im Karolingerreich.

Verlag:

Stuttgart: Anton Hiersemann Verlag 2020. 599 S. = Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 68. Lw. EUR 196,00. ISBN 9783777220239.

Rezensent:

Johannes Fried

»Presbyter«, »Priester«, ist in steter Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der »Eigenkirche« eine umfassende Analyse der Priesterschaft, ihrer geistigen Prägung und der Ordnung der Tauf- und Predigtkirchen in karolingischer Zeit. Die Lehre von der »Eigenkirche«, wie sie der junge Ulrich Stutz in seiner juristischen Dissertation von 1895 entworfen hatte und wie sie über ein Jahrhundert als maßgeblich anerkannt wurde, besitzt nach der gründlichen, um­fassenden und von reichen Belegen geleiteten Untersuchung Stef fen Patzolds keinen Platz mehr in der fraglichen Epoche; sie ist nicht mehr aufrechtzuhalten. Allenfalls seltene Einzelfälle könnten ihr entsprochen haben.
Stutz hatte seine These ohne einen systematischen Blick auf die damalige Gesellschaft, auf die Organisation und Ordnung von Priester- und Klerikerschaft, auf deren Bildung oder auf die Kirchenorganisation entworfen. Stattdessen verließ er sich auf anachronistische kategoriale Unterscheidungen und Dichotomien, die seine Überlegungen fehlleiteten, nämlich auf eine Gegenüberstellung von »germanischem« und »römischem« Recht, auf eine entscheidende Divergenz von »Staat« und »Kirche«, von »öffentlichem« und »privatem« Recht, auf einen Niedergang der »staatlichen« Zen tralgewalt nach Karl dem Großen und den Aufstieg regionaler Grundherren. Ganz außer Betracht blieben in dieser Argumentation die Priesterschaft und deren Bildung sowie die Gemeinden und ihre Bedeutung für die Kirchenordnung.
Wegweisend für weitere Forschungen ist der Hinweis auf die schon früher von Michael Borgolte und anderen herausgearbeiteten Stiftungsgewohnheiten der karolingischen Epoche, denen die Taufkirchen im Umfeld freier Gemeinden und der Grundherrschaften vielfach ihren Ursprung verdankten. Ihre Ausstattung und materielle Sicherung war damit von Rechts wegen nicht nur der Laiengewalt, sondern auch den kirchlichen Instanzen entzogen. Eindrucksvoll und für weitere Forschungen recht hilfreich ist die nicht zuletzt auf Archivstudien erwachsene Untersuchung der Bildungs- und Lebensverhältnisse der Priester, gerade auch jener abseits der Bischofskirchen und Klöster; im Anhang finden sich einige dieser Archivfunde ediert.
Die Priester gehörten in der Regel zu den Oberschichten ihrer Pfarrbezirke, waren weithin literat, besaßen oftmals mehrere Bü­cher mit theologischen Inhalten; viele reisten mit Erlaubnis ihres Bischofs hierhin und dorthin und nicht nur zu den Diözesansynoden. Die Annahme, dass die ländliche Priesterschaft immobil, im Wesentlichen unfreier Herkunft und in weitgehender Abhängigkeit von den Grundherren war, lässt sich nicht aufrechterhalten. Detaillierte Untersuchungen zur sozialen Stellung eben der Pries-ter der Taufkirchen verdeutlichen das Gegenteil: Für das gesamte Frankenreich ist durch diese Priesterschaft mit einer wesentlich ausgedehnteren Bildungssituation zu rechnen, als bislang unter der stutzschen Prämisse anzunehmen war.
Auch die Entwicklung des Kirchenrechts in dieser Zeit entspricht dem traditionellen Modell der »Eigenkirche« in keiner Weise. Die Kontrolle durch die verschiedenen Synoden und ihre Statuten belegen es bis in die Einzelheiten.
Mit der gleichen Gründlichkeit und dem nämlichen Ergebnis, welche die vorangehenden Ergebnisse zeitigten, werden die weiteren relevanten Untersuchungsbereiche durchgeprüft. Keiner lässt die »Eigenkirche« mit der Rechtsstellung ihres priesterlichen »Personals« oder der unterstellten Rechtslage erkennen. Die Rechtsgrundlagen der Kirchen seit Pippin, dem Vater Karls des Großen, bis hin zu Regino von Prüms Sendhandbuch bleiben, so viel diese Zeugnisse auch über Niederkirchen und Priesterschaft zu bieten haben, hinsichtlich der stutzschen These stumm. Ein besonderer Schwerpunkt der vorliegenden Analyse gilt dem Kirchenzehnt, da er mit seinem angeblichen Zufluss in die Kassen gerade des laikalen Eigenkirchenherrn und damit gemäß der Doktrin vom Eigenkirchenwesen geradezu ein Kennzeichen des ganzen Systems gewesen sein soll. Doch »lässt sich nicht zeigen, dass im 8. und 9. Jahrhundert Eigenkirchenherren flächendeckend in den Besitz von Zehnteinkünften gelangt wären« und zwar auf keine Weise, auch nicht durch widerrechtliche Gewalt (302).
So ergibt sich ein eindeutiges und zwingendes Ergebnis: Es hat ein für alle Mal mit dem Jahrhundertirrtum der »Eigenkirche«, gar der »germanischen Eigenkirche«, aufgeräumt, die tatsächlichen Sachverhalte geklärt und dem Frankenreich damit die soziale Grundlage seiner geistigen Größe gefestigt. Es überrascht die Dichte der sozialgeschichtlichen, rechtshistorischen und kirchenrechtlichen Belege, die unzweifelhaft die alte Doktrin zu Fall bringen und die bislang noch niemand in dieser Vollständigkeit gesammelt hat wie P. Hier wurde eine »uralte« Gewissheit definitiv begraben. Erst im 10. Jh. verschoben sich die Herrschaftsverhältnisse und lei teten etwa in Südaquitanien, soweit die Klosterreformen keinen Riegel vorschoben, eine Entwicklung ein, die sich auf das Modell, das Stutz entworfen hatte, zuzubewegen schien.
Nur eine zentrale Frage bleibt offen: Warum dauerte es so lange, bevor die Kritik der Dissertation von Ulrich Stutz, einem nachmals führenden Kirchenrechtler, und die Falsifikation seiner Positionen erfolgen konnten? Warum konnte sein Büchlein trotz der zahllosen Gegenbelege in der Überlieferung des karolingischen Zeitalters so lange überdauern? Wirkte auch hier, verleitet von einem hypostasierten »germanischen Recht«, die gefährliche Germanomanie der dreißiger und frühen vierziger Jahre nach, die bekanntlich bis in die 1950er und 1960er Jahre ausstrahlte und ganze Generationen von Mediävisten blendete und wissenschaftlich in die Irre führte?
Umso nachdrücklicher sei P.s Werk empfohlen, das in prägnanter Sprache und übersichtlich gegliedert aufzuklären vermag. Um seinen »Presbyter« kommt künftig kein Allgemeinhistoriker, kein Rechts- oder Kirchenhistoriker der Karolingerzeit mehr herum. Sein Buch verdient nicht nur Anerkennung, sondern vor allem auch Dank.