Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2021

Spalte:

8824–826

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mader, Heidrun E.

Titel/Untertitel:

Markus und Paulus. Die beiden ältesten erhaltenen literarischen Werke und theologischen Entwürfe des Urchristentums im Vergleich.

Verlag:

Paderborn: Brill | Ferdinand Schöningh 2020. XII, 354 S. m. 1 Abb u. 3 Tab. = Biblische Zeitschrift. Supplements, 1. Geb. EUR 120,00. ISBN 9783506704795.

Rezensent:

Udo Schnelle

Ein altes und fast vergessenes Thema hat wieder Konjunktur: das Verhältnis des Markusevangeliums zu Paulus. Nach der klassischen Studie von Martin Werner (1923), der jegliche Verbindungen verneinte, schien die Frage abgeschlossen zu sein. Nun ist sie wieder auf der Tagesordnung; zum einen durch einen 2014 erschienenen Aufsatzband (O. Wischmeyer u. a., Paul and Mark) und nun vor allem durch die Heidelberger Habilitationsschrift von Heidrun E. Mader. Sie fragt nach den Verbindungen zwischen der ersten (Paulusbriefe) und der zweiten Grundform (Evangelium) der neutestamentlichen Literatur, die sich beide an Formen der antiken Literatur anlehnen und die Evangeliumsbotschaft für pagane Menschen öffnen. Dabei handelt es sich nicht um gesonderte Überlieferungsstränge, sondern für Markus gilt: »Er könnte paulinische Topoi aufgenommen haben und mit ihnen seine Narratio theologisch ge­staltet haben« (4). Zumal das Markusevangelium wahrscheinlich in Rom entstand, wo der Römerbrief mit Sicherheit und der 1. Korintherbrief mit Wahrscheinlichkeit bekannt waren. Das Ziel der Arbeit besteht nun darin, dieses eher allgemeine Urteil methodologisch abzusichern. Bereits wahrscheinlichkeits-theoretische Überlegungen zeigen: »Bei allen theoretischen Möglichkeiten ist Pauluseinfluss auf Markus wahrscheinlicher als kein Einfluss« (14). Die Vfn. will induktiv durch Einzelanalysen das Verhältnis klären, wobei die Unterschiede der beiden Gattungen, Brief und Evangelium, eine besondere Rolle spielen. Hinzu kommen intertextuelle Fragestellungen, die Nähe und Distanz von Text und Prätext als potentielle Dialogizität zu beschreiben vermögen. Zunächst werden die Gattungen Brief und Evangelium miteinander verglichen. Die Paulusbriefe vereinen in sich Elemente des antiken Freundschaftsbriefes und des philosophischen Briefes. Dabei nimmt der Römerbrief eine Sonderstellung ein: »Paulus geht mit ihm über den Gelegenheitsbrief hinaus und stellt seine Theologie der ihm großenteils unbekannten Gemeinde vor« (24). Eine zentrale Stellung nimmt sowohl im Römerbrief als auch im Markusevangelium der Evangeliumsbegriff ein, der bei beiden Autoren trotz der unterschiedlichen Gattungen und der verschiedenen Kommunikationssituationen christologisch gefüllt und universal ausgerichtet ist. Über Paulus hinaus erweitert Markus den Evangeliumsbegriff durch die Autorität des predigenden und heilvoll wirkenden irdischen Jesus, was aus der Sicht der Vfn. für eine Weiterentwicklung des paulinischen Konzeptes spricht.
An diese grundsätzliche Weichenstellung schließt sich zu­nächst ein forschungsgeschichtlicher Überblick an, bevor drei Themenbereiche bearbeitet werden: 1) Paulus und Markus treffen sich in ihrem gemeindepraktischen Umgang mit den paganen Chris-tusgläubigen, denn in dem Schwerpunkt Mk 6–9 wird im Hinblick auf die Tischgemeinschaft und die Speisegebote ein vergleichbares Konzept vertreten. Die Gleichheit der paganen und jüdischen Menschen vor Gott erfährt im Römerbrief eine umfassende Begründung und bestimmt auch die markinische Argumentation, wie insbesondere Mk 7,24–30; 8,1–9, vor allem aber Röm 14,14.20 im Ver gleich mit Mk 7,1–23 zeigen. Hier ist es für die Vfn. am wahrscheinlichsten, dass Markus die Jesusüberlieferung aus Röm 14,14 aufgenommen und seiner Gemeindesituation entsprechend narrativ ausgestaltet hat. »Es lässt sich als Ergebnis festhalten, dass Markus im Unterschied zu den beiden anderen Synoptikern die Integration der paganen Bevölkerung in das Heil durch den irdischen Jesus wirken lässt. Der irdische Jesus vertritt dabei en détail ein theologisches Konzept, das im Vergleich zu den uns zur Verfügung stehenden frühchristlichen Konzepten zur Art der Integration der Völker der paulinischen Position am nächsten kommt« (176). 2) Die damit eng verbundene Gesetzesthematik bildet den zweiten Analyseschwerpunkt. Ausgehend von dem auffälligen Befund, dass Nomos im ältesten Evangelium nicht vorkommt, wohl aber die Sachthematik, werden nacheinander die rituelle Tora (z. B. Sabbatheilungen, rein – unrein) und die soziale Tora (z. B. Ehescheidung, Doppelgebot der Liebe) behandelt, wobei ein Schwerpunkt auf der Verbindung zwischen dem Nachfolgegebot und dem Doppelgebot der Liebe liegt. »Das Doppelgebot der Liebe ist in seiner umfassenden theologischen Aussage als ganze Lebenshaltung gedacht. Wie dieser umfassende Lebensmodus aussieht, zeigt die Nachfolge Jesu« (212). Das Gesetz hat bei Markus keine soteriologische und sozial ausgrenzende, sondern ausschließlich eine positiv ethische Funktion. Darin trifft sich der Evangelist wiederum mit Paulus, denn beide vertreten einen universalen Heilszugang ohne Tora-Auflagen, sehen den Sühnetod Jesu am Kreuz als Heilsgrund (Röm 3,21–26/Mk 10,45), verbinden Ethik und Kreuzestheologie und betonen die daraus folgende Christusmimesis (z. B. Phil 2,1–11/Mk 8,32 f.; 10,42–45). Zwar gibt es gattungsbedingte Unterschiede in der argumentativen (Paulus) und narrativen (Markus) Behandlung der Gesetzesthematik, aber dennoch »legt sich erneut ein paulinischer Einfluss auf Markus nah« (243). 3) Vergleichbare Anschauungen finden sich auch bei der Frage, wie der Mensch Zugang zum Heil findet (1Kor 1–3/Mk 4,1–20). Bei Paulus und Markus verbindet sich mit dem Wort vom Kreuz ein Wirklichkeitsverständnis, das herkömmliche Denkweisen übersteigt und Unverständnis bei den Menschen hervorruft, denn es ist nicht zu verstehen, dass ein Gekreuzigter der rettende Gottessohn ist (vgl. 1Kor 1,22 f./Mk 8,32). Für die Glaubenden erschließt sich dieses Mysterion (1Kor 1,18– 3,23/Mk 4,11 f.) als Kraft in der Schwachheit, die von Gott verliehen wird. Dem Unverständnismotiv kommt bei Paulus und Markus die Funktion zu, den Glaubenden zu zeigen, dass auch sie in ihrer Kreuzes-Nachfolge stets gefährdet und immer wieder auf das Wirken des Heiligen Geistes angewiesen sind. Trotz sehr unterschiedlicher Begrifflichkeiten und Textsorten ist auch bei diesem Thema für die Vfn. »paulinischer Einfluss auf Markus wahrscheinlich« (293). In einer Schlussbetrachtung werden die Ergebnisse zusammengefasst: Markus füllt als Erster den Evangeliumsbegriff narrativ aus und vertritt dabei wie Paulus eine konsequent universale Ausrichtung. Hierin unterscheidet sich der älteste Evangelist signifikant von Matthäus und Lukas. Paulus und Markus propagieren eine am Kreuz orientierte Christusmimesis und betonen den Glauben als Aneignungsform des Heils. Auch beim Verstehen und Nichtverstehen des Evangeliums verwenden beide ähnliche Begrifflichkeiten, Motive und Argumentationsmuster. Dabei ha­ben sie jeweils pagane und jüdische Menschen im Blick, ohne den Torainhalten eine soteriologische Funktion zuzubilligen. Sie be­gründen ihre ethischen Weisungen jeweils christologisch und stellen dabei die Kreuzesnachfolge in den Mittelpunkt. Als Fazit ergibt sich: »Die Untersuchungen zeigen, dass besonders die Theologie des Römerbriefes sowie die Kreuzestheologie des Korintherbriefes das Markusevangelium prägen. Aus diesen beiden Briefen ergeben sich quantitativ die meisten Parallelen, auch die meisten, die bis in gemeinsame Begrifflichkeiten hinein fassbar werden. Mit dem Thema der Speisegebote kommt zudem der antiochenische Zwischenfall im Galaterbrief in den Blick sowie Texte im Philipperbrief, die von dem Leben in Christus versus dem Leben nach dem Gesetz handeln« (301).
Die Vfn. überzeugt zunächst mit ihrem methodischen Vorgehen, denn sie postuliert keine literarischen Abhängigkeiten, sondern argumentiert mit dem eher offenen Modell des ›Einflusses‹ von Paulus auf Markus. Das ist auf der einen Seite unscharf, entspricht aber andererseits dem mehrschichtigen und keineswegs eindeutigen literarischen Befund. Inhaltlich kann sie vor allem darauf verweisen, dass speziell beim Evangeliumsbegriff, der Kreuzestheologie, der Ethik, der Glaubenshermeneutik und dem Um­gang mit der Tora frappierende Übereinstimmungen zwischen Paulus und Markus bestehen, vor allem auch im Vergleich mit anderen neutestamentlichen Schriften bzw. Schriftengruppen. Das häufig anzutreffende Modell, dies erkläre sich aus einem anonymen Pool frühchristlicher Überlieferungen und Konzepte, reicht nicht aus, um diesem Befund gerecht zu werden. Deshalb ist diese Studie als ein echter Forschungsfortschritt zu werten, der einen Einblick in frühchristliche Transformationsprozesse erlaubt und die neutestamentlichen Autoren nicht in ihrer Vereinzelung, sondern ihrer produktiven Kommunikation und Rezeption sieht.