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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

819–821

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kyrychenko, Alexander

Titel/Untertitel:

The Roman Army and the Expansion of the Gospel. The Role of the Centurion in Luke-Acts.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. X, 228 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 203. Geb. EUR 97,95. ISBN 9783110344028.

Rezensent:

Rainer Riesner

Es ist schon immer aufgefallen, welch positive Rolle römische Centurionen im lukanischen Doppelwerk spielen. In seiner Dissertation, die 2013 unter Betreuung von Carl R. Holladay an der Emory University (Atlanta, Georgia) angenommen wurde, will Alexander Kyrychenko einen weiterführenden Beitrag zu drei seines Erachtens vernachlässigten Forschungsfeldern leisten. Die Darstellung des römischen Heeres im Lukas-Evangelium und in der Apostelgeschichte sowie die literarische Funktion der Centurionen in beiden Werken sollen genauer als bisher in den Blick genommen werden. Dazu ist es schließlich notwendig, als Hintergrund die Bedeutung des Heeres im Imperium Romanum darzustellen, so wie sie sich aus neueren historischen Untersuchungen ergibt, die von der neutestamentlichen Exegese oft nicht genügend rezipiert werden. Die wichtigen Arbeiten von John Helgeland sind dabei allerdings nicht berücksichtigt (z. B. J. Helgeland/R. J. Daley/J. P. Burns, Christians and the Military: The Early Experience, Philadelphia 1985).
Ein erstes größeres Kapitel behandelt »Luke-Acts in the Roman Military Setting« (9–45). Darin ist der größte Teil seiner Darstellung der römischen Armee in ihrer Geschichte und Struktur von den Anfängen im 4. Jh. v. Chr. bis zum Ende des 1. Jh.s n. Chr. gewidmet (10–37). Wer sich kurz und zuverlässig über dieses Thema informieren will, dem ist mit diesem Abschnitt bestens gedient. Dabei wird von K. die tragende Rolle der Centurionen für die Disziplin und die Kampfkraft einer Legion besonders herausgearbeitet: The »centurions formed the backbone of the army’s military structure. They were by far the most represented commanding officers, normally had considerable military experience, possessed strong leadership qualities, and were responsible for the skill, morale, and effectiveness of the soldiers« (45). Die lukanische Beschreibung der römischen Truppen in Palästina wird als historisch zutreffend beurteilt (37–43). Wichtig für das Thema der Untersuchung ist die Feststellung, dass Lukas in Übereinstimmung mit der üblichen Terminologie ἑκατοντάρχης für den Centurio und χιλίαρχος für den tribunus militum gebraucht (39).
In einem weiteren Kapitel geht es um »The Image of the Roman Soldier in Greco-Roman Sources« (46–90). Sowohl bei Historikern (Polybios, Sallust, Livius, Tacitus, Appian) wie bei Biographen (Cornelius Nepos, Plutarch, Sueton) wird ein fast durchweg negatives Bild der römischen Soldaten gezeichnet. Dies war der Ausgangspunkt für die Dissertation von Laurie Brink (Unmet Expectations: The Literary Portrayal of Soldiers in Luke-Acts, PhD diss., University of Chicago, 2009), in der sie die These vertrat, Lukas habe bei seinen Lesern ein solch schlechtes Bild vorausgesetzt, um es dann zu durchbrechen (veröffentlicht als: Soldiers in Luke-Acts. Engaging, Contradicting, and Transcending Stereotypes [WUNT II/362], Tübingen 2014). Die Kritik, die K. an der Voraussetzung der Verfasserin übt, scheint berechtigt. Die negative Charakterisierung durch die genannten antiken Autoren stand im Dienst ihrer senatorisch-politischen Agenda: Gegenüber der idealisierten Republik wird die Zügellosigkeit der Armee für die Dekadenz Roms unter den Kaisern und besonders für den Ausbruch von Bürgerkriegen verantwortlich gemacht. Bei Caesar und Velleius Paterculus begegnet dem-gegenüber ein weitgehend positives Bild, das sich bei aller politisch-schriftstellerischen Absicht auf eigene intensive militärische Er­fahrungen stützen konnte. Eine wesentliche Differenzierung er­hält das Soldatenbild durch die nichtliterarischen Quellen: »The evidence shows the army facilitating the peaceful existence of the provincials, protecting their rights under the rule of law and maintaining their security. In particular, the sources reveal the centu-rion’s role in local provincial administration by providing immediately available and apparantly effective aid in resolving various legal issues for the civilian population of the provinces. In a sense, the centurions made the power of Rome directly accessible …« (90).
Das Kapitel »The Image of the Roman Soldier in Jewish Sources« führt zu einem sehr vielfältigen Befund (91–142). Während das Erste Makkabäer-Buch in Erwartung eines Bündnisses ein positives Bild geboten hat, so war dieses nach der Eroberung Jerusalems 63 v. Chr. durch Pompejus in prophetisch-apokalyptischen Schriften durchweg negativ: Das römische Heer ist zwar unbesiegbar und vollzieht Gottes Gericht an Israel, wird aber selbst wegen seiner Grausamkeit am Ende der Zeit zusammen mit dem Imperium vernichtet werden (Qumran-Schriften, Psalmen Salomos, Assumptio Mosis, Sibyllinen, 4Esra, 2Baruch, Abrahams-Apokalypse). Dagegen steht die weitgehend positive Wertung, nicht zuletzt auch der hervorragenden Tapferkeit von Centurionen, durch Josephus. Seine Darstellung ist na­türlich durch seine Abhängigkeit von der Gunst des flavischen Kaisertums beeinflusst, innerhalb dessen er seine Zukunft und auch die s eines Volkes sah. Weder polemisierende noch idealisierende Einblicke in die konkrete Erfahrungswelt bieten Schriften Philos (In Flaccum, Legatio ad Gaium), die talmudische Literatur und nichtliterarische Quellen. Sie zeigen, wie es neben gelegentlichen Übergriffen auch viele Aktivitäten der Armee gab, die dem Frieden, der Rechtssicherheit und einer effektiven Verwaltung dienten.
Das letzte Kapitel »The Roman Military in Luke-Acts« wendet die gewonnenen Einsichten auf das lukanische Doppelwerk an (143–184). So habe Lukas schon mit den (für K. römischen) Soldaten, die bußfertig zu Johannes dem Täufer kamen (Lk 3,14), die künftige Völkermission angedeutet. In den Prophetien über die Zerstörung Jerusalems werde, der Darstellung des Josephus vergleichbar, die unbesiegbare römische Armee als Werkzeug des Gerichtes Gottes herausgestellt (Lk 13; 19; 21; 23). In der Passionsgeschichte sieht K. das grausame Verhalten römischer Soldaten gegenüber dem von nichtrömischen Söldnern abgeschwächt (Lk 23) und als Höhepunkt betrachtet er die Erklärung der Unschuld Jesu durch einen Centurio unter dem Kreuz (Lk 23,47). Paulus wurde von römischen Soldaten vor jüdischer Lynchjustiz gerettet und dann von Offizieren vor Anschlägen bewahrt (Apg 21–23). Besonders auffällig ist die positive Rolle des Centurio Julius, der Paulus als Gefangenen nach Rom begleitet und nach dem Schiffbruch vor Malta dessen Ermordung verhindert (Apg 27): »The account shows God’s messenger and a Roman centurion in a symbiotic relationship that ensures every-one’s salvation and the fulfillment of the divine prophecy. Yet again we see the Roman military advancing God’s plan of bringing the gospel message to Rome.« (153)
Natürlich werden die Erzählungen über den Centurio Cornelius (Apg 10) und den »Hauptmann von Kapernaum« (Lk 7,1–10), in dem K. aufgrund literarischer Parallelen zur Cornelius-Episode ebenfalls einen römischen Centurio sieht, ausführlicher behandelt (153–184). Dazu formuliert K. als Fazit: »The discussion of Luke-Acts has demonstrated that Luke employs the Roman military, and especially centurions, as prototypical figures for the Gentile be-lievers in the Empire, who comprise the targeted audience of the Christian mission. In short, the Roman Empire in Luke’s narrative is a receptive mission field, and the Roman centurion, the principal representative of the Empire, exemplifies the desired response« (189). Dieser These wird man weitgehend zustimmen können und kann nur fragen, ob sie gelegentlich etwas überzogen wird. Wer etwa mit einer umfassenderen lukanischen Sonderüberlieferung rechnet, der wird im Evangelium weniger redaktionelle Kreativität annehmen. Auch ist es nicht so selbstverständlich, dass Lukas die schwer verständliche apokalyptische Sprache der Jerusalems-Weissagungen durch die Maßnahmen des römischen Heeres 70 n. Chr. und nicht durch Beschreibungen der Septuaginta von früheren Belagerungen der heiligen Stadt verdeutlicht hat (M. Wolter, Das Lukasevangelium [HNT 5], Tübingen 2008, 10).
Die vorliegende Untersuchung gehört zu den Arbeiten, die Lukas eine sehr positive Haltung gegenüber dem Römischen Reich zuschreiben. Sie dürften mehr Recht haben als jene Versuche, die im lukanischen Doppelwerk überall antiimperiale Subversion am Werk sehen. Aber auch Autoren, die eine solche Sicht vertreten, können sich auf manche Beobachtungen berufen. Die Haltung des Lukas ist vielschichtiger, als dass man sie auf ein bedingungsloses Ja oder Nein reduzieren könnte (S. Walton, The State They Were in: Luke’s View of the Roman Empire, in: P. Oakes [Hg.], Rome in the Bible and the Early Church, Carlisle/Grand Rapids 2002, 1–41). An einer Stelle deutet K. selbst ein mögliches Konfliktpotential an. In Caesarea Maritima, einem Zentrum des Kaiserkults, lässt Lukas den Petrus vor Cornelius sagen: »Gott hat Frieden ( εἰρήνη) als frohe Botschaft verkündigt durch Jesus Christus, er ist Herr über alle (πάντων κύριος)« (Apg 10,36). K. kommentiert das mit Recht so: »Through the centurion in Caesarea, Luke appropriates the principal assets of the emperor’s cult and uses them to assert the lordship of Christ.« (178) Das Imperium war nach Lukas Raum für das Wirken Gottes durch die christliche Mission, aber ebenso Raum für das Wirken Satans (Lk 4,5–6), das zur Verfolgung von Gläubigen »vor Königen und Statthaltern (ἐπὶ βασιλεῖς καὶ ἡγεμόνας)« führen kann (Lk 21,12).