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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

813–816

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Zehetgruber, Katrin

Titel/Untertitel:

Zuwendung und Abwendung. Studien zur Reziprozität des JHWH/Israel-Verhältnisses im Hoseabuch.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. XII, 451 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 159. Geb. EUR 75,00. ISBN 9783788734121.

Rezensent:

Roman Vielhauer

Bei dem anzuzeigenden Buch von Katrin Zehetgruber handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung ihrer Dissertation, die von Bernd Janowski und Judith Gärtner betreut und im Winterse-mester 2017/18 von der Theologischen Fakultät der Universität Rostock angenommen wurde. Ausgangspunkt der Untersuchung ist das Unbehagen der Autorin, das Hoseabuch unter dem Oberbegriff der »unbedingten Gerichtsprophetie« zu subsumieren. Stattdessen plädiert sie für die Bezeichnung »unabwendbare Reziprozität«. Denn der Begriff »Gericht« bezeichne »nur eine Seite – die negative – einer im Hoseabuch reziprok gedachten Beziehung zwischen Israel und JHWH, die im Guten wie im Schlechten das Verhältnis beider Größen zueinander bestimmt«. Zudem suggeriere er ein »ju­ristisch-juridisch gefasstes Verhältnis zwischen JHWH und Israel«, das im Hoseabuch jedoch »kaum« nachweisbar sei (2). Im Hintergrund von Z.s Überlegungen steht das Konzept einer »konnektiven Gerechtigkeit«, wie es von Jan Assmann anhand des ägyptischen Ma’at-Begriffs entwickelt und von Bernd Janowski auf das Alte Testament übertragen wurde. Konstitutiv für diese Konzeption sei das Prinzip der Gegenseitigkeit, Reziprozität, Vergeltung (im Sinne aktiver gesellschaftlicher Solidarität) jedweder sozialer Interaktion. Und so schickt sich Z. an, dieses »aktiv-solidarische Element der Interaktionen JHWHs mit Israel« (15) als Grundüberzeugung im Hoseabuch aufzuzeigen.
Der Analyseteil der Arbeit behandelt – in der Reihenfolge ihrer mutmaßlichen Entstehung – die Textabschnitte Hos 5–7; Hos 8; Hos 4; Hos 9,1–9; Hos 2,4–15 und Hos 14,2–10. Nach Übersetzung und Textkritik sowie einem kurzen Überblick über Kompositionsstruktur und literarischer Genese der jeweiligen Texte untersucht Z. zentrale Leitworte (»erkennen«, »Unzucht treiben«, »gehen«, »sich wenden, umkehren«, »heilen«, »verzehren«, »gedenken«, »überprüfen«, »Streit«, »Tau«), die die aktiv-solidarische Prägung respektive Reziprozität der Interaktion JHWHs mit Israel zum Ausdruck brächten, und verfolgt deren aktualisierende Rezeption im werdenden Hoseabuch.
Bereits im mutmaßlich ältesten Kern des Hoseabuches in Hos 5–7 werde die »Reziprozität in den […] Interaktionen […] als das konstitutive Merkmal der Beziehung zwischen Israel und […] JHWH präsentiert« (380). Das geschichtliche Ergehen Israels sei demnach nicht Folge »der zunehmenden Bedrohung durch die fremde Großmacht Assyrien« (386), auch nicht Folge »eine[r] strafende[n] Intervention JHWHs« (58), sondern Folge der »Abwendung vom eigenen Landes- und Staatsgott in der Politik […] sowie im Landeskult« (386), mithin der Untreue Israels. JHWH seinerseits lasse »auch dann das Band der Solidarität zu seinem Volk nicht abreißen […], wenn dies bedeutet, gegen sein eigenes Volk vorgehen zu müssen« (386), vielmehr handele es sich hierbei um einen Akt der »pädagogischen Zuwendung« mit dem Ziel einer »Verhaltensänderung durch Erkenntnis/Einsicht« (35), wie aus der Einleitung Hos 5,1–2 (»züchtigen«, vgl. 7,12) geschlossen wird.
Der neue Abschluss der wachsenden Komposition in Hos 8 (ohne V. 1b.[6a?]14) zeichne sich durch Aufnahme und Aktualisierung zentraler Reziprozitätsvorstellungen aus dem Buchkern aus. Aus dem Verzehren der Ressourcen des Landes durch Fremdmächte (7,9) werde ein vollständiges Verschlungensein Israels (8,8), die gehend vollzogenen Bündnisbemühungen um die Großmächte (5,11.13; 7,11) zu einem »negativen Exodus« nach Assur (8,9 הלע) gesteigert. Das neue Schlusswort der Komposition in Hos 8,13 mache unter Aufnahme von Hos 7,1–3 »die gedenkende und überprüfende Auseinandersetzung der Schuld und Sünden Israels durch JHWH zur zentralen geschichtshermeneutischen Kategorie der Erklärung des Untergangs des Nordreichs« (162), als deren Folge »die Revozierung der Landesgabe und des Exodus als der zentralen, identitätsstiftenden Ereignisse der Geschichte Israels« (163) stünden.
Mit Hos 4 erhalte die Komposition eine neue Einleitung, die »die unterschiedlichen Auseinandersetzungen JHWHs mit den Vergehen Israels als Bestandteil eines Gerichtsprozesses« (182) darstelle (!). Dadurch halte auch ein »neues Gottesbild« Einzug: »JHWH erscheint nun als anklagender und richtender Landes- und Staatsgott Israels« (225). Die Verantwortung für den Untergang des Nordreiches werde zusehends im Kult verortet und in der Hauptsache der Priesterschaft zugeschrieben.
Hos 9,1–9 bilde den neuen »Abschluss des Streits JHWHs […] mit den Landesbewohnern, der in Hos 4,1 eröffnet wird und in Hos 9,3 seine Entsprechung im Entzug des Landes und Israels Rückkehr nach Ägypten/Assyrien findet« (266). Als zentrales Abwendungsgeschehen Israels von JHWH gelte nun das kultisch vollzogene Unzuchtstreiben im Land, das in Kombination mit dem angedrohten Landverlust den Grundstein für das spätere Ehedrama in Hos 2,4–15 lege.
Dessen Vorschaltung präsentiere »die in Hos 4–9 als Abwendung vom eigenen Staats- und Landesgott JHWH dargestellte Hinwendung des Staates Israel zu dritten Größen in Politik und Kult als Unzucht einer Ehefrau« (321). Aus Hos 4,1 (und 5,1) werde das Streitsetting übernommen, jedoch im privaten Rahmen verortet. Insgesamt gehe es den Tradenten weniger um »aktualisierende Neuinterpretation« als vielmehr um ein »Vertrautmachen der Lesenden« (323) »mit den relevanten Reziprozitätsvorgängen der nachfolgenden Komposition« (400). Von daher könne man Hos 2,4–15 als »narrative Miniatur« von Hos 4–9 bezeichnen.
Hos 14,2–10 schließlich bilde zusammen mit Hos 2 einen heilvollen Rahmen um das Hoseabuch. Dabei lasse sich über die Kompositionslinie Hos 2,16–25; 11,9 ff.; 14,5 ff. ein »Wandel im Verständnis der reziproken Beziehung zwischen Israel und JHWH« beobachten: »Die von Israel als Eigenleistung erwartete Reziprozität auf das Handeln JHWHs […] wird durch eine für Israel von JHWH ermöglichte Reziprozität auf sein Gnadenhandeln abgelöst« (376). Auch wenn der Schlusssatz Hos 14,10b »die umfassende Heilsbotschaft eines geheilten Israel« in gewisser Weise relativiere, erweise sich »eine Existenz in gegenseitiger Liebe […] am Ende der Genese des Hoseabuches als die buchumfassende und letzte Form der hoseanischen Theologie der Treue« (403).
Die Bedeutung der Arbeit liegt aus Sicht des Rezensenten in dem Versuch, das Konzept der konnektiven Gerechtigkeit auf die Prophetenexegese zu übertragen. Insbesondere für das Hoseabuch stellt dieses Unterfangen ein Novum dar. Auch die konkrete Analyse zentraler Begriffe des Hoseabuches und deren Nachverfolgung in der Rezeption des werdenden Buches wird man mit Gewinn lesen. Hier tut sich mancher Bezug auf, der bisher unerkannt blieb. Schließlich erhärtet sich in den Begriffsanalysen ein Ergebnis der neueren Hosea-Forschung, die mit einem literarischen Wachstum des Buches von innen nach außen rechnet, also mit einem Kern in Hos 5–7 bzw. 4–9 und später zugefügten Rahmenkapiteln.
Wenn der Rezensent das Buch dennoch mit einer gewissen Skepsis aus der Hand legt, so hat dies drei Gründe:
1) Angesichts der Tatsache, dass alle drei Redeabschnitte des Hoseabuches unter dem Oberbegriff ביר »Rechtsstreit« subsumiert sind (2,4; 4,1; 12,3; vgl. zudem 5,1 »Urteil«), mutet es im Mindesten überraschend an, wenn Z. dem Verhältnis zwischen JHWH und Israel »kaum« »juridisch-juristische« Konnotationen zugestehen möchte. Auch dem Bild der Ehe in Hos 2 wird man kaum gerecht, wenn man sie als reine Privatsache ohne rechtliche Konsequenzen betrachtet.
2) Als Grundkonstante des werdenden Hoseabuches identifiziert Z. eine »Theologie der Treue« JHWHs zu Israel. Doch lässt sich fragen, ob dieses »Band der Solidarität« die Hosea-Überlieferung schon von ihren Anfängen her prägte. Wenigstens was die mutmaßlich älteste Komposition Hos 5–7 anbelangt, ist Vorsicht geboten. Denn das darin angekündigte Vorgehen JHWHs gegen Israel kann nur als Akt der »pädagogischen Zuwendung« interpretieren, wer in Hos 5,2; 7,12 – entgegen dem Bildgehalt im Kontext (Vogelsteller) und der bisherigen exegetischen Tradition – der (sekundären) masoretischen Punktation folgt und »züchtigen« statt »fesseln« liest. Und wenn Z. etwa Hos 5,3–4 zum Erweis einer positiven Reziprozität von Seiten JHWHs schon für die älteste Komposition heranzieht, so sei zumindest darauf hingewiesen, dass die genannten Verse in der redaktionsgeschichtlich orientierten Forschung, der Z. ausdrücklich folgt (14), durchaus als spätere Zutat angesehen werden, wie Z. selbst mal zugesteht (53.92), mal bestreitet (51).
3) Das führt auf ein grundsätzliches Problem der Arbeit: den Verzicht auf eine eigene literarkritische Analyse. Trotz des anfänglichen methodischen Bekenntnisses zu O. H. Steck rechnet Z. in der Hauptsache mit einem (kapitelweisen) Textwachstum in großen Blöcken; Vernetzungen der (jüngeren) Rahmenpartien mit dem (älteren) Mittelteil werden nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, spätere Vorstellungen dadurch in diesen eingetragen.
So kann man sich schlussendlich des Eindrucks nicht erwehren, dass die traditionelle Exegese vielleicht doch das Richtige trifft, wenn sie das Hoseabuch, jedenfalls die Anfänge der Überlieferung, unter dem Oberbegriff »unbedingte Gerichtsprophetie« subsumiert. Die darin zum Ausdruck kommende Aufkündigung des Gottesverhältnisses war womöglich doch einschneidender als von Z. vermutet.