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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

800–803

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Carr, David M.

Titel/Untertitel:

The Formation of Genesis 1–11. Biblical and Other Precursors.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2020. 312 S. Geb. US$ 99,00. ISBN 9780190062545.

Rezensent:

Michaela Bauks

Die parallel zu einer Kommentierung von Gen 1–11 für den International Exegetical Commentary (Kohlhammer Verlag) entstandene Studie legt eine Rekonstruktion der literarischen Vorstufen der urgeschichtlichen Texte vor. David M. Carr setzt ein nicht-priesterliches und ein priesterliches Werk voraus, wobei das erste – wie folgt: Nicht-P – wegen zahlreicher kompositionsbedingter Umstellungen und Ergänzungen von einer »jahwistischen Quellenschrift« zu un­terscheiden ist. Während er daran festhält, dass die Priesterschrift die Zusammenschau von Urgeschichte, Erzeltern und Exodus verantwortet, hält er – im Blick auf eine Proto-Genesis – den Zusammenhang von Ur- und Erzelterngeschichte im nicht-priesterlichen Werk für eine sekundäre Komposition, die einen längeren Wachstumsprozess erfuhr. Zwar ist s. E. auch Gen 1 als priesterschriftlicher Text literarisch nicht einheitlich, sondern könnte auf eine an der kultisch ausgerichteten Sabbatthematik orientierte priesterlich-redaktio-nelle Überarbeitung verweisen, die der Heiligkeitsschicht (H) des Pentateuch verwandt ist (Einleitung, 2), doch ist das P-Werk im Duktus einer »expanded genealogy« mit deutlichem Israelbezug als literarische Einheit gut rekonstruierbar. Es hat im Prozess der Zusammenführung mit Nicht-P eine priesterlich-redaktionelle Überarbeitung erfahren (260 f.; vgl. bereits Ders., Reading the Fractures of Genesis, 1996, 120–124). Die Nicht-P-Komposition lässt in der Urgeschichte hingegen eine weitaus komplexere Genese erkennen, die ich im Folgenden kurz skizziere.
Die ersten Kapitel widmet C. den traditionsgeschichtlichen Vorläufern von Gen 1 und Gen 2–3 bzw. 4. Maßgeblich ist für die Re­konstruktion des ersten Nicht-P-Stratums die genealogisch-tribal geprägte, vermutlich mündlich überlieferte Kenitenliste (4,17–24), die im Zuge der ersten Verschriftlichung um die Sethlinie (V. 25 f.) und die Erzählung (4,1–16) ergänzt wurde (76 ff.). Gen 2–4 (+ 5,29; 6,1–4; 9,18–27*;10,15.21) bilden erstens die Grundlage der Nicht-P-Urgeschichte. Das Listenmaterial diente zweitens dem ebenfalls vor-priesterlich entstandenen Toledotbuch (Gen 5*; 6,9*–10; 7,6; 9,28 f.; 11,10–26) als Textbasis (112). Dieses »Buch« erfuhr – zudem an jüngeren Versionen der sumerischen Königsliste orientiert (104–107) – im Duktus der vor- und nachflutlichen Anlage eine Neuordnung, die P mit einigen Erweiterungen in Ausrichtung auf die Abrahamthematik für sein Werk übernahm. Bezüglich der Datierung führt die Nicht-P-Erzählung, wie auch das klassische Hebräisch in Gen 2–4 bestätigt, in die mittlere Königszeit Judas (231 f.), während P als ein nachfolgendes, sich darauf rückbeziehendes Werk verortet wird.
Nun setzt C. keine literarisch durchgängige Abfolge von Nicht-P-Texten voraus, sondern sieht in Gen 6,1–4 einen deutlichen Einschnitt. Deshalb analysiert er die allmählich anwachsende Komposition ausgehend von der Noah-Figur, die er als eine sehr frühe Ergänzung zu dem Listenbestand ansieht und die das Thema der Verfremdung von Gott – Mensch, Mann – Frau, zwischen Brüdern (Gen 2–4) in 9,20–27 auf die von Vater – Söhne ausdehnt (124). Die Noah-Figur berührt zwei Themenbereiche: Ursprünglich geht es in der Nicht-P-Urgeschichte um den Ackermann in einer genealogischen Abfolge von (Ur-)Menschen mit urgeschichtlich sprechenden Namen wie Adam, Ḥavva, Qajin, Häbel, Enosch, Šem, Kanaan oder Japhet (vgl. Gen 5,29; 9,18.20–27). Erst in einer zweiten Phase wird er zum Fluthelden (115 ff.). Beide Aspekte wurden sukzessiv, aber zeitlich dem priesterlichen Text vorausgehend, mit Gen 2–4 zusammengeführt. Insbesondere Gen 9,20–27 zeigt s. E. enge Korrespondenzen mit Gen 2–4: die zerrüttete Beziehung zwischen einem Vater und seinen Söhnen, Erdboden, Fluch und Namensätiologie sind übereinstimmende Themen bzw. Elemente, weshalb C. sich gegen einen redaktionellen Nachtrag in Gen 9,(18–19)20–27 ausspricht. Ebenfalls zum ursprünglichen Nicht-P-Bestand gehören Einzelnotizen wie Gen 10,15 (Sidon und Het) oder 10,21 (Eber und seine Söhne). Sie erweitern das urgeschichtlich-genealogische Schema in kollektiver Perspektive (Gen 10,1–11,9*) und bereiten die – wenn auch sekundäre – in der Erzelternerzählung gegebene Fo­kussierung auf Israel vor (219.227.237 f.). Erweiternde mesopotamische Anleihen (»Babel« in Gen 11,1–9; »Nimrod« in 10,8b–12) geben Anlass dazu, diese mythisch orientierte Urgeschichte angesichts der fehlenden Babylonpolemik in die Mitte des 7. Jh.s v. Chr. zu datieren (s. Asarhaddons Restaurierung von Babylon; 239 f.245). Die Position am Ende der Nicht-P-Urgeschichte lässt vermuten, dass so der Übergang zur Erzelterngeschichte vorbereitet wird (233 f.). Auch Prolepsen zur Abrahamfigur (9,19; 11,28 f.; vgl. 12,2–3) bereiten diesen Übergang vor. Die Komposition der nicht-priesterlichen Fluterzählung basiert auf der ursprünglichen Textbasis von Gen 2–4; 6,1–4; 9,18–27 (142 ff.173 »scribal coordination«), indem sie einerseits das Paradigma »Unsterblichkeit und menschliche Grenzen« aufnimmt, andererseits zum Thema »Strafgericht« überleitet (223–226. 235). Strukturparallelen zwischen Sodomgeschichte (Gen 18,20 f.; 19,1–28) und Fluterzählung unterstreichen weiterhin das Bemühen um Kohäsion (Gen 9,18 f./19,31; 9,21 f./19,33–36; 9,25/19,37 f.; s. 234 f.) auf dem Weg zur Proto-Genesis. Dass beide Flutberichte auf mesopotamische Vorläufer zurückgreifen, ist ein Konsens der Forschung. Allerdings setzt C. die Ergänzung der Nicht-P-Fluterzählung erst für die späte neuassyrische Zeit voraus und spricht somit dem Schöpfung-Flut-Pattern die strukturbildende Funktion für die ursprünglich stark ätiologisch ausgelegte Nicht-P-Komposition ab (im Rückgriff auf Wellhausen u. a.; 159–167.232).
C. charakterisiert die Rekonstruktion literarischer Vorstufen als »a fraught and often approximate enterprise« (223), bei dem es darum geht, die Inhalte der ältesten greifbaren Nicht-P-Urgeschichte zu erfassen, gibt aber gleichzeitig zu bedenken: »we cannot precisely reconstruct the contours of such a (relatively) early prestage to the Genesis primeval history with perfect confidence« (224). Den Ausgangspunkt bilden s. E. drei Beziehungsformen (Paar; Geschwister; Vater – Sohn), die an familiären Personenkonstellationen in ätiologischer Intention entwickelt und weisheitlich (»filial obligation«) ausgebaut sind (230). Der kosmogonisch-mythische Anteil des Erzählbestands in Gen 2–4 bleibt dabei eher im Hintergrund. Stattdessen ist die Perspektivierung auf Kollektivität unterstrichen (10,21 Eber; 11,28–30 [sek.]). Die Fluterweiterung bildet ein zweites kompositionelles Stadium. Insgesamt ist von dem »mixed model« auszugehen, das in dem Bearbeiter der Flutanteile sowie der Ü berarbeitung der ursprünglichen Nicht-P-Einheit zugleich den Verantwortlichen einer ersten Fassung der Nicht-P-Abrahamgeschichte sieht, die später noch durch existierende Jakob- und Joseph-Traditionen sowie die Verheißungsthematik ergänzt wurde. So ließen sich z. B. das Fehlen des expliziten Beginns der Abrahamgeschichte wie auch gewisse Querverweise erklären (»der Garten JHWHs« in Gen 13,10 im Rekurs auf Gen 2–3). Der Anteil der Priesterschrift für die Entstehung der Genesis enthält nach C. große Lücken (vgl. die lückenhafte Darstellung der P-Erzelternerzählung), was aber den Werkchrakter nicht schmälert. Er rechnet zudem mit einem stark priesterlich geprägten »author-redactor« (147) oder »P-like conflator« (262), der die beiden Werke durch knappe Übergangsverse verbindet (so z. B. 2,4a; 2,19b*; 20a; 6,7*; 7,7a*.8 f.11.23*; 8,4a5b*.14; 10,1b.8a).
Einzelne Punkte bezüglich der rekonstruierten nicht-P Komposition möchte ich kritisch hinterfragen:
Die Basis bzw. drei Säulen (»pillars«) der Nicht-P-Urgeschichte finden sich nach C. in Gen 2–3; 4,1–16 und 9,18–27, die in einem fortschreitenden Kompositionsprozess sekundär erst um die Erzeltern-, dann um die Flutthematik erweitert wurden (224 ff.). Die Frage nach dem Ende der nicht-priesterlichen Urgeschichte begleitet die Forschung schon lange. Für einen so stark reduzierten Textbestand die Bezeichnung einer »Nicht-P-Urgeschichte« beizubehalten, ist insofern irreführend, als das Konzept „Urgeschichte“ einen höheren Grad an inhaltlicher Komplexität (Schöpfung – Flut – Neuschöpfung) und literarischer Eigenständigkeit voraussetzt, die in diesem Modell inhaltlich stark verkürzt (d. h. ohne Flut) begegnet. Auch treten in C.s Darstellung die urzeitmäßigen Züge gegenüber der tribal-genealogisch argumentierenden Grundintention (»relations within a primary [nuclear] family«; 224) stark zurück.
Hier schließt sich meine zweite Nachfrage an. Die Sonderstellung der nicht-priesterlichen Fluterzählung ist überzeugend herausgearbeitet und die strukturelle Parallelisierung der ersten Nicht-P-Fassung mit P unter Hinweis auf die mesopotamischen Traditionen von Schöpfung zurecht kritisiert in der An­nahme, dass der Grunderzählung die Flutthematik erst sekundär zugewachsen ist. Auch ist das Gewicht der »P-like« Endredaktion, die die P- und Nicht-P-Traditionen ineinander arbeitet, deutlich herausgestellt. Daraus resultiert meinerseits jedoch die Frage, ob und warum nicht erst diese Endredaktion die verschiedenen Nicht-P-Traditionen blockweise im Zuge der Vereinigung mit der P-Fassung miteinander verknüpft haben könnte?
Weiterhin ist die Entstehung des Toledotbuchs auf der Basis der Liste von Gen 4,16–26 (Adams drei Söhne bis Enosch [+ Noah]) postuliert, zumal ein allzu enger Bezug von Gen 5 mit mesopotamischen Königslisten eher die Abfolge von Dynastien und deren Herrschaftsgebieten erwarten ließe als eine Reihe von Urahnen (251 f.). Eine exilische Datierung voraussetzend, übersieht die Argumentation, dass das »nomadische« Konzept gerade im Lichte der Exilserfahrungen eine theologische Aufwertung erfährt, die mit der Substitution des (verlorenen) Königtums durch eine demokratisierte Form von Verantwortung ( imago Dei) und kosmischer Tempelsymbolik einhergeht (258 f.). Dies voraussetzend könnte P eine ältere tribale Toledot-Überlieferung sehr bewusst verwendet haben (für C.: Adam bis Abraham; 87.112), die in Gen 4,16 ff. nicht etwa einen Vorläufer, sondern eine Dublette hätte. Auch die These der ursprünglichen Zugehörigkeit von Gen 4,25 f. zur Nicht-P- Kenitenliste (die dritte Seth-Linie führt von Adam »Mensch« zum neuen Menschen »Enosch«) ist zirkulär. Wenn Gen 4, so C., ursprünglich nicht mit Lamech und seinen Söhnen endete, wie meist vorausgesetzt wird, sondern den Eintrag des dritten Sohnes Seth mit Henoch (als Ersatz für Abel) bereits ursprünglich enthielt (81 f.), entsteht zwar ähnlich wie in Gen 5 eine 10er-Struktur, die – sieht man 5,29 wie C. als vorpriester-lichen Text an – auf Noah und die genealogischen Informationen in 9,18–27 zielt. Einzuwenden ist Folgendes: Wäre Gen 5,29 der ur­sprüngliche An­schluss an 4,26, fehlte formal ausgerechnet die Nicht-P-Geburtsnotiz Noahs als Sohn Enoschs wie auch die Zeugungsnotiz seiner Söhne.
C. denkt, dass sie im Zuge der Redaktion mit der P-Version ausgelassen bzw. in 6,1 durch die allgemeinere Fortpflanzungsnotiz der Menschheit ersetzt worden sei. Doch wie erklärt sich der Befund, dass in Gen 11,26 und 27 die Zeugungsnotiz Abrahams zweifach stehenblieb? Wenn Streichung und Textausfall als tragendes Argument für diese sehr prominente Figur angeführt sind, wird die Rekonstruk-tion sehr hypothetisch. Auch der Charakter der »Nahtstelle« zwischen Gen 4,1–24 und 5,1 ff. sowie die Mischung sprachlicher und konzeptioneller Anleihen aus P und Nicht-P lassen nach wie vor besser an einen redaktionellen Zusatz in harmonisierender Absicht denken (s. ausführlich M. Witte, Die biblische Urgeschichte, Berlin 1998, 61 ff.). Zudem handelt es sich um eine, die Verbindung von Genesis und Exodus voraussetzende theologische Korrektur, wenn nicht – wie in Ex 6,2 (P) – erst Israel den Gottesnamen JHWH erkennt, sondern die Verehrung bereits in die Anfänge der Menschheit eingeschrieben wird. Die Notiz ist zudem ein sehr umsichtiger Verweis, der gleich zu Beginn der hebräischen Bibel das Wechselspiel der Gottesnamen in den einzelnen Texten theologisch bewertet und die verschiedenen Gottesbezeichnungen mit dem JHWH-Kult identifiziert. Für die Annahme einer korrigierenden redaktionellen Überbrückung spricht außerdem, dass andernorts die Keniter explizit als JHWH-Verehrer genannt sind (Num 10,29 mit Ri 4,11.17; 5,24). Dieser Zug wird ihnen in V. 26 implizit abgesprochen, da hier der Beginn der Verehrung auf den Seth-Spross Enosch transferiert ist.
C. begegnet in dieser sehr detailreichen, aber zugleich gut nachvollziehbar verfassten Monographie den Unsicherheiten literarkritischer Rekonstruktionen und der anhängigen Datierungen in sehr umsichtiger und methodisch äußerst reflektierter Weise. Dabei verzichtet er nicht darauf, die Genese der nicht-priesterlich-priester-lichen Doppelüberlieferung der urgeschichtlichen Texte zu rekonstruieren und ihren Bezug zu der sich unmittelbar anschließenden Erzelterntradition zu berücksichtigen, d. h. das Buch Genesis an sich in den Blick zu nehmen.