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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

518–520

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pöttner, Martin

Titel/Untertitel:

Realität als Kommunikation. Ansätze zur Beschreibung der Grammatik des paulinischen Sprechens in 1Kor 1,4-4,21 im Blick auf literarische Problematik und Situationsbezug des 1. Korintherbriefes.

Verlag:

Münster: LIT 1995. IV, 370 S., XXI S. 8 = Theologie, 2. ISBN 3-8258-2687-2.

Rezensent:

Wolfgang Schenk

Ausgangspunkt dieser Marburger Dissertation (bei W. Harnisch) ist die methodische Einsicht, dass weder die literarische Einheitlichkeit (Kohärenz) noch die Uneinheitlichkeit des 1Kor undiskutiert vorausgesetzt werden kann (6.12). Ob in 1Kor 1-4 ein selbständiges Schreiben des Paulus vorliegt, wird an drei Beispielen exemplarisch getestet (14-46): (a) 11,18 meint andere Spaltungen als 1,10 ff., wo es um explizit verbale Streitereien geht. (b) In dem Briefschluss 16,12 geht es um frühere Urteile über Apollos als in 3,5 ff. (c) 4,17-21 setzt eine erkennbar andere briefliche Kommunikationssituation voraus als 16,5-11. Komplementär dazu wird in fünf Schritten nach der Kohärenz von 1Kor 5 ff. (exemplifiziert vor allem an 8,1-11,1) gefragt (47-107). Als Ergebnis (108-21) ergibt sich überzeugend:

(a) Dem ,Vorbrief’ können 11,2-34; 5,1-8; 6,1-11.12-20; 9,24-10,22 zugeordnet werden. Seine Argumentationsstrukturen sind dadurch gekennzeichnet, dass das Modell der passiven Konstitution des ,Leibes Christi’ gleichartig auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen wird, so dass Dämonen und Prostituierte dualistisch auf der gleichen Ebene zu stehen kommen wie die durch das Evangelium neu konstituierte Gottesgemeinde.

(b) Ein korinthischer Einspruch gegen diese Schwachstellen jener paulinischen Argumentationsstruktur lässt Paulus mit einem ,Antwortbrief’ modifizierend reagieren (5,9-13; 7,1-16. 25-40; 8,1-9,23; 10,23-30; 12-16 [ohne 14,33b-36, während die Zuordnung von 7,17-24 offen gelassen wird]).

(c) 10,31-11,1 erweist sich (ebenso wie 14,33b-36) als Produkt der deuteropaulinischen Briefredaktion (98-107), die die ganze Briefkomposition unter das Modell eines Vorbildes des Paulus stellt.

(d) In 1Kor 1-4 liegt ein selbständiges späteres Schreiben des Paulus vor. Damit wird die weitgehend herrschende Meinung erschüttert, dass M. Mitchell (HUTh 28, 1991) die Integrität des 1Kor definitiv begründet habe. Die von mir 1969 gemachte Entdeckung zu 1Kor 1-4 wird damit über die weiterführenden Begründungen von G. Sellin hinaus weiter gefestigt. Der Hauptteil der Untersuchung (122-370) widmet sich nach einer Skizze der Komposition von 1,4-4,21 (122-128), zunächst des Rahmens 1,4-9; 4,14-21 (129-146) und der Gliederung des Korpus (147-166), dann einer Analyse der einzelnen Segmente, wobei der Schwerpunkt deutlich auf 1,18-3,4 liegt (172-283). Als Schlüssel fungiert die These, dass die ,proposition’ in den drei rhetorischen Fragen von 1,13 vorliegt (19 f.151-156), die zugleich eine ,partitio’ der 1,14 einsetzenden argumentativen ,probatio’ darstellt, die dann auf diese drei Fragen in chiastischer Folge eingeht: (c’) 1,14-17 Seid ihr etwa auf den Namen des Paulus getauft? (156-171); (b’) 1,18-3,4 Ist etwa Paulus zu Eurer Konstitution gekreuzigt? (172-283); (a’) 3,5-17 Ist Christus zerrissen? (284-306). Dabei ist bei der ,partitio’ 1,13 noch stärker zu veranschlagen, dass die Negation in der zweiten rhetorischen Frage eine selbstverständlich zustimmende Antwort erwartet und dies ebenso für die koordinierte dritte Frage als Leerstelle gilt, die Tauffrage also gleicherweise behandelt wird (entgegen der kommunikationsfremden, bloß morphologischen Differenzierung in den Überschriften 167.172), was aus der Antwort 1,14-17 zweifelsfrei hervorgeht, und so die Kreuzigungsfrage gleicherweise von vornherein positiv zustimmend beantwortend aufgreift. Das spricht noch stärker dafür, das Missverständnis auszuschließen, den Text als Paulus-Apologie aufzufassen. Ein weiteres Problem scheint mir darin zu liegen, den dritten Teil als 3,5-17 abzugrenzen, danach 3,18-23 als ,Epilog’ des Ganzen (15-164.307 f.) zu bestimmen (was als solcher in Rivalität zu 4,17-21 gerät), weiter 4,1-5 als eine ,translatio’ (an das allein zuständige Forum; 309-317) und schließlich 4,6-13 als ,Darstellung’ der apostolischen Existenz und der der Gemeinde (318-351).

Das Problem entsteht einmal dadurch, dass das metakommunikative Verb von 4,6, das deutlich einen rückblickenden Epilog einleitet, zu formal mit dem Gehalt "transformieren" belegt wurde (324 f.), dass es auf das folgende Textsegment (statt mit dem eindeutigen Aorist auf das voranstehende) ausgedehnt wurde (337 f.), um es schließlich als "metaschematisierende Rede" zu einer Fundamentalkategorie für alle paulinischen Texte zu machen (344-351.365.369), woraus eine offensichtlich schon vorgefasste Absicht deutlich wird. Das Verb benennt aber präziser eine Maskierung und Verkleidung (D. R. Hall, A Disguise for the Wise, NTS 40, 1994, 143-149) auf "uns" (Apollos und Paulus: 3,9; 4,1.6.8c-13a.); es kennzeichnet so den ganzen Abschnitt von 3,5 bis 4,5 und bezeichnet somit diese beiden ,spaßeshalber’ verwendeten Personen als Indikatoren des Unsinns, sich aufzublasen.

Die beiden auf sie bezogenen Parolen waren schon 3,4 als eindeutig irreale Fälle eingeführt, so dass man diese Irrealität auch schon bei der ersten Einführung 1,12 als ironische Zusätze des Paulus auffassen muss. Ausser dem übergreifenden ,Wir’ sind auch die eingeordneten generalisierenden Imperative an die Gemeinde stärker als einheitsstiftende Kommunikationssignale zu werten, die 3,10b.18a.b.21; 4,1 gleichartig vorliegen und so eine zusammenhängende Mahnrede signalisieren. Wie oft sie als solche wie in ihrer Gleichartigkeit übersehen werden, zeigen die Lücken in den Kommentaren wie der inkonsequent unregelmäßige Gebrauch von Ausrufezeichen an diesen Stellen. Damit scheint mir aber der (von Sellin her aufgenommenen) These der Boden entzogen, dass "ein wesentliches Problem in 1Kor 1-4 die Rivalität von Apollos und Paulus" sei (121), woraus sogar in 1,18 f. für den Apollos-Namen ein wortspielerisch "verdeckter Bezug" zum Verb ,Zugrundegehen’ eingeschmuggelt wird, wie überhaupt die Mutmaßungen mit "versteckt" und "verdeckt" in diesem Zusammenhang dominieren (289 ff.313 f.344.366.369). Von einem "manifesten Konflikt" (276) kann also keine Rede sein, sondern im Gegenteil ist gerade das Fehlen jeder Rivalität zwischen beiden als Basis der gesamten Argumentation zu veranschlagen. Ebensowenig hat die Darstellung meine Bedenken gegen die Zuordnung von 1,4-9 (129-135) zu 1,10-4,21 ausräumen können: die Wertungen von 1,5 und 4,8 widersprechen sich derart (130 f.), als dass eine Differenzierung zwischen realen und expliziten Lesern (132) sie wirklich erklären könnte. Auch fehlt das aktive ,Ich’ des Paulus von 4,17-21 völlig in 1,4-9. Eine Differenzierung von verschiedenen kommunikativen Briefsituationen (Antwortbrief) wäre näherliegend.

Trotz dieser offen erscheinenden Einzelfragen wird das Hauptverdienst dieser Arbeit bleiben, die allgemeine Prozesstheorie der sprachlichen Zeichen (also die triadische Semiotik von C. S. Peirce) durchgehend (fast auf jeder Seite für alle Textsegmente) analytisch zur Geltung gebracht zu haben (182-199): Aussagen sind nur verkürzte Darstellungen von Schlussprozessen (Abduktionen) und Termini nur verkürzte Darstellungen von Aussagen, also doppelt verkürzte Darstellungen von Schlüssen. Schwerpunkt und Spezifikum der Arbeit ist die von 1Kor 1,21 her an C. Lévi-Strauss entwickelte ,Mythos-Grammatik’ (212-248): "Der ,Mythos’ ist ein Regelkomplex, der die allmähliche Angleichung bestimmter Gegensätze, die kommuniziert werden, ermöglicht" (218).

Den Rahmen bildet das ursprüngliche Suchen Gottes nach Einverständnis (mittels Schöpfung und Gesetz) und das definitive Ende des Grundgegensatzes in der Vollendung. Der Prozess dazwischen geht vom früheren negativen Ausgangszustand ("nicht mehr") zu einem positiven Gegenwartszustand eines passiv konstituierten Einverständnisses, der aktiv durch das Evangelium begründet wurde, sich jedoch im gegenwärtigen ,messianischen Intermezzo’ immer wieder gefährdet sieht ("noch nicht"). Damit wird eine grundlegende Differenz von neuschöpferischer Missionsrede (Etablierung einer neuen kommunikativen Realität) und innergemeindlicher Kommunikation (schriftgestützt mittels der Briefe) auf der Basis jener passiv konstituierten neuen Wissens- und Einverständnisgemeinschaft deutlich. "Die Unsicherheit und Orientierunsglosigkeit der neutestamentlichen Exegese in bezug auf die Gattungsbestimmung paulinischer Briefe dürfte daher darin begründet liegen, daß sie dieses Problem weithin als deduktive Fragestellung der Subsumtion paulinischer Texte unter vorgegebene jüdische und/oder hellenistische Gattungsmuster behandelt" (364).