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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

788–790

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Karpov, Vyacheslav, and Manfred Svensson [Eds.]

Titel/Untertitel:

Secularization, Desecularization, and Toleration. Cross-Disciplinary Challenges to a Modern Myth.

Verlag:

Wiesbaden: Palgrave MacMillan (Springer Nature) 2020. XV, 333 S. m. 10 Abb. Geb. EUR 128,39. ISBN 9783030540456.

Rezensent:

Harald Seubert

Der Sammelband setzt sich kritisch mit einem Dogma der Neuzeit auseinander, demzufolge säkularisierte Gesellschaften eher zu Toleranz neigen und dafür validere Instrumentarien bereithalten als religiöse Gesellschaften. Er folgt insofern der Mahnung, die Charles Taylor vor über zehn Jahren in seinem monumentalen Werk Ein säkulares Zeitalter aufstellte, wonach es darum geht, die Akten zwischen religiösen und säkularen Gesellschaftsordnungen neu zu öffnen. Manches an Erwägungen und Revisionen ist seither zur Diskussion gestellt worden. Zu dieser Debatte trägt der Band von Karpov und Svensson bei.
In ihrem grundsätzlichen Titelaufsatz fragen die Herausgeber nach dem Verhältnis von Säkularisierung und Moderne: Sie rekonstruieren dabei eine »Orthodoxie der Säkularisierung« (8 f.), die in einer hinlänglich bekannten Linie von Comte bis zu Marx verläuft, unter Einschluss von Durkheims Votum, dass die Gesellschaft an die Stelle der Religion trete. Mit Alexis de Tocqueville wird lapidar konstatiert: »The facts do not bear this theory out« (10). Eine projekthafte Säkularisierungstheorie, die das analysierte Phänomen selbst zur Durchsetzung bringen möchte, der Grundtenor bis zum »Projekt Aufklärung« des mittleren Jürgen Habermas, ist, so bemerken die Autoren zu Recht, von einer primär analytischen Annäherung zu unterscheiden. Eine solche analytische Annäherung an Säkularisier ung wird die große Erzählung in verschiedene, unabhängig voneinander entstandene, kontextuell zu betrachtende Krisenphänomene auflösen: Sie dekomponiert, um besser zu verstehen.
Die Gegenwart seit der Jahrtausendwende ist von einer Vielzahl von desäkularisierenden Strömungen und Tendenzen bestimmt. Mit Peter L. Berger teilen die Verfasser zu Recht die Diagnose, dass heutige Religionssoziologie sich im Zwischenbereich von Säkularisierung und Desäkularisierung betätigen muss, um die wesentlichen Tendenzen zu erfassen. Auch Desäkularisierung kann analytisch befragt werden. Dann zeichnen sich unterschiedliche Ebenen ab: Von einem Wiederaufleben religiöser Glaubensformen und Praktiken bis zur religiösen Besetzung von Kulturen und Subkulturen, gerade dann, wenn die institutionalisierten Heilsanstalten die em­phatisch religiöse Rede und deren Rituale in den Hintergrund drängen. Die Verfasser zeigen, dass große Religionssysteme, nicht nur die christlichen, seit Spätantike und Mittelalter Tolerierungsmuster entwickelt haben. Erlauben nicht gerade solche vergangenen Paradigmen die Gewinnung postsäkularer Formen friedlicher Koexis-tenz in multiethnischen modernen Gesellschaften?
Der Band überzeugt vor allem durch seine transdisziplinäre Struktur und die beiden Achsen, um die die Beiträge angeordnet sind: Im ersten Teil werden vor allem theoretische Annäherungen an die Thematik entfaltet, im zweiten geht es um Praxisformen und Politiken von Toleranz. Insgesamt ist der Versuch überzeugend, weite geographische und ideengeschichtliche Horizonte in der globalen Welt aufzuspannen, die nicht als membra disicta ne­beneinander stehen, sondern immer wieder miteinander ins Ge­spräch kommen.
Manfred Svensson rekonstruiert eine spezifisch christliche Pro-filierung von Toleranz, die er kenntnisreich zwischen Augustinus, Thomas von Aquin und John Owen nachweist (43–61). Toleranz gewinnt als ein Gutes intrinsischen Wert; zugleich dient sie der Abwehr von Bösem. Augustin formulierte (Conf X, 28.39), dass niemand das lieben würde, was er toleriert, wohl aber liebe er den Akt des Tolerierens.
Stephen Hirtenstein entwickelt in Bezug auf Ibn’Arabi (61–81) das Konzept eines mystisch-islamischen Toleranzverständnisses, das göttliche Gnade und menschliche Würde aufeinander bezieht. Gerade der reine Glaube, der in die Gottesschau eingetreten ist, wird auch tolerant sein.
Erhellende ideengeschichtliche Rekonstruktionen schließen sich an: Holger Zaborowski behandelt den Zusammenhang von Freiheit und Tolerierung in Moses Mendelssohns Jerusalem (101–115), wobei Mendelssohn im Unterschied zu Lessing und im Vorgriff auf Hermann Cohen seinen Toleranzbegriff aus den Quellen des Judentums schöpft. George Harinck analysiert die Vision einer pluralen Gesellschaft im umfangreichen Werk des reformierten Philosophen Abraham Kuyper (115–135) als christliche Antwort sowohl auf Säkularisierung wie auch Intoleranz in weltanschau-lichen Konflikten. In einem sehr scharfsinnigen Essay verflüssigt S. D. Smith (135–153) die desintegrierende Dichotomie »religiös«/ »säkular« als eine, zumindest im Blick auf das Toleranzproblem, eher nutzlose Leitdifferenz. Ein genauerer Blick zeige auf beiden Seiten der Dichotomie Toleranzpotenziale, die sich streckenweise sogar überlappen.
Einen anderen Weg wählt Eduardo Fuentes (153–171). Er akzentuiert, ausgehend von dem Problem bestimmter religiöser Opferriten in pluralen Gesellschaften, diametral entgegengesetzte Kodierungen. Unterschiedliche Toleranzformen, die sowohl im religiösen als auch im humanistischen Feld ihren Ursprung haben können, erweisen sich aber als Mittel, um mit Dualismen umzugehen, die andernfalls ein Gemeinwesen aufsprengen würden.
Der zweite Teil des Bandes beleuchtet das Feld an exemplarischen Beispielfällen. Dabei reicht der Rayon der Studien vom Kirche-Staat-Problem in Mexiko in den 20er Jahren des 20. Jh.s (Jean Meyer, 173–191) über die theologischen und säkularen Diskurse zur Profilierung eines jüdischen Staates (Carol und Ilan Troen, 191–215) bis zu dem hoch aktuellen Problem einer religiösen Liberalität im islamischen Kontext (Daniel Philpot, 215–233). Feggan Yang lässt in luzider Analyse und plastischer Darstellung Chinas multiple Experimente im Umgang einer säkularistisch atheistischen Staatsideologie mit religiösen Ressourcen Gestalt gewinnen (257–279). Dabei wird deutlich, wie der Konfuzianismus zunehmend als eine öffentliche Ressource anerkannt wird. Wohin sich die Dinge entwickeln werden, bleibt aber bis auf Weiteres offen. Der Mitherausgeber Vyacheslav Karpov (299–325) untersucht am Beispiel der Sowjetunion und der postsowjetischen und ukrainischen Gesellschaft das Verhältnis von ideologischem Säkularismus und Verfolgung. Die Beiträge von Yang und Karpov beleuchten, wie aktuell die Fragestellung des Bandes in der gegenwärtigen global-politischen Situation ist. Zwei Beiträge, die sich differenziert der Rechtsprechung widmen, entfalten zugleich transatlantische Konturen des Problems. Während Barbara McGraw und J. T. Richardson der Frage von Toleranz und Intoleranz in der US-amerikanischen Rechtsprechung seit dem 19. Jh. nachgehen (233–257) und damit einen Kontext rekonstruieren, der weitgehend von einer christlichen Zivilreligion bestimmt ist, thematisiert Effie Forkas die Veränderungen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte seit der Jahrtausendwende (279–299). Sie konstatiert gewisse Doppelzüngigkeiten zwischen dem Umgang mit dem Islam und der russischen Orthodoxie und eine Tendenz zum säkularistischen Dogma, die aber zunehmend überdacht und ansatzweise aufgebrochen wird.
Auch wenn ein solcher Sammelband eine Monographie zu einem so ambitionierten Paradigmenwechsel nicht ersetzen kann, ist er doch überaus anregend und er bewährt sich in der Verbindung von religions- und kulturphilosophischen Grundsatzerwägungen mit qualitativen empirischen Explorationen.
Er unterstreicht eine Überlegung, die intuitiv schon vor Jahrzehnten der Religionswissenschaftler und -philosoph Klaus Heinrich (1927–2020) formuliert hatte: dass nicht nur eine Aufklärung von Religion auf der Agenda der Moderne stehen sollte, sondern auch eine Aufklärung aus und durch Religion.