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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

784–786

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grundmann, Regina, u. Assad Elias Kattan [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Jenseits der Tradition? Tradition und Traditionskritik in Judentum, Christentum und Islam.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. VI, 264 S. = Judaism, Christianity, and Islam – Tension, Transmission, Transformation, 2. Geb. EUR 89,95. ISBN 9783614513131.

Rezensent:

Werner Kahl

Der zu besprechende Band versammelt 14 Beiträge, die aus Vorträgen zu einer interdisziplinären Tagung hervorgegangen sind, die 2010 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zum Thema Beyond Tradition? Tradition und Traditionskritik in den Religionen stattfand. Den Beiträgen ist ein Vorwort der beiden Herausgeber Regina Grundmann und Assaad Elias Kattan vorangestellt, und zwar in einer deutschen und einer englischen Fassung. Nach Ausweis des Vorworts bestand das Ziel der Tagung darin, »aus den unterschiedlichen Forschungsperspektiven verschiedener Disziplinen das Wechselspiel von Tradition und Traditionskritik in Judentum, Christentum und Islam zu untersuchen« (1). Dabei standen im Fokus des Interesses die »vielfältigen historischen und gegenwärtigen Erscheinungsformen von Kritik an den überlieferten Traditionen sowie die dynamischen Prozesse, die eine solche Kritik in Judentum, Christentum und Islam ausgelöst hat« (1).
In seinem Einführungsbeitrag reflektiert Georges Tamer die »Entwicklung und Beschaffenheit von ›Tradition‹ in Judentum, Christentum und Islam«, wie es im Untertitel heißt. In dieser eher allgemeinen Betrachtung hebt er ab auf die Tatsächlichkeit und Notwendigkeit von Transformationsprozessen in Bezug auf religiöse Traditionen. Die damit veranschlagte Dynamik von Traditionsbezügen trägt der Veränderlichkeit von Lebenskontexten Rechnung. Von der Bereitschaft und Fähigkeit von Religionsgemeinschaften zur Traditionsfortschreibung hängt ihr Überleben ab.
Im Folgenden sind fünf Beiträge zunächst dem Judentum, dann fünf dem Christentum und schließlich drei dem Islam gewidmet. Die Sektion zum Judentum wird eröffnet mit einem Beitrag von Dagmar Börner-Klein, die der »Frage der Anwendung der Kapitalgerichtsbarkeit nach rabbinischem Recht« nachgeht. Sie zeigt die kontextabhängige Varianz von rabbinischen Positionierungen zu dieser Frage auf. Regina Grundmann widmet sich der »fundamentalen Traditionskritik des Ḥiwi al-Balkhi«, der im 9. Jh. aus rationalistischer Perspektive auf Widersprüche und problematische Gottesvorstellungen in der hebräischen Bibel hinwies. Sie macht m. E. überzeugend plausibel, dass es sich bei Ḥiwi al-Balkhi um einen innerjüdischen Kritiker handelte, der sich mit seinen kritischen Anfragen, die innerhalb des Judentums deutlichen Widerspruch hervorriefen, in die jüdische Tradition einschrieb. Peter Sh. Lehnardt befasst sich mit einem Exkurs zu Koh 5,1 im Koheletkommentar von Abraham Esras aus dem Jahr 1040. Lehnhardt zeigt im Detail auf, wie Abraham Esra, der durch die arabische Sprache Andalusiens geprägt und mit muslimischen Traditionen vertraut war, aus eben dieser Perspektive bestimmte Aspekte der hebräischen liturgischen Dichtung, die er in Rom antraf, kritisierte. Ab dem 13. Jh. wurden seine Kriterien selbst zu einer maßgebenden Tradition bezüglich der Ausbildung einer liturgischen Poesie des Judentums.
Farina Marx weist am Yalkut Schimoni – einer kompilieren-den Kommentierung der hebräischen Bibel wohl aus dem 12. oder 13. Jh. – zu Habakuk nach, wie sein Autor aufgrund der Auswahl, Zusammenstellung und Schwergewichtung der von ihm benutzten Kommentarliteratur die ihm vorliegenden Traditionen veränderte. Somit liegt hier ein eindrückliches Beispiel für ein »dynamisches Traditionsverständnis« (87) vor. Ephraim Meir setzt Franz Fischers Konzepte einer »proflexiven« Philosophie und »Proligion« mit dem dialogischen Ansatz Martin Bubers in eine produktive Beziehung. Beide heben auf die Gegenseitigkeit in der Begegnung mit dem Anderen bzw. Fremden ab, und zwar als eine »gottgegebene Wirklichkeit« (109).
Die Sektion zum Christentum hebt an mit einer Studie von Hermut Löhr zur Varianz von Interpretationen des Dekalogs im entstehenden Christentum des 1. und 2. Jh.s. Am Beispiel Philos zeigt er auf, dass auch innerhalb des antiken Judentums der Dekalog unter einem universalen Anspruch gedeutet werden konnte. Gerd Althoff stellt eine Verbindung zwischen der den 1. Kreuzzug auslösenden Predigt von Papst Urban II. von 1095 und dem Massaker der Kreuzfahrer an den Muslimen und Juden in Jerusalem im Jahr 1099 her, und zwar über die Aufrufung von Psalm 79 durch den Papst zur Legitimation der Gewalt gegen »Ungläubige«. Klaus Müller zeichnet in Bezug auf römisch-katholische Beteuerungen von Traditionsverbundenheit tatsächliche Diskontinuitäten und Traditionsfortschreibungen in der Theologie- und Kirchengeschichte nach. Es zeigt sich, dass veränderte Lebenskontexte und Denkhorizonte regelmäßig theologische und kirchliche Transformationsprozesse in Gang gesetzt haben. Jürgen Werbick argumentiert – ebenfalls unter Bezugnahme auf den Traditionsanspruch der römisch-katholischen Kirche – in eine ähnliche Richtung: Christen hätten von Rabbinen zu lernen, dass die angemessene Bezeugung von Schrift und Tradition »Weiter-Schreiben, Überschreiben, Ineinander-Schreiben« bedeutet (176). Assaad Elias Kattan befasst sich mit dem Verhältnis von »Tradition und Traditionskritik in der christlichen Orthodoxie am Beispiel der Frage nach dem Frauenamt« (183) im Zusammenhang der interorthodoxen Konsultation von Rhodos im Jahr 1988. Er weist hin auf die Problematik des dortigen Ausschlusses der Möglichkeit von Spannungen innerhalb des »Corpus der Tradition« bei gleichzeitiger Rekurrierung auf Argumente für die Exklusivität des männlichen Priesteramts, »die nicht ohne Weiteres aus der Tradition entnommen werden können« (187).
Die Sektion Islam wird eröffnet mit einem wegweisenden Beitrag von Angelika Neuwirth, in dem sie Koranforschung programmatisch als eine »politische Philologie« begründet. Sie liest den Koran konsequent als Textzeugnis spätantiker Aushandlungsprozesse zwischen paganer arabischer Kultur einerseits und jüdisch-christlichen Traditionen andererseits. Dies macht sie exemplarisch deutlich an Sure 55, die sie unter dem Aspekt einer Neulektüre von Psalm 136 analysiert. Sure 112 deutet sie plausibel als kritische Fortschreibung sowohl von Dtn 6,4 als auch des Nicäno-Konstantinopolitanums. Diese spätantiken Aushandlungsprozes se sind nach Neuwirth für die gegenwärtige Gestaltung eines jüdisch-christlich-islamischen Europa von Belang. Ursula Günther diskutiert auf der Grundlage einer Erhebung unter muslimischen Jugendlichen in Hamburg, welche Bedeutung Traditionen für ih­ren Zugang zum Islam haben. Sie beschreibt ein breites Spektrum religiöser bzw. kultureller Selbstverortung zwischen »Belonging und Believing« (226). Abschließend beschreibt und diskutiert Perry Schmidt-Leukel den buddhistisch-islamischen Dialog in Asien, und zwar explizit aus einer christlichen Perspektive. Dabei hebt er ab auf den möglichen beidseitigen Gewinn eines theologischen Austausches, der etwa hinter Gottesbegriffen und Werten Gemeinsamkeiten zu entdecken vermag, ohne Differentes einzuebnen. Ein besonderes Potenzial zur Vertiefung und Transformierung des je Eigenen schreibt er grenzüberschreitenden spirituellen Erfahrungen zu, wie sie aus dem christlich-buddhistischen Dialog bekannt sind.
Dieser wichtige Band dokumentiert das gegenwärtige Forschungsinteresse an religiösen Transformations- und Hybridisierungsprozessen, die durch neue Kontexte bzw. durch Religionskontakte in Gang gesetzt werden können. Sowohl diese Phänomene als auch ihre akademischen Reflexionen sind – darauf wird in einigen Beiträgen ausdrücklich hingewiesen – von gegenwärtiger politischer Bedeutung.