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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

514–517

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frickenschmidt, Dirk

Titel/Untertitel:

Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 1997. XV, 549 S. gr.8 = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 22. Kart. DM 158,-. ISBN 3-7720-1873-4.

Rezensent:

Dieter Sänger

Lange Zeit hatte es den Anschein, als sei über die Frage der literarischen Gattung der kanonischen Evangelien und ihrer Stellung in der antiken Literaturgeschichte entschieden, zumindest in der deutschsprachigen neutestamentlichen Forschung. Seit den einschlägigen Arbeiten von K. L. Schmidt, M. Dibelius und R. Bultmann galt es weithin als ausgemacht, dass die aus kerygmatisch überformtem Sammelgut bestehende Makrogattung "Evangelium" eine genuin christliche Neuschöpfung ist, die wiederum ganz im Dienst der Verkündigung steht. Danach sind weder Mk noch die übrigen Evangelisten als literarisch ambitionierte schriftstellerische Persönlichkeiten anzusehen, und schon gar nicht haben sie ein biographisches Interesse verfolgt. Obwohl die redaktionsgeschichtliche Forschung dieses einseitige Bild korrigiert und die Evangelisten als konzeptionell gestaltende Theologen rehabilitiert hat, wirkte das Originalitätspathos der formgeschichtlichen Schule weiter nach. Zwischen der singulären Gattung "Evangelium" und den pagan-literarischen Traditionen - etwa der antiken Memoirenliteratur, den Philosophenviten und den hellenistischen Biographien - wurde eine scharfe Trennlinie gezogen.

Mittlerweile ist eine Trendwende unverkennbar. Sie hat bereits zu ersten Ansätzen einer literarischen Neubewertung der Evangelien geführt (C. H. Talbert, M. Hengel, K. Berger, Ph. L. Shuler u. a.). Aber ein umfassender Versuch, den alten Konsensus zu revidieren und die Evangelien im Kontext der zeitgenössischen biographischen Erzählkonventionen zu verstehen, stand bisher noch aus. In seiner materialgesättigten Studie, die 1996 der Theologischen Fakultät Heidelberg als Dissertation vorlag und für den Druck überarbeitet worden ist, hat F. diese Aufgabe in Angriff genommen.

Er beginnt, in diesem Fall unerlässlich, mit einem forschungsgeschichtlichen Überblick (3-80), in dem er sich bereits deutlich positioniert. Anschließend gibt F. Rechenschaft über sein methodisches Verfahren (81-92). Kap. 3 befasst sich mit der Entstehung der griechischen Biographie (93-114), das nächste bringt Beispiele für Biographisches in Geschichtswerken, AT inklusive (115-152). In Kap. 5-8 werden die antiken Biographien samt Vorformen behandelt (153-350), danach die vier Evangelien in der Reihenfolge Mk - Joh - Mt - Lk (Kap. 9-12 [351-497]). Ein Seitenblick auf das LkEv und die Apg als biographisch-historiographisches Doppelwerk (498-500) sowie ein die Ergebnisse bündelndes Resümee (501-510) beschließen das Buch. Register fehlen.

Auf dem Weg zu seiner These, die vier Evangelien seien "antike Jesus-Biographien im Vollsinn des Wortes" (508, vgl. 351), hat F. eine Reihe von Hindernissen zu überwinden. So ist selbst unter Altphilologen umstritten, ob angesichts der formalen und inhaltlichen Variabilität der antiken Biographien - der Vf. listet 142 Referenztexte auf, die sich über acht Jahrhunderte erstrecken (79 f.) -, überhaupt von einer einheitlichen Gattung gesprochen werden kann. Damit verbindet sich das andere Problem, inwieweit aus wenigen Sätzen bestehende biographische Skizzen mit z. T. wesentlich umfangreicheren in Beziehung gesetzt oder in Geschichtswerke eingebettete Feldherrn-Biographien mit solchen von Politikern, Philosophen, Dichtern und Rhetoren verglichen werden dürfen. Zudem ist keineswegs geklärt, wie man sich die Entwicklung vom kurz gefassten biographischen Enkomion bis hin zur ausgeführten Voll-Biographie vorstellen soll - immer vorausgesetzt, dass die jeweiligen Texte über verbreitete topische Elemente hinaus formgeschichtlich kompatibel sind. Und schließlich, wie sieht die Methodik aus, die der Gefahr entgehen will, einen Vergleich zwischen Evangelien und antiken Biographien auf bloße Motivanalogien und konventionelle literarische Muster zu reduzieren?

In Kap. 3 wird der Grundstein zur Beantwortung der miteinander vernetzten Fragen gelegt. Die Biographie wurzelt im griechischen Epos, das von Beginn an einen personalen und enkomiastischen Zug hat. Ihr Kern besteht aus einem dreiteiligen "Basis-Bericht", dessen Anfangs-, Mittel- und Schlussteil funktional aufeinander bezogen sind. Dieser Basis-Bericht enthält bereits die komplette Handlungsstruktur der Erzählung (997-102). Aristoteles übernimmt diese Dreiteilung ausdrücklich (Poet. 1450b 26) und definiert sie als organisch verknüpfte Ganzheit (98 f.).

Ein Schritt vom personenzentrierten epischen Enkomion hin zur Biographie ist Isokrates’ prosaisches Enkomion Euagoras (110 f.). Bezieht man die biographischen Partien in hellenistischen und alttestamentlich-jüdischen Geschichtswerken mit ein, zeigen sie trotz aller Unterschiede in der figurenspezifischen Charakterisierung und Funktionsbestimmung das gleiche dreifach gegliederte Aufbauprinzip (151).

Der weitere Entwicklungsgang lässt sich nur hypothetisch nachzeichnen, weil die prosa-biographischen Schriften des 5.-2. Jh.s fast ausnahmslos entweder fragmentarisch überliefert oder lediglich ihrem Titel nach bekannt sind. Indizien weisen auf eine wachsende Tendenz hin, historiographischen Werken eigenständige, in sich geschlossene biographische Passagen einzufügen ("geschichtsorientierte Biographie" [161]), in denen beide Darstellungsweisen sich gegenseitig befruchten. Sie besitzen jedoch - und das ist entscheidend - alle gattungstypischen Merkmale der vollentwickelten antiken Biographie, wie sie spätestens seit C. Nepos (2./1. Jh.) greifbar ist und bei Plutarch (1./2. Jh.) zur Blüte gelangt: dreigliedrige Struktur, episodischer Stil, Varianz und Flexibilität der erzählerischen Mittel, figurale Kontrastierungen, Wandel der Perspektive usw. Prinzipiell war jede Person des öffentlichen Lebens biographietauglich, auch charismatische oder prophetische Gestalten. Im Judentum bildeten sich Sonderformen der Biographie aus (VitProph; Philo, VitMos; Ps-Philo, De Sampsone [173-179]). Fazit: Das Spektrum reicht vom biographischen Basis-Bericht über erweiterte Zwischenformen (Kurz-Biographie) bis hin zur umfassenden Lebensbeschreibung (208 f.).

Jeder Erzählabschnitt besteht aus einer Reihe von Motiven, die für ihn konstitutiv sind. Textsignale wie "Anfang/anfangen", "zuerst" o. Ä. markieren den Anfangsteil. Dann folgt ohne sklavische Bindung an ein vorgegebenes Inventar alles, was über die Herkunft und das Leben der Hauptperson berichtenswert erscheint, bis zum ersten Höhepunkt in der beginnenden öffentlichen Wirksamkeit (240-277).

Der Mittelteil enthält neben den Taten und Worten, die das verborgene Wesen des Protagonisten enthüllen, auch die Reaktionen von Freunden und Feinden (278-303). Der Schlussteil schildert die Probleme und Konflikte, die das Ende der öffentlichen Wirksamkeit einläuten und schließlich zum Tod führen (303-350). Art und Umfang der Motive liegen nicht von vorneherein fest, sondern sind abhängig von dem verfügbaren biographischen Material und der Person, von dem es handelt (deshalb können z. B. Angaben über Geburt und Kindheit fehlen). In jedem Fall aber müssen die drei Teile deutlich voneinander abgegrenzt sein.

Konvergenzen im Motivinventar machen aus den Evangelien aber noch keine Biographien. Um diesen Kurzschluss zu vermeiden, entwickelt F. ein von ihm als "Topologie" bezeichnetes Vergleichsverfahren, das vor allem drei Aspekte berücksichtigt: 1) vergleichbare Leitworte, 2) vergleichbare sprachliche und geschichtliche Kontexte, 3) vergleichbare Funktionen a) innerhalb der Gesamtform, b) für Leser/Hörer der Biographie (89 f.). Legt man diese Kriterien zu Grunde, weisen die Evangelien das gattungstypische Gepräge antiker Biographien auf.

Das MkEv mag als Beispiel genügen. Der Prolog 1,1-15 bildet den Anfangsteil der Jesus-Biographie, wobei 1,1 in einer "kühne(n) Metapher" (352) den Namen (Jesus), Beinamen (Christus) und die Herkunft (Sohn Gottes) angibt. Das Stichwort "Evangelium" zeigt die Form der nun beginnenden Erzählung an, hat also primär narrative Bedeutung (355.359). Der erste öffentliche Auftritt Jesu (1,14 f.) ist Abschluss und Klimax zugleich (369).

Die Jüngerberufung leitet zum Mittelteil über. Sie hat ihre nächsten Analogien in den alttestamentlichen Berufungsgeschichten (Elia/Elisa), weniger in den Philosophenviten. Formgerecht ist schließlich auch die Reaktion der Öffentlichkeit (1,21-28) und die der Freunde bzw. Verwandten (1,29-45). In den folgenden Episoden, in denen die thematische Orientierung innerhalb des knapp gehaltenen chronologischen Rahmens dominiert (372), wird die verborgene Identität Jesu, genauer: die verborgene Identität Gottes offenbart. Die hier zum Ausdruck kommende Spannung zwischen Jesu Vollmacht und einer verhüllten Identität, die ihr Pendant in der indirekten Offenbarung seines wahren Wesens in Worten (Chrien) und Taten hat, erfüllt "den biographischen Zweck, verschiedene Aspekte der Identität Jesu ... immer mehr zu erhellen" (376 f.). Mit der endgültigen (Selbst-)Charakterisierung Jesu in 8,10-9,13 (Petrusbekenntnis, Verklärung) ist der Höhepunkt des Mittelteils erreicht (375.378-386). Die in ihn eingestreuten, überwiegend positiven Äußerungen des Volkes gegenüber Jesus erinnern an Reformer-Biographien (z. B. Plutarchs Erzählungen über die Gracchen). Mehr noch, auch dort wird erzählt, wie die Zustimmung allmählich abnimmt und die latent vorhandene Feindschaft sich steigert, forciert von einer daran interessierten Führungsschicht (378.395 f.). Die engsten topologischen Berühungspunkte zwischen antiker Biographie und dem MkEv finden sich im Schlussteil, zu dem die Passionsgeschichte gehört (398-414). Sie ist keine isoliert zu betrachtende eigenständige Gattung, der eine ausführliche Einleitung vorangestellt ist, sondern integraler Bestandteil der Gesamtform antike Biographie.

Die Untersuchung besticht durch die imposante Fülle des verarbeiteten Quellenmaterials, das ausgiebig zitiert und stets in Übersetzung dargeboten wird. Manche Seiten muten wie mit knappen Erläuterungen versehene Textausgaben an. Hilfreich sind die regelmäßig zwischengeschalteten Resümees, die den Ertrag eines Kapitels oder Unterabschnitts bilanzieren. Überzeugt hat mich vor allem die konstruktive Kritik an den Prämissen der "klassischen" formgeschichtlichen Schule und ihrer Nachfolger. Deren Argumente zu gunsten der literarischen Sonderstellung der Evangelien dürfte F. schlagend widerlegt haben. Mit dem Rock fällt auch der Mantel. Dass die Verfasser der Evangelien zwar auf theologischer Ebene ihre Akzente gesetzt haben, aber keinerlei biographisches Interesse erkennen lassen, sollte ebenfalls nicht länger behauptet werden.

Anders sieht es freilich mit der eigentlichen These aus, die kanonischen Evangelien seien antike Biographien im Vollsinn des Wortes. An diesem Punkt scheint mir die methodische Hypothek besonders hoch zu sein. F. räumt selbst ein, dass biographisches Erzählen in der Antike überwiegend nicht durch Gattungsregeln festgeschrieben war, sondern durch praktische Beispiele und allmählich entstandene Erzählkonventionen geprägt wurde, mithin eine beträchtliche Variationsbreite aufweist. Diese Einsicht wird im Verlauf der Untersuchung allerdings kaum jemals problematisiert, spielt offenkundig auch bei der Rekonstruktion der sukzessiven Entfaltung des personenzentrierten Enkomions bis hin zur Vollbiographie keine Rolle mehr. Ein zweites kommt hinzu. Das gewählte Vergleichsverfahren ist sicher geeignet, Gemeinsamkeiten im motivlichen Inventar, Stoffparallelen, ja sogar Strukturanalogien zu dokumentieren. Nur, sind solche Topoi nicht erzähldramatisches Allgemeingut und damit zu unspezifisch, als dass ihre Existenz eine Gattungszugehörigkeit begründen könnte?

F. hat ein inspirierendes, fast möchte man sagen überfälliges Buch geschrieben, das zudem noch spannend zu lesen ist. Mit ihm ist die Diskussion über die Stellung der Evangelien im Rahmen der antiken Literaturgeschichte auf eine neue Stufe gehoben. Deshalb: tolle, lege!