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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

761-762

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Vogl, Thomas

Titel/Untertitel:

Homiletischer Text- und Klangraum. Stimmung – Atmosphäre – Predigt.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2019. 393 S. = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 110. Kart. EUR 36,00. ISBN 9783429054076.

Rezensent:

Ferenc Herzig

Der katholische Pfarrer Thomas Vogl, der mit dieser Studie bei Erich Garhammer in Würzburg promoviert wurde, hat sich unter dem ansprechenden Titel viel vorgenommen – vielleicht etwas zu viel. Mit Blick auf die Predigt einerseits, aber auch den (Wort-)Gottesdienst insgesamt mit seinen Abläufen und darin agierenden Personen, das Kirchenjahr und Kirchbauarchitektur und mehr will V. die Begriffe und Phänomene von Stimmungen und Atmosphären un­tersuchen und »nach deren theologischer Relevanz und den sich daraus ergebenden Impulsen« (11) fragen – und ist sich be­wusst, dass diese Begriffe »zwar als unscharfe, diffuse und demnach schwer zu definierende Begriffe« gelten, sie aber in »ihrer Offenheit für eine Erarbeitung auf Predigt im Kontext des Gottesdienstes hin an­schlussfähig, relevant und hilfreich« seien (119). Leitend sind dabei für den katholischen Vf. die ästhetischen und phänomenologischen Überlegungen von Gernot Böhme und Alex Stock einerseits sowie andererseits die Metapher vom »Textklangraum«, die in der evangelischen Liturgik von Alexander Deeg geprägt und für die seit 2018 geltende Perikopenrevision maßgeblich wurde. Und allein das ist bemerkenswert und ein erfreuliches Zeichen ökumenischer Verbundenheit und Entwicklung innerhalb der in­terkonfessionellen Praktischen Theologie.
Die Studie hat einen dreiteiligen Aufbau, wobei die Architektur der ersten beiden Teile nicht ganz stringent ist. Im ersten Kapitel (14–121) geht V. sowohl den Begriffen als auch den Phänomenen »Stimmung« und »Atmosphäre« nach und betritt eine Vielzahl an Feldern von philosophischen, psychologischen, kommunikationstheoretischen bis religionsästhetischen Konkretionsversuchen dieser sicherlich nicht leicht zu bestimmenden Konzeptionen. Immer wieder werden Seitenblicke geworfen auf Konzilstexte (vor allem »Gaudium et spes« und »Sacrosanctum concilium«) oder auf etwas entferntere Diskussionen, etwa zum Begriff der Erfahrung, zur »Erlebnisgesellschaft« (Schulze) oder zur Frage nach Qualität im Gottesdienst (Fendler). Misslich ist dabei der Umstand, dass V. die vielen Konzeptionen zur Bestimmung seiner beiden Hauptbe-griffe häufig (und zudem nicht selten auch nur über Sekundärliteratur erschlossen) kaum mehr als streift: Kant, Dilthey, Heidegger zum Beispiel nehmen jeweils etwa eine halbe Seite Raum ein. Nicht nur evangelischerseits besonders auffällig ist zumal im »Atmosphären«- bzw. »Stimmungs«-Kontext die Kurzreferenz des »Ge­fühls« bei Schleiermacher (53 f.), die über jeweils einen Blick in die »Zweite Rede« und die »Glaubenslehre« nicht hinauskommt. Ge­winnbringender ist die Lektüre in diesem Teil des Buches vor allem dort, wo sich V. eingehender mit seinen Referenzautoren beschäftigt, vor allem mit Böhme (34–44) und Stock (72–81), zuweilen auch Herrmann Schmitz, aber auch im ausführlichen Referat der Inszenierungstheorie von David Plüss (81 ff. et passim). Allerdings tragen diese Einblicke den Vorsatz der Studie nicht wirklich, wenn selbst Alex Stocks Konzeption letztlich nur im ersten Band seiner Ekklesiologie wahrgenommen und in den nachfolgenden Teilen der Studie auf die Kurzformel eines zu schaffenden »Raum des Geistes« (219.224.279 et passim) kondensiert wird.
Kapitel 2 (122–225) ist in weiten Teilen ein gründliches Referat des Prozesses der evangelischen Perikopenrevision (wobei Teile da­von offensichtlich vor 2018 geschrieben und zur Veröffentlichung nicht angepasst wurden, vgl. 141: »Im aktuell zu erprobenden Entwurf einer Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte […].«) und der Begriffneuschöpfung »Textklangraum« durch Alexander Deeg (128–150) einerseits und des seit 1969/1981 geltenden Ordo Lectionum Missae (151–186) mit knappen texthermeneutischen, nicht mehr ganz aktuellen Überlegungen vor allem mit Georg Braulik und Norbert Lohfink (187–189). Anschließend plädiert V. für ein wohlgestaltetes Verhältnis der gottesdienstlichen Texte im Spannungsfeld von Konsonanz und Dissonanz, da­mit – mit Hartmut Rosa (207–212) – »religiöse Resonanz geweckt werden« könne (213). Hermeneutisch nicht überambitioniert ist dieses Kapitel insgesamt das instruktivste der gesamten Studie.
Die konkreten Hinweise, die V. für Kapitel 3 (226–361) verspricht, bleiben trotz der Textfülle leider inhaltlich hinter dem Anspruch zurück, mit »dem gegebenen Stimmungswissen bzw. einer Atmosphärenkompetenz […] Anregungen für die Gestaltung des homiletischen Text- und Klangraums« (357) zu skizzieren. Das hat seine Gründe in der auch durch diese Studie nicht geleisteten Präzision der vorausgesetzten Begriffe. So skizziert V. vor allem mit Kristian Fechtner »Erfahrungen aus der Kasualpraxis« allgemein und konkret (228–254), die »›Stimmungen‹ und ›Atmosphären‹ in den Liturgien der geprägten Zeiten des Kirchenjahres« (254–271), nach einem erneuten knappen Exkurs zur Bedeutung von Insze nierung mit David Plüss die unterschiedlichen Textgattungen (287–297) und Abfolge aller liturgischen Sequenzen (297–321), Mu­sik (322–334) und Akteure im Gottesdienst (335–352) und blickt auch kurz auf »technische und räumliche Bedingungen« (352–354) sowie »Feedback, Reflexion und Coaching« (355–357) als allesamt wichtige Felder für »Atmosphären und Stimmungen«. Der Er­kenntnisgewinn besteht in diesen Kapiteln in der immer wiederkehrenden abgewandelten Formel, dass es auf Atmosphären und Stimmungen zu achten gelte, weil sie den Inhalt der Verkündigung prägen. Wie das genau geschehen soll, erfährt man allerdings leider nicht wirklich.
So legt V. eine Studie vor, deren größte Schwäche nicht eigentlich ihr gewiss opakes Beschäftigungsspektrum der zwei großen und genuin fast unmöglich zu definierenden Begriffe ist, sondern die Unentschiedenheit im Ansatz: Eine rein phänomenologische Studie mit ausführlicher Beschäftigung der Konzeptionen vor allem Gernot Böhmes und Hermann Schmitz’ hätte sich ausgehend vom vorliegenden ersten Teil ebenso angeboten wie eine empirische Studie ausgehend vom dritten Teil – mit den deskriptiven Anteilen, die V. im zweiten Teil gut durchführt. So liegen hier vor allem sehr viele Andeutungen, Referate und Skizzen vor, die sich nicht wirklich zu einer eigenständigen und überzeugenden Konzeption zusammenschließen.