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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

754-755

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klessmann, Michael

Titel/Untertitel:

Theologie und Psychologie im Dialog. Einführung in die Pastoralpsychologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 319 S. m. 8 Abb. u. 2 Tab. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783525634035.

Rezensent:

Armin Kummer

Michael Klessmann, seit 2008 emeritierter Professor für Praktische Theologie und Lehrsupervisor der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie, ist in Deutschland vielen evangelischen Theologen durch seine zu Standardwerken avancierten Lehrbücher zur Seelsorge, zum Pfarramt und zur Pastoralpsychologie bekannt. Mit Theologie und Psychologie im Dialog legt er ein neues Lehrbuch zur Einführung in die Pastoralpsychologie vor. Motiviert ist dieses Werk durch den von K. konstatierten Bedeutungsschwund des Faches. Dem setzt er hiermit eine engagierte Apologie der Pastoralpsychologie entgegen.
K., der in den Vereinigten Staaten die clinical pastoral education (Klinische Seelsorgeausbildung) kennengelernt hat, ist ein Kind und Protagonist der Seelsorgebewegung, die in den 1970er Jahren einen Paradigmenwechsel in der Praxis kirchlicher Seelsorge und im pastoralen Selbstverständnis einläutete. Dem weitläufig engeren Verständnis der Pastoralpsychologie als Hilfsdisziplin der Seelsorge setzt K. hier erneut einen bereits in seinem seit 2004 in fünf Auflagen erschienenen Vorgängerwerk Pastoralpsychologie erhobenen ehrgeizigeren Anspruch entgegen. Pastoralpsychologie solle als Leitparadigma für die gesamte Praktische Theologie gelten, die er breit als »Theorie gegenwärtig gelebter Religion« (65) definiert.
Die Struktur des Buches reflektiert diesen Anspruch. Es beginnt mit dem Versuch einer phänomenologischen Begriffsdefinition der Pastoralpsychologie als einer hermeneutischen Disziplin. Verortet ist sie in einer Reihe von »Zwischenräumen« – vor allem aber, wie der Titel nahelegt, zwischen Theologie und Psychologie. Ihr Ziel und Kriterium ist die »Lebensdienlichkeit« – vormals auch als »Erbauung« bekannt (42). Es folgt eine historische Übersicht über die Entwicklung pastoralpsychologischer Lehre und Praxis in den Vereinigten Staaten und Deutschland. In zwei systematischen Kapiteln referiert K. die möglichen Beiträge psychotherapeutischer Konzepte zur theologisch-anthropologischen und religionstheologischen Theoriebildung. Darauf folgen pastoralpsychologisch in­formierte Einführungen in die praktisch-theologischen Teildisziplinen Pastoraltheologie, Liturgik, Homiletik und Poimenik. Obwohl in Deutschland der pfarrdienstliche Alltag oft auch eine schulische Lehrtätigkeit einschließt, verzichtet K. auf eine pastoralpsychologische Einführung in die Religionspädagogik. Dies ist bedauerlich, da ja gerade in diesem Praxisfeld die Einsichten der Psychologie, besonders natürlich der Entwicklungspsychologie, eine bedeutende Rolle spielen. Das neunte Kapitel bietet pastoralpsychologische Perspektiven auf die sechs Themenkomplexe Spiritualität, Gefühl und Glaube, Angst und Glaube, Glaube und Ambivalenz, Scham und Annahme sowie zwischenmenschliche Beziehungen. Das Buch schließt mit einem Kapitel über die Ziele und Möglichkeiten der stark institutionalisierten pastoralpsychologischen Fort- und Weiterbildung in Deutschland.
In klarer Sprache und gut nachvollziehbarer Struktur macht K. komplexe Sachverhalte für interessierte Neulinge leicht erschließbar. Jedes Kapitel ist so konzipiert, dass es als eigenständige Einführung in ein bestimmtes Themengebiet gelesen werden kann. Diese Konzeption führt für den Leser des Gesamtwerks zwangsläufig zu gewissen Redundanzen. Sehr erfreulich ist die Aktualität der rezipierten Literatur aus dem deutschen Sprachraum. Das Literaturverzeichnis enthält Beiträge, die bis ins Jahr 2019 reichen.
K. gelingt mit diesem Buch der Nachweis, dass eine kohärente Einführung in die Praktische Theologie unter einem pastoralpsychologischen Paradigma möglich ist. Es hat dabei etwas durchaus Erfrischendes, dass statt der üblichen evangelischen Gewährsmänner Luther und Schleiermacher hier einmal Sigmund Freud, Fritz Kohut und Donald Winnicott zu Wort kommen. So zeigt K. zum Beispiel im pastoraltheologischen Kapitel überzeugend die Bedeutung von Narzissmuskonzepten für das kritische Verständnis von Attraktion und Gefahren des Pfarrberufs. In der universitären Lehre und kirchlichen Ausbildung sollte der pastoralpsychologische Ansatz jedoch immer auch durch alternative, vor allem sozialwissenschaftliche Perspektiven ergänzt werden.
Seit Mitte der 1980er Jahre liegen einflussreiche Untersuchungen vor, die die Blindheit der Pastoralpsychologie gegenüber der sozialen Realität menschlicher Geschlechtlichkeit problematisieren. Diese Kritik wurde meist mit Blick auf Frauen vorgetragen und der feministischen Poimenik zugerechnet. Erst vor Kurzem jedoch haben die Schweizer Praktischen Theologen David Kuratle und Christoph Morgenthaler in ihrem Werk Männerseelsorge: Impulse für eine gendersensible Beratungspraxis (Stuttgart 2015) schlüssig dargelegt, warum sich die emotionsorientierte Methodik der Pas-toralpsychologie für die seelsorgliche Begleitung vieler Männer als untauglich erweisen kann. Da K. die anderen Werke Morgenthalers gründlich rezipiert, überrascht die Nichterwähnung dieser kritischen Anfragen an die Pastoralpsychologie.
Durch das Buch zieht sich K.s Sorge um die zunehmende Marginalisierung der Pastoralpsychologie in Theologie und Kirche. Während er ihre Bedeutung in diesem Buch eloquent verteidigt, sucht der Leser aber vergeblich nach einer selbstkritischen Untersuchung der Gründe dieses Niedergangs. K.s Verdacht, dass pastoralpsychologische Kritik an Theologie und Kirche zu kirchlicher Entfremdung und Gegenreaktionen führten (64), erscheint als Hypothese wissenssoziologisch ergänzungsbedürftig. Interessierte Leser müssen dafür zu Katja Dubiskis als Seelsorge und Kognitive Verhaltenstherapie (Leipzig 2017) veröffentlichter Dissertationsschrift grei-fen, die sich in ihrer historischen Einführung mit den institutionellen Aspekten der deutschen Pastoralpsychologie und mit ih­rem Verhältnis zur universitären Psychologie kritisch auseinandersetzt.
Für alle Leser bietet K.s verständliches und übersichtliches Einführungswerk einen reichen Schatz psychologisch und psychotherapeutisch informierter Theorien und Konzepte. Für die akademische Forschung enthalten diese Ansätze zahlreiche Hypothesen, die durch empirische Studien zu validieren wären. Die empirische Validierung theoretischer Konstrukte erscheint diesem Rezensenten als der aussichtsreichste Weg, einer Marginalisierung der Pas­toralpsychologie innerhalb der Praktischen Theologie entgegenzuwirken und ihr langfristig den Platz am Tisch der Wissenschaften zu sichern.