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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

749-751

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gehrke, Claudia, u. Stephanie Sellier[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Tod.

Verlag:

Tübingen: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke 2020. 456 S. m. Abb. = Konkursbuch, 56. Kart. EUR 16,80. ISBN 9783887692568.

Rezensent:

Christian Albrecht

Je intensiver man mit der kasualhomiletischen und seelsorgerlichen Praxis der Thematisierung des Todes und der sie begleitenden praktisch-theologischen Reflexion vertraut ist, desto stärker meldet sich bisweilen die Vermutung, dass Todesbilder, Todesvorstellungen, Todesdeutungen sowie die Individualität des Umgangs mit Sterblichkeit in der menschlichen Selbstreflexion vielfältiger und in theologischer Hinsicht breiter anknüpfungs- und inter-pretationsfähig sind, als es die pastorale Praxis und die praktisch-theologische Theorie im Blick haben.
Diese Vermutung wird bekräftigt durch ein hier anzuzeigendes Lesebuch mit circa siebzig höchst unterschiedlichen Blicken auf die Omnipräsenz von Tod und Sterblichkeit, das im kleinen Tübinger Konkursbuchverlag erschienen ist. Es handelt sich um kein theologisches Fachbuch, nicht einmal um eine religiös inspirierte Anthologie, sondern um ein Florilegium aus literarischen Texten, Ge­dichten, Essays, Lebensberichten, Gesprächsaufzeichnungen aus künstlerischen, philosophischen, medizinischen und, am Rande, auch theologischen Perspektiven. Die Autorinnen und Autoren sind eher regional bekannt, ihre Texte durchweg literarisch ambitioniert, vor allem aber stark erlebnishaft grundiert, lebensgeschichtlich Prägendes aufnehmend und verarbeitend. Darin haben sie ihren exemplarischen Charakter, darin sind sie aufschlussreich, auch für eine theologische Lektüre.
Alltägliche Tode kommen im Band vor – Tode von Großeltern, Eltern oder Partnern, aber auch der tägliche Tod der Gamerin im Computerspiel. Berührendes wird thematisiert – der Tod des eigenen Kindes, aber auch der misslungene Tod im Bericht des Rückkehrers ins Leben, dessen Suizidversuch scheiterte. Bilder des bösen Todes, des hässlichen, des unnötigen und des frühen Todes entstehen, aber auch solche des zarten Todes, des lustigen, des skurrilen, des gerechten und des ungerechten, des ersehnten und des verweigerten Todes – und immer wieder des inszenierten Todes. Wollte man diese Bilder typologisieren, so ließen sich Gruppen bilden: utopische Aufladungen des Todes als dessen Abschwächungen; apokalyptische Aufladungen des Todes als dessen Radikalisierung; Rationalisierungen des Todes, Bagatellisierungen und Negationen.
Der Wert der Sammlung besteht nicht darin, dass in ihr etwas zur Sprache käme, was nicht schon in älteren, prominenteren künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Tod artikuliert worden wäre. Vielmehr zeigen sich die Vignetten ausnahmslos als Dokumente einer mehr oder weniger unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Erleben der eigenen Sterblichkeit und mit dem Imperativ, dem Leben in seiner Vergänglichkeit irgendetwas abzugewinnen – sei es in bestimmten Erlebnissen oder Erfahrungen des Lebens, sei es in der Zuschreibung von Sinn und Bedeutung an Einzelnes und Einzelne, sei es in der Beschwörung von Verborgenem, Geheimem, Übersinnlichem, Raum- und Zeitlosem. Dies gilt auch und gerade dann, wenn jenes Abgewinnenwollen fehlschlägt, wenn sich die Unmöglichkeit einer Sinnfindung, einer Trauerarbeit, einer Vorbereitung aufs Lebensende in vielfachen Variationen artikuliert.
In all dem wird anschaulich: Jede Erörterung des Todes ist eine Erörterung des Verstehens, in der der Tod als Metapher fungiert. Nachdenken über den Tod ist eine hermeneutische Selbstklärung, in der sich emotionale und intellektuelle Differenzierung ebenso wie die Reflexion auf soziale Integration und Exklusion vollzieht, mithin die Bildung personaler Identität. Menschen konstruieren – einigermaßen bewusst – sich selbst und ihr Lebensganzes, wenn sie über den Tod nachdenken.
Dem selbstkritischen theologischen Leser stellt sich im Laufe der Lektüre zunehmend die Frage, ob die homiletische und seelsorgerliche Begleitung von Sterben und Tod (mitsamt der praktisch-theologischen Reflexion auf diese Begleitung) der subtilen Differenziertheit menschlichen Selbstverstehenwollens im Horizont des Todes gewachsen ist, die in der Sammlung komprimiert zum Ausdruck kommt. Eher betreten denkt man an die relative Einförmigkeit in der Praxis der homiletischen und seelsorgerlichen Be­gleitung von Sterben und Tod. Wo es im Allgemeinen bleibt, wird die Gewissheit der leiblichen Auferstehung bekräftigt; wo es konkret, persönlich und individuell werden muss, wird die grenzenlose Liebe Gottes beteuert, die durch Leiden, Sterben und Tod hindurch trägt. Beides ist zwar, wie Götz Harbsmeier 1947 nüchtern konstatierte, »rührend gut gemeint«, wird aber doch dem Expertentum, das Theologinnen und Theologen für die Bewältigung von Sterben und Tod beanspruchen, kaum gerecht. Bisweilen hat man den Eindruck, es fehle schlicht an Vorstellungskraft für die erlebnishaften Anknüpfungspunkte, an denen überliefertes theologisches Gedankengut seine hilfreiche Kraft zum Verstehen und zur Bemeisterung menschlichen Lebens gerade an seinem Ende erweisen könnte.
Die vielen im Bande versammelten Vignetten bieten samt und sonders Anregungen zur Erweiterung dieser Vorstellungskraft. Sie lehren den Theologen zunächst die Individualität des Todes, die Individualität von Todesbildern, aber auch die Individualität des Umgangs mit Sterblichkeit. Sie zeigen in exemplarischer Weise, wie sehr sich Menschen ausgesetzt und auf sich allein gestellt fühlen in der Bewältigung des Todes, in der Bearbeitung ihrer Todesvorstellungen, in der Omnipräsenz von Sterblichkeit. Die alte Theologie wusste das und hat das – gemeinsam mit den Betroffenen – ausgehalten. »Keiner wird für den andern sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen […] Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir«, mutete Luther seinen Hörern in den Invokavitpredigten 1522 zu. Die Texte zeigen aber auch, dass Menschen vielfach eine Haltung suchen, eine Lebenshaltung, die sie die Abgründigkeit des Todes ertragen lässt. Und die Beschreibungen dieser Haltung kommen – ohne dass gleich das Wort fiele – dem nahe, was man im christlichen Kontext als Haltung der Demut beschrieben und kultiviert hat. Sie zeigen, was ein gnädiger Tod sein kann. Sie zeigen, wie fromm man an das schlichte Nichts nach dem Tod glauben kann, also: wie gut man im Gefühl akzeptierter Abhängigkeit von den unverfügbaren Bedingungen des Lebens leben kann, ohne auf substantiale Vorstellungen verpflichtet werden zu müssen. Sie zeigen, wie sehr Menschen gerade gegen Ende ihres Lebens von der Vorstellung getrieben werden, Rechenschaft geben zu müssen über ihr verdanktes und doch gedankenlos oder gar undankbar geführtes Leben: wie sehr sie dabei selbsttätig Auffassungen entwickeln von etwas, für das die christliche Tradition die Vorstellung von Gericht und Gnade bereithielt.
Nicht jeder Mensch, dem Prediger und Seelsorger begegnen, wird sich in einer den Autorinnen und Autoren des Bandes vergleichbaren, elaboriert reflektierten Weise mit dem eigenen Tod und der eigenen Sterblichkeit auseinandergesetzt haben. Und noch weniger Menschen dürfte es geben, die ohne Weiteres empfänglich sind für eine bloße Rezitation der alten, dunklen Worte. Auch von zeitgenössischen Theologen und Theologinnen kann das nicht ohne Weiteres verlangt werden. Aber wenn es stimmt, dass menschliche Lebenserfahrung und christliche Lebensdeutungen einander wechselseitig zum Medium der Entschlüsselung werden und dass die Aufgabe der Predigt und der Seelsorge darin besteht, diese Vermittlungen zu leisten, dann bedarf es nicht nur einer Verinnerlichung des Gehaltes der christlichen Traditionsbestände, sondern mindestens ebenso sehr auch einer Anstrengung der Vorstellungskraft für die intellektuelle, emotionale und ästhetische Differenziertheit menschlichen Selbsterlebens und menschlicher Selbstdeutung. Der angezeigte Band regt zu beiderlei Vertiefungen an – darum ist er Predigerinnen und Predigern, Seelsorgern und Seelsorgerinnen ebenso ans Herz zu legen wie der kasualhomiletischen und seelsorgerlichen Theorie.