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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

738-741

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Gestrich, Christof

Titel/Untertitel:

Die menschliche Seele – Hermeneutik ihres dreifachen Wegs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XV, 337 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783161563829.

Rezensent:

Roderich Barth

Das postum erschienene Buch des am 3. Dezember 2018 verstorbenen Berliner Systematikers Christof Gestrich ist nicht sein erstes zum Thema und es ist zugleich mehr als bloß eine Studie über die menschliche Seele. Bereits 2009 veröffentlichte er eine eschatologisch fokussierte Abhandlung über die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen, die dann einen kritisch-produktiven Diskurs freisetzte und G. zu einer weiterführenden Darstellung motivierte. In dem nun vorliegenden Band bildet daher die gedankliche Rechenschaft eines der Gegenwart angemessenen Verständnisses der Seele den Ausgangs- und Zielpunkt. In dem ersten (1–45) von insgesamt fünf Kapiteln wird eine Annäherung an den Seelenbegriff vorgenommen, die dann der letzte Abschnitt des Schlusskapitels (V. Abschnitt D, 296–316) aufgreift, allerdings nicht, um den Ertrag der Abhandlung bereits in einer abgeschlossenen Definition, sondern lediglich durch 20 [z]usammengeführte Bausteine für Be­schreibungen der Seele im 21. Jahrhundert zu bündeln. G. schließt sich damit ausdrücklich nicht der in der Forschung vertretenen Posi-tion an (vgl. 36 f.), dass sich der Seelenbegriff in den Wissenschaften überlebt habe und durch »Platzhalterbegriffe« (156) wie Person, Selbst, Identität u. v. a. m. ersetzt werden könne, sondern sieht vielmehr den interdisziplinären, traditionell zwischen Philosophie und Theologie ausgehandelten, heute gar um ein »Paradigma für Humanwissenschaften« (141) kreisenden Diskurs auf »dem Weg zu einer erneuerten Definition der Seele« (171, vgl. 39.164). Dass aber eine »ganz fertige Seelendefinition … nicht schon wieder im Raum« (297) stehen kann, hat nicht nur mit der komplexen Umformungsgeschichte zu tun, die vor allem in den Kapiteln II ( Lehren aus der Geschichte über den Zusammenhang von Körper, Seele und Geist, 47–93) und III (René Descartes’ Seelenbegriff und seine neuzeitlichen Folgen, 96–140) aufgearbeitet wird, sondern verweist durchaus auch auf sachliche Gründe wie etwa eine »Dunkelheit« (303), die sich in der Hermeneutik der Seele zeigen wird.
Die Interpretation dessen, was als Seele invariant vorauszusetzen bzw. »gegeben« sei (vgl. 7 f.296), in seiner Deutung aber einem geschichtlich-kulturellen Wandel unterliege und insofern in jeder Gegenwart der Erneuerung bedürfe, ist für G. kein Selbstzweck, sondern vor allem deshalb ein dringendes Forschungsdesiderat, weil sich nur so die existentiellen Daseinsprobleme und Sinnfragen des Menschseins (vgl. 20) adäquat, und d. h. vor allem nichtreduktiv, reflektieren ließen. Und nur aus dieser gedanklichen Mitte heraus, die mit einer Augustinreminiszenz als »Gott und die Seele« (vgl. 59.174) umschrieben werden kann, lasse sich wiederum ein kohärentes Verständnis der christlichen Theologie und Praxis entwickeln. Dabei kann der Seelenbegriff mitunter auch fast vollständig in den Hintergrund treten und von anderen Begriffen wie etwa »ewiges«, »individuelles« oder »zuvorkommendes Leben« (174 ff.239 ff.260 ff.) überlagert werden. Die Hermeneutik der Seele erweitert sich so vor allem in den Kapiteln IV (Fragen aus gegenwärtiger philosophischer und theologischer Diskussion, 141–215) und V (Der Mensch und seine Seele. Über den praktischen Umgang mit der Seele einst und jetzt, 217–295) zu einer Hermeneutik des Christentums in seiner konkreten lebenspraktischen Bedeutung. Nicht ohne »tief in die dogmatischen Bestände der Kirche« einzuschneiden (312), wird zentralen Topoi von der Eschatologie über eine christologische Soteriologie bis zur Gottes- und Schöpfungslehre ein elementarer Sinn erschlossen (174–200), darüber hinaus erhalten die rituellen Vollzüge von den Sakramenten bis zur ökumenischen Gestaltung des Kirchenjahres (vgl. 73 f.200–203.206–215.250 f.) eine innovative Interpretation und die Seelsorge eine solche, die ihren Namen ernst nimmt (228 ff.), um dann schließlich eine christliche Ethik in nuce zu entfalten. Aus der Spiritualität der Seele heraus reicht sie von der politischen über die Umwelt-Ethik bis zu Problemen am Lebensanfang und -ende und ist trotz Seelenbegriff nicht strukturkonservativ, sondern vielmehr ausgewogen progressiv und lehnt mit tiefem Sinn für die Krisendimensionen des Lebens jeden kirchentheologischen Paternalismus ab (260–295).
Im Zentrum des in diese Weite hineingedachten Seelenverständnisses steht die Metapher vom »dreifachen Weg der Seele« (oder auch »Gang«, ihren drei »Epochen« oder »Phasen«, vgl. 43.82. 92.184 f.219.228.239 ff.255 f.307 f. u. ö.). Auch für G. ist die Seele das identitätsstiftende Prinzip einer individuellen Person zwischen Geburt und Tod (156–160.165 f.307 ff.), ja gleichsam das »Kontinuum« »in der Tiefe« derselben, ein »Kern, der bleibt« (298.309), allerdings nicht im Sinne eines Teils des Menschen, sei es das »Genom« (290.298), die »Psyche« (228 ff.287 f.299) oder aber die traditionelle » Geistseele« (39 f.65–68.97–99), sondern in einem ganzheitlichen, von der Leiblichkeit über die Emotionen bis zum vernünftigen Geist reichenden Verständnis – kurz: »der Mensch ist Seele« (41). Traditionell begründet sieht G. dieses Seelenverständnis »in der griechischen Antike und in der Bibel« (47 ff.), insbesondere in der Jesus-Tradition. Mit gebildeter Noblesse wird das die zeitgenössische Theologie bestimmende Märchen vom Gegensatz beider Kulturkreise ignoriert und das übergreifende Erbe ebenso souverän zum Leuchten gebracht wie Luther als Vordenker und »Philosoph« der Moderne, dessen ganzheitliche Anthropologie und Seelenlehre – sehe man einmal von seiner Kritik an »Seelenmessen« (71 f.) ab – seiner Zeit voraus und von der evangelischen Theologie bis heute noch nicht wirklich eingeholt sei (74–83). Doch ebenso »passend« wie das anthropologisch-ganzheitliche Verständnis ist nach G. eine gegenläufige Behauptung: Der »Mensch hat eine Seele« oder gar die »Seele hat den Menschen, der in ihr wohnt« (301). Denn die Seele gehe gerade als »Konstitutiert-Sein« (43) der Ganzheit eines indi- viduellen Menschen nicht in dessen irdischem Ich-Leben auf (vgl. 219.224), sondern repräsentiere auch dessen welthafte (Zeit und Ort) und ideelle Eingebundenheit. Daher stehe sie auch am »Schnittpunkt von Individualität und Kollektivität« (13.110.273. 297), im Sinne einer Verbundenheit mit prägenden »Kollektivpersonen« (302) der Vergangenheit, aus der sich Personalität in einem dialektischen Prozess von »Befreiungen und Bindungen« (273) entwickeln müsse, auf der einen Seite, und auf der anderen in einem inneren Gerichtetsein auf ein »zu sich selbst kommen« (172) und Vollendetwerden mit der Welt in einer nicht empirisch gegebenen, und daher notorisch dunklen, allenfalls in »Prolepsen« oder »Vorgriffen« (183.259.308.311 f.) zugänglichen Dimension. In den My­then aller Erlösungsreligionen würden die Übergänge dieses »drei stufigen Individuationsprozess[es]« (249) unterschiedlich bebildert, wobei zumal in der christlichen Tradition das Ziel ebenfalls als ein Aufgehobensein in und mit »kollektiven Personen« (308) vorgestellt werde. Die Leitmetapher vom dreifachen über eine »Vorgeschichte« oder »Anfahrt« zum irdischen Leben und eine »Ausfahrt« zur »Nachgeschichte« (43) über den Tod hinaus reichenden Weg der Seele verdankt sich nun aber einer heilsgeschichtlichen Vorstellungswelt, deren Plausibilität in der Gegenwart gerade nicht mehr gegeben sei und daher den Seelenbegriff insgesamt für viele »obsolet« (238) gemacht habe. Die Plausibilisierung desselben müsse sich also heute ganz auf die »mittlere seelische Strecke« (257) konzen trieren und von dort aus deren Transzendenzdimensionen er­schließen, was G. mit eschatologischen Gratwanderungen zwischen Nahtoderfahrung (141 ff.) und Rahners Ewigkeitsverständnis (152 ff.) versucht, sodann der ausdrücklichen Bejahung einer Ethisierung des Christentums und schließlich auch einem Wechsel in der Leitmetapher von den drei Wegen hin zu den »zwei ans biographische Personenleben angesetzten Flügeln« (258.311) der Seele – eine stille Reminiszenz an die Seele aus Eichendorfs Mondnacht?
In dieser Arbeit am »Fundament« eines neuen Seelenverständnisses sei ihm noch »kein spirituelles Erbauungsbuch« (XIII) gelungen, bemerkt G. einleitend und verrät damit doch seine Wertschätzung dieses Genres. Sie wird immer dann greifbar, wenn er von einer begründungslogischen zu einer eher narrativ-evokativen und stark metaphorischen Plausibilisierung seines christlichen Menschenbildes übergeht. Unvermeidlich spiegelt die problemgeschichtliche Auswahl auch hier die Bildungsgeschichte G.s wider und entführt zu manch unkonventionellen Wegen, die aber nicht immer zielführend sind. So ist der Rekurs auf die theologische Anthropologie Pannenbergs (129–140), die in der Figur der »Pro-lepse« Spuren im eigenen Konzept hinterlässt, noch nachvollziehbar, die Diskussion der sogenannten Anthropologie Karl Barths dagegen, von der G. zu Recht feststellt, dass sie letztlich mit einem philosophisch-katholisch konventionellen Seelenverständnis (vgl. 128) operiert, ist es nicht. Dies gilt zumal, als etwa Harnacks Wesen des Christentums, in dem »der unendliche Wert der Menschen-seele« (!) im Zentrum steht, oder auch Ottos Das Heilige, das sich als eine »Seelenkunde« religiösen Erlebens versteht – immerhin zwei der wirkmächtigsten theologischen Bücher des 20. Jh.s – nicht einmal erwähnt werden. Aber auch die Berücksichtigung der philosophischen Psychologie seit der Aufklärung und ihrer Entwicklung hin zu einer ästhetisch-phänomenologischen Theoriegestalt mit distinkten Konzepten von Sehnsucht, Stimmung oder dem Sublimen hätten zur methodischen und kategorialen Klärung des Seelenbegriffs einiges beitragen können. Um an seinem umfassenden Seelenkonzept festhalten zu können, muss G. Konzepte wie Subjekti vität, Person, Identität, Geist etc. als Aspekte der Seele in deren Begriff integrieren, belässt es dabei aber weitgehend bei einer metaphorischen Unschärfe (»Unregelmäßigkeit«, 312). Dabei ist vor dem Hintergrund der biblisch-theologischen, aber auch der philosophischen Problemgeschichte vor allem fraglich, ob viele derjenigen Sachverhalte, die G. unter dem Titel der ersten und dritten Wegstrecke der Seele subsumiert, nicht besser unter einem distinkten Geistbegriff zu verhandeln wären. Das liefe auf eine noch viel konsequentere Konzentration der Seele auf ihre ›zweite Epoche‹ hinaus, als sie G. selbst für notwendig erachtet, insbesondere in der Eschatologie. Freilich wäre dann zu klären, wie genau das traditionell unter den Schemata Seelenvermögen und Teilhabe vorgestellte Verhältnis zwischen der Seele und dem Geist in seinen Aggregatzuständen von subjektiv bis heilig zu rekonstruieren wäre.
Elementare Fragen wie diese aber überhaupt erst wieder anzustoßen und in das Zentrum theologischer Reflexion zu stellen, ist unbeschadet möglicher Kritik an Aspekten der konkreten Durchführung das große Verdienst dieses von tiefer Zuversicht und religiösem Ernst getragenen Buches.