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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

733-736

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Sulzer, Johann Georg, u. Johann Jakob Bodmer

Titel/Untertitel:

Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hgg. v. E. Décultot u. J. Kittelmann.

Verlag:

Basel: Schwabe 2020. 2 Bde., LI, 1994 S. m. Abb. = Johann Georg Sulzer, Gesammelte Schriften, 10. Lw. CHF 340,00. ISBN 9783796538148.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der im schweizerischen Winterthur geborene Johann Georg Sulzer (1720–1779) lebte von 1737 bis zu seinem Tod in Berlin. Dort avancierte der bedeutende Pädagoge, Philosoph und Ästhetiker rasch zu einer Hauptfigur der preußischen Aufklärung. Friedrich der Große schätzte und protegierte ihn, die Académie Royale berief ihn 1750 in ihre Philosophische Klasse und übertrug ihm 1775 sogar deren Direktorat. Entscheidende Bildungsimpulse hatte Sulzer von dem am Zürcher Collegium Carolinum wirkenden Johann Jakob Bodmer (1698–1783) empfangen, der als ein führender Vertreter der mit der Gottsched-Schule in erbittertem Streit stehenden Zürcher Poetik, dazu als Epiker, Dramatiker und Satiriker seinerseits zu den namhaften Akteuren der deutschsprachigen Aufklärung zählt. Der zwischen den beiden Protagonisten geführte Briefwechsel, von dem 454 S chreiben erhalten sind, dokumentiert den umfassenden wissenschaftlichen, tagesaktuellen und persönlichen Austausch zweier wichtiger Repräsentanten ihres Jahrhunderts und damit zugleich exemplarisch die ungeheure kommunikative Intensität eines Zeitalters, dessen Abkömmlinge, Zeugen und aktive Gestalter sie waren. Als geistes- und kulturgeschichtliches Universaldokument ist diese mustergültig edierte Korrespondenz von kaum zu überschätzender Quellkraft und Relevanz.
Im Zentrum des Austauschs tummeln sich anfangs konkurrenzlos Poetik und Literatur. Bodmer, durch den Konflikt mit der Leipziger Gottsched-Partei stimuliert, verhehlt dabei nicht sein Interesse, über Sulzer Einfluss auf die literarische Szene in Preußen zu gewinnen, da doch der Schüler jetzt »à portée« sei, »das Commercium zwischen den deutschen und den schweizerischen Musen zu befördern« (36). Indessen erwuchs in Berlin alsbald ein eigenes, gegenüber Zürich und Leipzig selbständiges, noch dazu moderneres Zentrum der Literatur. Dessen Vertreter – etwa der um J. W. L. Gleim sich scharende Kreis der Anakreontik, ferner E. von Kleist, G. E. Lessing oder F. Nicolai – werden von beiden Briefpartnern in skeptischer Aufmerksamkeit gewürdigt. Doch zusehends kristallisieren sich J. G. Herder und J. W. Goethe als die literarischen Erzgegner heraus; dass J. C. Lavater die beiden innig verehrt, macht sie in den Augen der Brief schreiber umso verdächtiger. Bodmer sieht in Herder ein ausgemachtes »Kind der finsterniß« (962), und Sulzer ist unentschieden, ob sich Herder mit seiner Deutung der biblischen Urgeschichte als »ein Narr oder ein Schalk« (996) disqualifiziert hat, hält dessen Einfluss aber jedenfalls für fatal: »Herder verdirbt Goethe und Goethe verdirbt hundert andere« (XXXVII). Dergestalt, befindet Sulzer, gebärde sich der junge Goethe als »ein Feind der Vernunfft, so bald sie sich in die Geschäffte der Empfindung mischen will« (949), weshalb es denn auch just »diese Wärme des Gefühles, von aller Vernunfft verlaßen«, gewesen sei, die »dem jungen Werther die Kugel durch den Kopf« (939) jagte. Immerhin gewann Sulzer, nachdem er sich im September 1775 in Frankfurt drei Stunden lang mit ihm ausgetauscht hatte, die Zuversicht, es möge aus Goethe »bey reifferen Jahren« durchaus noch »ein rechtschaffener Mann« (973) werden können.
Im Fortgang der Korrespondenz traten weitere Themenschwerpunkte hervor. Man verständigte sich nun zudem über aktuelle Fragen und Publikationen der Pädagogik, Philosophie, Naturgeschichte und Politik, zudem vertraute man einander, was den Briefwechsel noch vielfältiger macht, vermehrt auch private Befindlichkeiten und Umstände an. Bereits im März 1746 hatte man sich darauf verständigt, die gegenseitige Briefanrede »Mein werthester Freund« möge alle Titulaturen ersetzen. Was jetzt im Übrigen noch hinzukam, waren Nachrichten, Gerüchte und Anekdoten über den Preußenkönig, dem in Zürich, zumal in Bodmers Umgebung, ein Kreis glühender Bewunderer und Verehrer erwachsen war. Von einer zweistündigen Privataudienz, die er 1777 beim König erhalten hatte, gab Sulzer interessanten Bericht. So habe er dabei eindringlich die Seriosität, Nüchternheit und weltläufige Modernität der in Berlin wirkenden Aufklärungstheologen gerühmt, was dem König immerhin ein »cela est respectable« (1015) entlockte, auch wenn es an der ab­ständigen Religionspolitik Friedrichs II. bekanntlich nichts zu än­dern vermochte.
Das religiöse, kirchliche und theologische Themenfeld ist bei den Korrespondenten ebenfalls durchweg, wenn auch nicht dominierend im Blick. Dabei halten Bodmer und Sulzer getreulich neologische Spur. Sie pochen darauf, der Glaube müsse tugendhaft tätig werden (vgl. 689), verwahren sich gegen alle Sätze einer bloß »Speculativen Theologie« (713), welche »dogmata und mysteria zur Religion machen wollten« (884), und fordern eine strikt lebensweltlich orientierte Predigtweise, die den Hörern allemal einen »Gedanken schenkt, den ein Laicus so gut denken kann, als der Prediger« (801). Dergestalt kultivieren sie den religiösen Mittelweg zwischen kaltem, den Reimarus-Fragmenten verpflichtetem Rationalismus und schwärmerischer Gefühligkeit, was Bodmer, durchaus pointiert, auf die Negativformel brachte: »Lessing nimmt uns das Evangelium; die Empfindler nehmen uns die Vernunft« (1019).
Mit der theologischen Szene der Zeit waren sie beide vertraut. Das »Neue Gesangbuch« von G. J. Zollikofer, C. F. Bahrdts kurze pädagogische Tätigkeit in Marschlins, das »Wörterbuch des Neuen Testaments« W. A. Tellers, die Wohltemperiertheit der von J. F. W. Jerusalem vorgetragenen Apologetik, die harsche Abfuhr, die J. S. Semler dem auch in Zürich nicht unumstrittenen Lavater erteilte, oder das Wirken von S. J. Baumgarten, J. A. Eberhard und J. G. Toellner: Dies alles und Etliches mehr haben Bodmer und Sulzer wahrgenommen, ausgetauscht und beifällig kommentiert. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt dem Berliner Oberkonsistorialrat A. F. W. Sack, dessen Lauterkeit und Philanthropie beide immer wieder höchst anerkennend hervorhoben. Allerdings ist der Versuch Bodmers, Sack eine literarische Lobrede auf F. G. Klopstocks im Entstehen begriffenes Epos »Der Messias« zu entlocken (vgl. 72 u. ö.), gänzlich gescheitert, auch wenn sich der Kirchenfürst von den bereits erschienenen Teilen jenes Epos offenbar durchaus beglückt zeigte (vgl. 83). Hinter solchem Begehren stand indessen nicht nur der Wunsch, dem bewunderten Klopstock breite öffentliche Anerkennung zu sichern, sondern auch die Einsicht, es sei die moralische und ästhetische Prägekraft der Literatur zu gewichtig, »als daß es den größten Gottesgelehrten gleichgültig seyn könnte« (830 f.).
Indessen wurde die höchste Wertschätzung als Theologe übereinstimmend J. J. Spalding zuteil. Bereits dessen frühe moralische Essays und Shaftesbury-Übersetzungen legten bei Bodmer und Sulzer den Grundstein zu lebenslanger Verehrung. Zudem genoss Sulzer den Vorzug des vertrauten persönlichen Umgangs, der ihn Spalding bereits 1752 als den »würdigsten Menschen, den ich unter deutschem Himmel angetroffen« (217), rühmen ließ. Bodmer beneidete Sulzer denn auch um diese menschliche Nähe und musste sich mit der mehrfach wiederholten Bitte bescheiden, der Freund möge ihn »in Hr. Spaldings Liebe« (652) erhalten. Er bedachte Spalding mit Buchgeschenken und zeigte sich gekränkt, wenn einem von Spalding nach Zürich gesandten Brief kein Gruß an ihn beigefügt war (vgl. 275 f.). Später ließ sich Bodmer von Spaldings 1772 erschienener neologischer Homiletik derart beeindrucken, dass er in seinem Zürcher Einflussbereich energisch darauf drängte, man solle »die Prediger von des Staats wegen anhalten […], nach seiner [i. e. Spaldings] Vorschrift zu predigen« (893).
Insgesamt führen die theologischen Themen des Briefwechsels deutlich vor Augen, dass man den Vertretern dieses Berufsstandes we­niger wegen ihrer abstrakten binnendogmatischen Dispute, umso mehr aber wegen ihrer gesamtgesellschaftlichen Präsenz und Relevanz aufmerksame Achtung erwies. Dies dokumentiert eindrücklich die längst vergangene geistesgeschichtliche Konstellation, in der die Theologie einen selbstverständlichen Teil der Gelehrtenwelt dar-stellte, den die Literaten, Philosophen und Pädagogen auf Augenhöhe wahrnahmen und rezipierten und von dem sie gelegentlich auch die der Theologie zugeschriebene Öffentlichkeitswirkung einforderten.
Eröffnet wird der monumentale Briefwechsel durch eine vorzügliche »Einleitung« (IX–LI), welche die Eckpunkte der Korrespondenz umsichtig profiliert und auch zur Publikationsgeschichte wertvolle Hinweise bietet. Die jederzeit präzisen, bündigen »Anmerkungen« (Bd. 2, 1041–1705 [beide Bände durchgehend paginiert]) präsentieren sich als ein Ausbund philologischer, historischer und archivalischer Akribie und lassen allenfalls erahnen, welch immenser, über Jahre hinweg betriebener Rechercheaufwand notwendig war, um dieses in jeder Hinsicht geglückte Ergebnis zu realisieren. Innerhalb der feingliedrig differenzierten, nahezu fehlerfreien »Bibliografie« (1721–1860) weist das Verzeichnis der im Briefwechsel erwähnten Schriften die beeindruckende Zahl von knapp 1.200 Titeln aus, die von Bodmer und Sulzer im Laufe ihrer über 35 Jahre sich erstreckenden Korrespondenz gelesen und diskutiert worden sind. Vorzüglich erschlossen wird die Ausgabe durch ein sechsteiliges Register (1861–1989), das über die vollständig erhobenen persönlichen und geographischen Namen hinaus auch die wichtigsten Körperschaften, Periodika, Er­eignisse und Sachen zugänglich macht.
Man kann das Großereignis dieser mustergültigen epistolographischen Edition als eine Sternstunde der Aufklärungsforschung rühmen. Bodmer hatte im November 1774, halb augenzwinkernd, den Wunsch geäußert, es möge ihm sein Briefwechsel mit Sulzer dereinst als Beigabe ins Grab gelegt werden (vgl. 941). Nun aber ist diese beeindruckende Korrespondenz, anstatt dem Ewigkeitsschlaf übergeben zu sein, auf unabsehbare Zeit allgemein zugänglich gemacht worden. In atmosphärisch dichter Präsentation hält sie die handelnden Personen lebendig und mit ihnen ein liebenswertes Zeitalter, in welchem Literatur und Religion, Pädagogik und Philosophie, Philologie und Theologie noch nicht sektoral isoliert waren, sondern als integrale Bestandteile der respublica litteraria vielfach und ertragreich miteinander kommunizierten.