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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

732-733

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Sippel, Stefanie

Titel/Untertitel:

Die große Unmöglichkeit. Karl Barths Abweisung der Judenmission.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2020. 253 S. = Forschungen zur reformierten Theologie, 10. Kart. EUR 60,00. ISBN 9783788734763.

Rezensent:

Martin Hailer

Karl Barths Stellung zum Judentum war und ist Gegenstand von Kontroversen. Er gilt einerseits als Wegbereiter einer neuen, Israel voll anerkennenden Theologie und als der, der mit seiner Erwählungs- und Bundestheologie dafür die entscheidenden Konzeptionen lieferte. Andererseits wird ihm gerade aus dem Lager derer, die in den Nachkriegsjahrzehnten die israeltheologische Erneuerung betrieben, das teilweise Verhaftetbleiben in israelkritischen bis antisemitischen Vorstellungen vorgeworfen. Eine Relektüre seiner Beiträge zum Thema mit dem Fokus, wie er es denn mit der Judenmission halte, ist entsprechend zu begrüßen. Die bei Georg Plasger in Siegen eingereichte Dissertation von Stefanie Sippel, die Pfarrerin in Berlin ist, unternimmt dies.
Dreh- und Angelpunkt einer solchen Studie muss § 34 der Kirchlichen Dogmatik sein (»Die Erwählung der Gemeinde«, KD II/2), weil Barth hier das Verhältnis von Kirche und Israel so ausführlich thematisiert wie sonst nirgends. Freilich wirft S. ihre Netze erheblich weiter aus. Sie beginnt nach dem Entwurf der Fragestellung und knappen Worten zum Forschungsstand den inhaltlichen Teil ihrer Untersuchung mit Paraphrasen zum (Heiden-)Missionsbegriff in der Schöpfungs- und in der Versöhnungslehre der KD (§§ 55.72). Anschließend wirft sie einen konzentrierten Blick auf gerade einmal drei Seiten aus KD IV/3, auf denen Barth seine explizite Ablehnung der Judenmission darlegt, aber wohl kaum zureichend begründet. Das wird durch zusammengetragene Einzeläußerungen in Gesprächen und Kleinschriften illustriert. Damit ist die Position klar, das Begründungsgeflecht dahinter aber durchaus noch nicht.
Auf etwa 60 Seiten folgen, um eben dies herauszustellen, Berichte aus der Erwählungslehre der Kirchlichen Dogmatik. Die Grundentscheidungen werden benannt, also die Gnadenwahl als Summe des Evangeliums, ihre christologische Zentrierung, die Umschließung des Neins durch das Ja und anderes mehr. In Sachen Kirche und Israel ergibt sich ein nicht einfach summierbares Bild: Barth betont einerseits die bleibende Erwählung Israels und setzt sich damit von bis dato gängigen Substitutionstheorien ab. Aus der Tatsache, dass das jüdische Volk den jüdischen Gottessohn nicht als solchen anerkannte, folgert er jedoch, dass es die Abwendung von Gott und damit das Gericht bezeugt, während die Kirche bezeugt, dass Gott zur Gemeinschaft mit sich erwählt (KD II/2, 232). Die Gemeinde aus Juden und Christen ist eine und nur eine, die Bezeugungsgestalten aber sind distinkt unterschieden (127–143). Gegen die Kritik, hier sei nun doch judentumskritischer Bodensatz nicht ohne juden tumsfeindliche Klischees anzutreffen, wird Barth aber in Schutz genommen. Er habe allenfalls nicht gesehen, dass »die Namensgebung Zeuge des Gerichts seine Leser in die Irre führen werde.« (143) Warum ist Barth hier zu verteidigen? Die Zeugnisaufgabe Israels ist umgriffen von der unverbrüchlich geltenden Erwählung. Das Bundeskonzept der Erwählungslehre wiegt schwerer als der distinkt verschiedene Zeugendienst. Hier werden Probleme benannt, aber nicht wirklich diskutiert. Zu Recht fasst S. die Konsequenz zusammen: »Juden sind dazu erwählt, zur Kirche zu gehören, egal ob sie es in der Welt jemals tun werden.« (159) Aber stimmt denn die Konklusion: »Dieser Standpunkt vereinnahmt niemanden«? (Ebd.) Für Juden, die das Bekenntnis zum Messias Jesus ablehnen, trifft das ja nicht zu. Die genau hier ansetzenden Irritationen der Generationen nach Barth hätten gewürdigt werden sollen.
Im von ihr selbst als zentral markierten nächsten Abschnitt geht S. wieder so vor, dass die irritierenden Aussagen aus der Erwählungslehre in einen größeren Horizont eingerückt werden, diesmal in den der Vorordnung des Evangeliums vor dem Gesetz. Weil das so ist, spricht das Alte Testament vom Evangelium und ist Israel Volk des Gnadenbundes. Die Distinktionen aus der Erwählungslehre weisen Juden und Christen konträre Rollen zu, der Primat des Evangeliums macht »es möglich, anhand von Barth selbst diesen Eindruck zu korrigieren.« (188)
Es folgen Erwägungen zu Barths Antisemitismusbegriff, die in erhellender Weise aus Kleinschriften und Gesprächsprotokollen zusammengetragen und mit KD § 19 zusammengesehen werden. Den Schluss machen Erwägungen zu Barths Überzeugung, dass die Existenz jüdischer Menschen nichts weniger als »der einzige, dafür schlagende außerbiblische Gottesbeweis« ist (KD IV/3, 1005 f.) (220), und seine Konsequenzen für die Staatlichkeit Israels nach 1948 einerseits und die Frage der möglichen Taufe jüdischer Menschen andererseits. Das Fazit (234–236) ist eine kräftige Assertio, Judenmission endgültig abzuweisen.
Beeindruckend sicher manövriert S. durch die Textmassen von Barths Werk. Nicht selten urteilt sie harsch über Positionen aus der Sekundärliteratur. Leitend ist dabei durchgängig, dass Kritik an Barths Werk nicht verfängt. Diese Hermeneutik trägt freilich nicht immer zur Klarheit bei, weil sie Unstimmigkeiten und Fehlabstraktionen tendenziell verdeckt oder nicht zur Kenntnis nimmt. Der argumentative Gestus des Zweitgutachters Michael Weinrich, Sympathie im Grundanliegen mit Detailkritik zu verbinden, wäre anzu raten gewesen (vgl. Karl Barth. Leben – Werk – Wirkung, Göttingen 2019, zur Sache etwa 274): Die Kontrastierung der Zeugendienste von Kirche und Israel bleibt problematisch, auch wenn sie vom großen Ja der Erwählung umfangen ist. Auch diskutiert S. nur ansatzweise das israeltheologische Problem, das sich ergibt, wenn mit Barth das Evangelium im Alten Testament kein anderes sein kann als das von Chris-tus (134.188 f.). Die sehr respektvolle Haltung den Barthschen Texten gegenüber verhindert so die Benennung weiterführender Probleme.
Nach Karl Barth soll bekanntlich zur Sache und nicht zur Lage gesprochen werden. Leserinnen und Leser dieses Buches erhalten vielfältigen Einblick in eine wichtige argumentative Ausgangs-konstellation, die zu einer der großen theologischen und kirchli-chen Selbstkorrekturen in der israeltheologischen Sache nach dem Zweiten Weltkrieg führte.