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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

730-732

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Perry, Seth

Titel/Untertitel:

Bible Culture and Authority in the Early United States.

Verlag:

Princeton u. a.: Princeton University Press 2018. 216 S. m. 6 Abb. Geb. US$ 35,00. ISBN 9780691179131.

Rezensent:

Jan Stievermann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Marsden, George M.: Religion and American Culture. A Brief History. Third Edition. Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2018. 304 S. Kart. US$ 30,00. ISBN 9780802875396.


Religion and American Culture ist eine vielgenutzte Einführung in die amerikanische Christentumsgeschichte, die erstmals 1990 erschien und nun in dritter, erneut leicht aktualisierter, Fassung vorliegt. Anders als der Titel es nahelegen mag, versucht sich das Buch nicht an einer umfassenderen Religionsgeschichte der USA. Der Fokus ist klar christlich und die Deutungsperspektive durchaus konfessionell eingefärbt, was sich in deutlichen historisch-theologischen Werturteilen niederschlägt, die aber nie polemisch ausfallen. Neben Mark Noll gilt George Marsden (Emeritus an der University of Notre Dame) als Nestor einer historiographischen Schule, die dem evangelikalen Reformiertentum nahesteht. Das Grundanliegen dieser Schule ist zum einen, gegenüber einer stark säkularisierten Wissenschaftswelt und Öffentlichkeit die zentrale Bedeutung des Christentums und speziell eines erwecklichen Protestantismus für die Entstehung der USA und deren gesamte Geschichte bis weit ins 20. Jh. zu verdeutlichen. Zum anderen will man gerade evangelikalen Lesern aufzeigen, dass ihre Tradition sich in der historischen longue durée gesehen eben nicht durch Separatismus und einen Rückzug in konservative Parallelwelten auszeichnete, sondern im Zentrum vieler gesellschaftlicher Prozesse stand und eine in hohem Maße kulturprägende und reformierende Kraft war. Dabei ist M.s Blick auf das Verhältnis von »religi-ous faith to the dominant culture« (8) der augustinischen Tradi-tion in der Deutung durch die Niebuhr-Brüder verpflichtet. Diese nahmen an, dass die Beziehung des Christentums zu der es umgebenden Kultur sich stets zwischen den Polen von Übereinstimmung und Opposition, von Vereinnahmung und Kritik bewege. Beide Positionen sind mit eigenen positiven Möglichkeiten, aber auch Versuchungen und Problemen behaftet. Wie sich im Laufe des Buches zeigt, favorisiert M. am ehesten eine vermittelnde Position, die H. Richard Niebuhr in Christ and Culture (1951) als »Christ the transformer of culture« bezeichnet hat.
Insgesamt schlägt M. einen großen erzählerischen Bogen von der Gründerzeit der USA mit ihrem »broadly Protestant informal establishment« zur Gegenwartssituation, die er angesichts von religiöser Pluralisierung und Entkirchlichung von einem »less-Protestant or secular informal establishment« (267) geprägt sieht. M. verschließt keineswegs die Augen vor den vielfältigen historischen Vergehen der protestantischen Kirchen während ihrer langen Phase der kulturellen Dominanz: Sklaverei, Rassismus, die Enteignung der Urbevölkerung, aber auch die Ausgrenzung ethnisch-religiöser Minderheiten, insbesondere der Katholiken, werden eingehend diskutiert. Dennoch wird deutlich, dass M. den amerikanischen Versuch, eine moderne, zugleich demokratisch-tolerante und christliche Gesellschaftsordnung zu bauen, als große pro-testantische Kulturleistung erachtet, deren Niedergang durch die fortschreitende Entchristlichung der »mainstream culture« im 20. Jh. für ihn eine Tragödie darstellt. Während der liberale Protestantismus sich in seiner kritiklosen Anpassung an den kulturellen Wandel immer weiter selbst säkularisierte und letztlich von einer progressiven Politikagenda ununterscheidbar wurde, habe sich, so M., der traditionelle Protestantismus vielfach in eine verhängnisvolle Fundamentalopposition begeben, aus der heraus er jetzt eine reaktionäre Theologie und Politik des weißen christlichen Nationalismus betreibe. Verglichen mit den sehr kenntnis- und facettenreichen Kapiteln zum langen 19. Jh. fällt die Analyse der letzten Jahrzehnte und insbesondere der neuen christlichen Rechten aber eher schwach aus und erscheint nicht wirklich auf der Höhe der Forschung. Gerade im letzten Teil macht sich auch das insgesamt zu verengte und zu statische Verständnis von »the religious« und »the secular« negativ bemerkbar, insofern es der wechselseitigen Durchdringung religiöser und politischer Identitäten in den USA und auch den vielfältigen Phänomenen spätmoderner Spiritualität nicht gerecht werden kann. Dennoch bietet der Band dem Leser eine sehr lesenswerte und lehrreiche Gesamtdarstellung, die in klarer Sprache eine große Menge von Fakten und Forschung zu einer großen Erzählung synthetisiert, mit deren normativer Perspektive sich die Auseinandersetzung lohnt.
Wo Forscher wie M. und Noll gerne postulieren, dass im amerikanischen Protestantismus des 19. Jh.s die Bibel zur absoluten religiösen Autorität wurde, hinter der – unter den Vorzeichen der Trennung von Staat und Kirche – institutionell-kirchliche Autoritäten zurücktreten mussten, will Seth Perrys (Assistant Professor der Religionswissenschaften an der Princeton University) Bible Culture and Authority in the Early United States diese Behauptung einer kritischen Überprüfung unterziehen. Angeregt durch neuere praxeologische Ansätze aus der Religionssoziologie sieht P. Schriftautorität nicht als etwas, das der Bibel inhärent ist und nur mehr oder weniger zur Geltung gebracht wird. Stattdessen geht er im Sinne von Vincent Wimbushs Konzept der »scripturalization« von relationalen und mithin dynamischen Autoritätsbeziehungen aus, in welche heilige oder kanonische Texte wie die Bibel eingebunden sind. Solche Beziehungen manifestieren sich in bestimmten Praktiken der Autorisierung (nicht nur der Schrift selbst, sondern auch der sie gebrauchenden Individuen, Gruppen oder Institutionen), in spezifischen Produktions- und Verbreitungsweisen, Re­zeptions- und Interpretationskulturen sowie entsprechend ge­prägten Subjektpositionen. Genau diese Beziehungsgeflechte un­tersucht P.s ebenso materialreiche wie methodisch innovative Studie nun für die Zeit der frühen amerikanischen Republik bis in die 1830er Jahre.
Der erste Hauptteil behandelt die Folgen der sich stark verändernden Produktions- und Distributionsbedingungen für ge­druckte Bibeln wie auch parablische Texte und den damit einhergehenden Wandel der Rezeptionsgewohnheiten. Wie P. eingehend zeigt, gab es eine explosionsartige Vervielfältigung von Ausgaben, Übersetzungen, Kommentaren und bibelbasierter Literatur, die im frühen 19. Jh. in beispielloser Quantität verbreitet wurden und sich vielfach bewusst an eine weite Leserschaft, nicht zuletzt an Frauen, richtete. Dies intensivierte die autoritative Präsenz der Heiligen Schrift als kulturelle Letztinstanz, problematisierte sie zugleich aber auch, insofern die biblischen Inhalte den Menschen nun in vielfältigster Gestalt und einer ungeheuren Pluralität der Deutungen entgegentraten. Ebenso zeitigten die pädagogischen Absichten, mit denen kirchliche Eliten biblische Texte unters Volk brach ten, nicht-intendierte Effekte. Denn die so geschaffene »scrip-turalized culture« konnte auch zur Quelle der Selbstermächtigung von einfachen Laien werden, die, wie P. am Beispiel der Gründerin der Seventh-Day Adventists Ellen White zeigt, weitreichende religiöse Autoritätsansprüche im Diskurs biblischer Referenzen geltend machen konnten. Der zweite Teil des Buches widmet sich dann den neuartigen Formen der bibelvermittelten »self-creation«, vor allem durch das, was P. »performed biblicism« nennt, also die imaginäre Identifikation mit biblischen Figuren und das Ausagieren dieser Rollenmuster. Von zentraler Bedeutung für Amerika ist dabei die Rolle des Propheten, die es erlaubt, im Medium bibli-scher Sprache über den Kanon hinausweisende Offenbarungen zu artikulieren. In den m. E. interessantesten Kapiteln eines insgesamt sehr originellen und erhellenden Buches führt P. die reli-gionsproduktive Kraft dieser Subjektposition an einer Reihe von visionär-prophetischen Texten der Zeit vor, insbesondere an Jo­seph Smiths Book of Mormon (1830), dessen so erfolgreiche Rezep-tion wiederum durch die spezifische Bibelkultur der Epoche er­möglicht wurde.