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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

724-728

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Anderas, Phil

Titel/Untertitel:

Renovatio. Martin Luther’s Augustinian Theology of Sin, Grace and Holiness.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 344 S. = Refo500 Academic Studies, 57. Geb. EUR 90,00. ISBN 9783525593776.

Rezensent:

Markus Wriedt

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Cary, Phillip: The Meaning of Protestant Theology. Luther, Augustine, and the Gospel That Gives Us Christ. Ada: Baker Academic 2019. 384 S. Kart. US$ 32,99. ISBN 9780801039454.


Das Thema der »goldenen Kette« aus Röm 8, 29–30 – »Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht« – wurde in der theologiegeschichtlichen Forschung zur Reformation stets ein wenig zurückhaltend traktiert und dann in der Regel systematischen Untersuchungen überlassen. Dazu trugen auch die innerprotestantischen Streitigkeiten bei, in denen die Frage nach einer »effektiven« Rechtfertigung und den auch im Hier und Jetzt sichtbaren Folgen mit großer Intensität und zuweilen auch recht drastisch traktiert wurden. Dadurch gerieten der Aspekt des »forensischen« Rechtfertigungsverständnisses und das Motiv der »Non-Imputatio« aus dem Blickfeld. Das Thema der Heiligung wurde sogar unter den Generalverdacht des Semipelagianismus gestellt. Auch die theologiegeschichtliche Forschung zu diesen Themen wurde rasch diskreditiert und die Vision eines »katholischen Luther« aus den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jh.s mit zunehmender Emphase marginalisiert.
In seiner unter der Supervision von Mickey Mattox in Milwaukee WI entstandenen Dissertation greift Phil Anderas diese in Deutschland schon fast vergessene Debatte wieder auf. Er vertritt dabei die These, dass Luther zeitlebens trotz aller behaupteten forensischen Akzentuierung eines Rechtfertigungsverständnisses »a robuste doctrine of progressive renewal in holiness« (23) infolge der Wirkung des Heiligen Geistes im Zuge der Rechtfertigung vertreten habe. Erstaunlich ist hierbei die Vermeidung des Begriffes der sanctificatio zugunsten einer stärker prozesshaften renovatio. Hier wäre der Textbefund eigens noch einmal zu überprüfen.
Dabei geht A. auf den ersten Blick anachronistisch vor: Ausgehend von dem Gegensatz zwischen Erasmus und Luther entwickelt er seine These im ersten Teil seiner Untersuchung zunächst auf der Basis in den Texten des älteren Luther: Genesis-Vorlesung (1535–1545), der Schmalkaldischen Artikel von 1536/37, in den Antinomer-Disputationen (1537/38) und in seinem umfassenden Traktat »Von Konziliis und Kirchen« aus dem Jahre 1539. Er entwirft dabei einen dogmatischen Ansatz des »reifen Luther«, der mit den bisher zweifelsfrei behaupteten Akzentsetzungen einer rein forensisch zu verstehenden Rechtfertigung konfligiert. Im Zentrum seiner Textinterpretation stehen die Themen von Sünde, Gnade und Heiligung.
Der zweite Teil der Studie beleuchtet nun die analogen Aus-sagen dazu in Texten des »jungen Luther« (embryonic dogmatics, 139). Hierbei berücksichtigt er die Römerbriefvorlesung von 1515/ 16 nach den Vorbereitungstexten des Theologieprofessors aus Wittenberg (WA 56). Das tatsächliche Diktat im Vorlesungssaal lässt er hingegen unberücksichtigt. Auch hier beobachtet er einen Unterschied zwischen der an zweiter Stelle behandelten Scholie zu Röm 4,5–8 aus dem Jahr 1515 und den Ausführungen zu Röm 7 in einer späteren Scholie von 1516. A. verweist auf Luthers Augus- tin-Rezeption vor allem in Form der Lektüre von dessen anti-pelagianischer Schrift »Contra Iulianum« aus den 20er Jahren des 5. Jh.s. Er akzentuiert dabei die Aufnahme des Gedankenguts des afrikanischen Kirchenvaters anders, als das in früheren Studien, vor allem in der Auswertung der Lektüre von De spiritu et littera, vertreten wurde.
Der dritte Teil fasst die Einsichten der Studie zusammen: Zunächst rekonstruiert A. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Luthers Lehrentwicklung heraus und berücksichtigt dafür die Augustinrezeption, die bekanntermaßen bis in die letzten Schriften des Reformators intensiv angehalten hatte. Er arbeitet dabei einen Augustinismus Luthers heraus, der alles andere als unkritisch und die ursprünglichen Aussagen auch durchaus transformierend zu einer evangelischen Position heranreift. Hierbei behält er den langen Untersuchungszeitraum von 1514 bis 1546 im Blick und akzentuiert Themen, die in den letzten Jahren vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum intensiver diskutiert wurden, wie etwa die trinitätstheologische Grundierung des Schaffens seit den 30er Jahren des 16. Jh.s oder seine Interpretation einer evangelischen »Heiligenverehrung«. Auf Augustin bezogen erweist sich dessen Aussage zur verbleibenden Sünde des Christen auch nach der Taufe als wichtige Wegmarke zur Entfaltung der Aussagen Luthers zum simul iustus et peccator.
Die Arbeit gehört zwar formal in den Bereich der Theologiegeschichtsschreibung, ist aber faktisch eine systematische »Re-Lec-ture« bekannter Texte Martin Luthers. Dabei geht es weniger um das Aufdecken bisher unbeachtet gebliebener historischer Einflüsse als vielmehr die Analyse des bekannten Textbestandes auf Kompatibilität zum Werk Augustins. Innovativ ist die Verbindung von Texten der späteren mit der früheren Schaffensperiode des Reformators. Nicht minder wichtig ist die Beobachtung einer bleibenden Dynamik in Luthers Lehre und eine sich immer wieder verändernde Balance zwischen dezidiert anti-pelagianischem Ansatz und der dazugehörigen Polemik und seelsorgerlich intendierten Passagen. Die Berücksichtigung der bisher weniger berücksichtigten Schrift »Contra Iulianum« ist wichtig und trägt zur weiteren Ausgestaltung des Bildes der Augustin-Rezeption Luthers bei.
Auch wenn A. streng und konzentriert an den Quellentexten arbeitet, fehlen der Rekurs auf deren historischen Kontext und die Bezugnahme beim späten Luther insbesondere auf die innerprotestantischen Differenzierungen und Konflikte. Diese methodische Engführung ist freilich A. nicht unbedingt anzulasten. Er reiht sich mit seiner Untersuchung in eine ganze Folge von insbesondere nordamerikanischen Lutherstudien ein, in denen das systematische Interesse an einer gegenwartstauglichen theologischen Rekonstruktion reformatorischer Kernaussagen das historische Interesse an der Entwicklung dieser Positionen überwiegt. Die hermeneutische Rechenschaft über diese Entscheidung wird freilich nicht abgelegt. Im Verlauf der Lektüre ist jedoch unübersehbar, dass das erkenntnisleitende Interesse auf einer Lutherdarstellung liegt, die versucht, dem ökumenischen – hier inter-konfessionellen – Dialog zwischen evangelischen und römisch-katholischen Gesprächspartnern, wie er in den bereits erwähnten 70er und 80er Jahren des vergangenen Jh.s bestand, neues Leben einzuhauchen. Das kann nicht unterschätzt werden, wäre aber in Auseinandersetzung mit den inzwischen vorherrschenden historischen Theorieansätzen überhaupt erst noch zu entwickeln. Auch wenn diese Dimension der Studie fehlt, ist ihre Lektüre durchaus zu empfehlen. Nicht zuletzt ihrer sorgfältigen Quellenbearbeitung wegen.
Auch das zweite, in diesem thematischen Zusammenhang anzuzeigende Werk verdankt sich einem ökumenischen Interesse: den nach Bekunden des Verfassers im Anglikanismus verbundenen Aspekten von Wort und Sakrament. Philip Cary ist Professor für Philosophie an der Eastern University in St. Davids PA. Seit bald einem Vierteljahrhundert ist er für seine Forschungen zur Schriftauslegung, zu dem Werk Augustins, aber auch zu dezidiert pro-testantischen Themen bekannt. Offensichtlich diesem Impuls verdankt sich die Einleitung zu seiner Studie über Augustin und Luther als entscheidenden Wegmarken eines modernitätstauglichen Protestantismus. Der Begriff ist hier dem anglo-amerikanischen Sprachgebrauch nach weit zu verstehen und nicht auf eine bestimmte Denomination zu beziehen. Dennoch steht der interkonfessionelle Dialog zwischen Anglikanern und Katholiken ein wenig hinter den Ausführungen.
Auch diese Studie ist systematisch angelegt. Nach einer einleitenden Beantwortung der Frage »Why Protestantism?« geht C. an die Ausführungen zu seiner These in drei Teilen mit insgesamt zwölf Kapiteln. Der Beschluss der Untersuchung erfolgt erneut in Frageform: »Why Luther’s Gospel«. Das Buch liest sich als Entwurf einer philosophischen Konstruktion augustinisch-lutherischer Spiritualität, wobei der dritte Abschnitt die angestrebte Synthese anhand gewichtiger theologisch konnotierter Begriffe (Schrift, Er­lösung [Salvation], Sakrament und Trinität) argumentativ durchführt.
Im ersten Teil legt C. zunächst den Grund einer das Sein Gottes ernstnehmenden Spiritualität im Gefolge Augustins. Hierbei diskutiert C. zunächst die Legitimität der Assimilation (neu-)plato-nischer Gedanken in theologischem Kontext und die Verdienste platonischer Lehren für die Entwicklung christlich-theologischer Positionen. Sodann werden im zweiten Kapitel die Frage der gött-lichen Inkarnation und im dritten Kapitel dessen christologische Konsequenzen im Werk Augustins skizziert. Das abschließende vierte Kapitel thematisiert »The Augustinian Journey and Its Anxieties«. Hierbei diskutiert C. für konfessionell geschulte Oh-ren recht provokativ die These der Nicht-Exklusivität des Glaubens im Werk Augustins: »Faith alone does not save us, Augustine says quite explicitly. Augustine teaches justification by faith but not justification by faith alone.« (83) Damit wird der weitere Pfad gelegt, nämlich den Blick auf protestantische Engführungen zu richten, die nach C.s Verständnis die Rezeption des Werkes von Augustin einschränken und die Ausbildung einer protestantischen Spiritualität behindern.
Der zweite Teil wendet sich nun unter dem Titel »The Gospel and the Power of God« der Position Luthers zu. Das erste Teilkapitel (5.) interpretiert die Rechtfertigung im Verständnis Luthers als Bußakt bzw. -prozess. Das entspricht auch so weit dem aktuellen Stand der Lutherforschung. Bemerkenswert ist dann aber die Wendung des zweiten Teilkapitels (6.), in dem C. Luther ein Rechtfertigungsverständnis ohne Evangelium unterstellt. Dies ist zwar ein Entwicklungsprozess, aber C. akzentuiert in diesem Abschnitt be­sonders den richtenden und verdammenden Charakter des Evangeliums. Hier mag eine unklare Verwendung des Wortes »Gospel« vorliegen. Immerhin aber betont C. den Teil des »gospel«, der in der hermeneutischen Unterscheidung von »Gesetz und Evangelium« in den Bereich des Gesetzes fallen würde. Diese Unterscheidung ist bereits in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 angelegt und lässt sich mit noch ungeklärter Terminologie auch in der frühen Psalmenvorlesung finden. Die mangelnde Berücksichtigung dieses für Luthers Theologie so entscheidend wichtigen hermeneutischen Motivs lässt das Luther-Kapitel in eine eigenartige Schieflage geraten. Auch wenn die hoffnungsfrohe und -stiftende Botschaft des Wortes Gottes nicht völlig ausgeblendet wird, ist die pointierte Aussage etwa von Luthers »hopeful spiritual masochism« (139) doch irritierend. Auch Begriffe wie »dubious teaching« (143) sind nicht dazu angetan, zu einem bes seren und umfassenden Verständnis der Theologie des jungen Luther zu gelangen. Das belastet auch die weitere Lektüre der nächs-ten beiden Kapitel, die »Luther the Reformer« gewidmet sind. Hierbei fokussiert C. das Evangelium – im Sinne von Wort Gottes – als sakramentales Versprechen (145) und als eine »Story That Gives us Christ« (175). In diesen Kapiteln sucht C. seine These von der Verbindung zwischen Wort und Sakrament zu belegen. Das wiederum konfligiert eigentümlich mit Luthers Verständnis eines Sakraments als »sichtbarem Wort«. Warum sollte man also das Wort Gottes von seiner konstitutionellen Bedeutung für das Sakrament trennen? Und auch wenn es Stimmen gab – und gibt –, die den Predigtauftrag des Pfarrers durchaus sakramental verstehen, so ist doch von Luther her die Übernahme der augustinischen Formel »accedit verbum ad elementum et fit sacramentum« unabweisbar und lässt die Konstruktion eines sakramentalen Versprechens eigentümlich unklar neben Taufe und Altarsakrament erscheinen. Den Verheißungscharakter des Wortes Gottes arbeitet C. unter Verweis auf die einschlägige Studie von Oswald Bayer durchaus pointiert heraus und bearbeitet eine Reihe von Schriften aus den 30er Jahren. Sie werden in knappen Zi­tatsplittern angeführt, die geeignet sind, die Positionierung C.s zu untermauern.
Der letzte Teil III. ist überschrieben mit »Christian Teaching and the Knowledge of God«. In weiteren vier Teilkapiteln wendet sich C. hierin zentralen Themen der lutherischen Theologie zu: seinem Schriftverständnis, seinem Verständnis von Heilung und Heiligung, dem Sakramentsverständnis und der Trinitätslehre. Dabei stellt er die Theologie des Wittenberger Reformers etlichen Fragen der Moderne gegenüber. Die dabei sichtbar werdenden Differenzen werden mit der teilweise recht eigenwilligen Augustinrezeption von C. überwunden. Seine Beobachtungen sind dabei aufgrund einer grundsoliden Lektüre zumeist des englischen Übersetzungstextes der »Luther Works«, aber zuweilen auch mit Verweis auf die Parallelen in der »Weimarer Ausgabe« getroffen.
So manche saloppe Formulierung ist dabei dem anglo-amerikanischen Sprachgestus geschuldet. Freilich zuweilen auch zu Ungunsten der gedanklichen Präzision und Genauigkeit. Im höchsten Maße irritierend ist es, dass C. über seinen interpretierenden Ansatz keine hermeneutische Rechenschaft ablegt. So ist sowohl die Quellenauswahl in der Regel kaum historisch konnotiert oder reflektiert. Die Texte werden als selbstevident der Tradition, vor allem Augustin, gegenübergestellt. Fragen der Hermeneutik, der Semantik, des Sprachspiels u. v. a. m. kommen nicht zur Sprache. Auch wird die neuere Forschung der letzten knapp 50 Jahre, insbesondere die deutschsprachige, nicht zur Kenntnis genommen. Nun ist das per se kein negatives Urteil. Wohl aber verbleibt die Studie auf einem ideengeschichtlichen Niveau, das von neueren Arbeiten auf beiden Seiten des Atlantiks her doch als überwunden angesehen werden muss.
Das Buch ist mit Verve geschrieben und macht Lust, sich mit den Quellen selbständig zu beschäftigen. Dabei läuft die kritische Lektüre allerdings Gefahr, die Thesen von C. im Einzelnen oder auch insgesamt abzulehnen. Die Kontroverse darüber zu führen, ist sicher Anregung und Verdienst der Untersuchung. Es ist kein Buch über das Verhältnis von Luther und Augustin in historisch kritischer Annäherung, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Lektüre dieser beiden großen Theologievertreter und ihrer inspirierenden Kraft für den modernen Protestantismus. Ob dieser allerdings von C. in seinem doch sehr breit und verschiedenartig angelegten Selbstverständnis getroffen wird, mag füglich bezweifelt werden.