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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

510–513

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Parry, Donald W., and Eugene Ulrich [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Provo International Conference on the Dead Sea Scrolls. Technological Innovations, New Texts, and Reformulated Issues.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 1999. VIII, 711 S. gr.8 = Studies on the Texts of the Desert of Judah, 30. Lw. hfl 313.-. ISBN 90-04-11155-7.

Rezensent:

Jörg Frey

Der hier anzuzeigende Sammelband enthält die Beiträge des großen Qumran-Kongresses, der im Juli 1996 in Provo (Utah) abgehalten wurde. Die 43 Beiträge berühren fast alle wichtigen Bereiche der Qumranforschung. Der sorgfältig edierte und durch ausführliche Register (637-711) sehr gut erschlossene Band macht deutlich, in welch hochgradiger Spezialisierung die Erforschung der Bibliothek von Qumran inzwischen arbeitet. Die Ergebnisse der Spezialisten zu bündeln, kann nicht Aufgabe eines solchen Kongressbandes sein. Auch eine Rezension kann nur auf die wichtigsten Inhalte und Thesen hinweisen und lediglich einen Teil der gebotenen Fülle würdigen.

Der erste Teil des Bandes ist neuen technischen Verfahren im Dienste der Qumran-Forschung gewidmet, zumal hier ein besonderer Schwerpunkt der Forscher der Brigham Young University in Provo (Utah) liegt. Ihr bislang wichtigster Beitrag zur Qumran-Forschung, die von der Foundation for Ancient Research and Mormon Studies (FARMS) erstellte, mit Fotografien, Transkriptionen und Konkordanzfunktionen ausgestattete CD-Datenbank zu den Qumrantexten, wurde auf dem Kongress in Provo ebenfalls vorgestellt. Die detaillierte Beschreibung dieses Arbeitsmittels fehlt jedoch im vorliegenden Band, da sie an anderer Stelle bereits erschienen ist.1 Doch der Einsatz modernster Technik geht mittlerweile weit über klassische Datenbank-Anwendungen hinaus. G. Bearman und S. Spiro (Imaging Clarified, 5-12) erörtern Möglichkeiten und Probleme digitaler Bildbearbeitung, durch die geschwärzte Manuskripte und Fragmente wieder lesbar gemacht werden können.2 Da aufgrund des fortschreitenden Zerfalls der Fragmente den Fotografien aus der frühen Epoche der Qumranforschung besonderer Wert zukommt, besitzt auch die Sammlung von Bildern aus dem Nachlass von John M. Allegro3 hohen Wert, wie ihr Herausgeber G. J. Brooke an ausgewählten Beispielen zeigt (The Allegro Qumran Photograph Collection: Old Photos and New Informations, 13-29). Eine Gruppe von Forschern beschreibt das Verfahren der DNA-Analyse, mit der die Zusammengehörigkeit einzelner Lederstücke nachgewiesen und der Prozess der Herstellung der Schriftrollen weiter geklärt werden kann (S. R. Woodward et. al., Putting the Pieces Together, DNA and the Dead Sea Scrolls, 30 f.). Eine andere Gruppe von Forschern deutet an, welche Möglichkeiten die Verfahren der Radar-Fotografie aus der Luft für die archäologische Forschung bieten (G.F. Miner et al., Archaeological Applications of Synthetic Aperture Radar [SAR], 32-43).

Nach einem allzu knappen Einleitungsartikel von James A. Sanders (The Impact of the Scrolls on Biblical Studies, 47-57), der leider kaum bietet, was sein Titel verspricht, beginnt die Reihe der Texteditionen mit der Präsentation einiger Fragmente zu 1Sam 25,3-31,4 aus der wichtigen Handschrift 4QSama (4Q51), die in vielen Varianten zum MT einen hebräischen Grundtext der LXX-Version bezeugt (D. W. Parry, 4QSama [4Q51]: A Preliminary Edition of 1Samuel 25:3-31:4, 58-71) und demnächst in DJD 17 vollständig ediert vorliegen wird. Zwei wichtige Psalmen-Handschriften werden von E. Ulrich (The Oldest Psalms Manuscript: 4QPsa[4Q83], 72-92) und P. W. Flint (A Preliminary Edition of 4QPsd [4Q86], 93-105) beschrieben; ihre Edition ist ebenfalls in Bälde im Band DJD 16 zu erwarten. E. Qimron (Toward a New Edition of 1QGenesis Apocryphon, 106-109) stellt seine in Vorbereitung befindliche Neuedition des Genesis-Apokryphon vor, die viel mehr lesbaren Text präsentieren wird als die Editio princeps von Y. Yadin und N. Avigad. Da der Text der bislang unbekannten Kolumnen interessante apokryphe Materialien enthält, ist die Edition in der Forschung mit Spannung zu erwarten. D. R. Seely präsentiert eine der fünf Handschriften des hymnischen Textes Barki Nafshi, der in DJD 29 ediert werden soll (4Q437: A First Look at an Unpublished Barki Nafshi Text, 147-160). D. M. Pike und A. C. Skinner berichten aus ihrer Arbeit an den z. T. winzigen, bisher nicht identifizierten, in DJD 33 zu veröffentlichenden Fragmenten (4QMiscellaneous Fragments: Progress and Problems, 161-170). E. J. C. Tigchelaar (Reconstructing 11Q17 Shirot Olat ha-Shabbat, 171-185) präsentiert seine Rekonstruktion der mittlerweile in DJD 23 edierten Handschrift der Sabbatopferlieder. F. García Martínez (More Fragments of 11QNJ, 186-198) beschreibt die lange unbekannten Fragmente der inzwischen ebenfalls in DJD 23 edierten, stark zerstörten Handschrift der apokalyptischen Beschreibung des Neuen Jerusalem. Eigens hervorzuheben sind zwei Beiträge, in denen eine modifizierte Zuordnung der Fragmente zu neuen textlichen Erkenntnissen führt. So zeigt E. G. Chazon (A Case of Mistaken Identity: Testament of Naphtali [4Q215] and Time of Righteousness [4Q215a], 110-123), dass einige der bislang zum Testament Naphtali gezählten Fragmente aus kodikologischen Gründen nicht zu dieser Handschrift gehören, sondern eine Handschrift mit einem anderen Text eschatologischen Inhalts ("Times of Righteousness") repräsentieren. Das größte der vier erhaltenen Fragmente dieses Textes wird anschließend von der Autorin zusammen mit M. E. Stone ediert (124 f.); die offizielle Edition dieses fragmentarischen Textes ist in DJD 36 zu erwarten. D. Falk (Biblical Adaption in 4Q392 Works of God and 4Q393 Communal Confession, 126-146) begründet einleuchtend, dass die bislang als Teile unterschiedlicher Handschriften angesehenen Fragmente 4Q392 und 4Q393 zu ein und derselben Handschrift gehört haben dürften, welche die beiden unterschiedlichen Texte im Rahmen einer umgreifenden Komposition oder einer Textsammlung enthielt. Falk studiert sodann an beiden Texten das Phänomen der Anlehnung an unterschiedliche biblische Passagen. Dem Abschnitt der Texteditionen und -analysen zugeordnet ist weiter ein ausführlicher Artikel von Moshe Bernstein (Noah and the Flood at Qumran, 199-231), der einen Überblick über die in Qumran belegten Bezüge auf die Noaherzählung bietet, sowie ein instruktiver Beitrag von E. Tov (Correction Procedures in the Texts from the Judean Desert, 232-263), der die unterschiedlichen in den Qumran-Handschriften erkennbaren Korrekturen zusammenstellt.

Acht Artikel widmen sich Fragen der Qumran-Gemeinschaft und ihrer Geschichte. Ein Beitrag der Archäologen M. Broshi und H. Eshel, der schon die Grabungen in Qumran im Winter 1995/96 berücksichtigt, bekräftigt die einst von R. de Vaux aufgestellte Hypothese, dass die Mehrzahl der Bewohner der Anlage von Qumran in natürlichen oder künstlichen Höhlen, ein Teil auch in Zelten wohnte, während das Gemeinschaftsgebäude nur wenige Bewohner aufnehmen konnte. C. Hutt (Qumran and the Ancient Sources, 274-293) erörtert die Frage, in welchem Maße die antiken Essenerberichte als Quellen über die Qumrangemeinde zu lesen sind. I. Fröhlich (Qumran Names, 294-305) erörtert die in den Texten belegten Eigennamen und die an ihrer Stelle verwendeten metaphorischen und typologischen Bezeichnungen. S. Metso (In Search of the Sitz im Leben of the Community Rule, 306-315) fragt auf dem Hintergrund ihrer Forschungen zur Textgeschichte der Gemeinderegel 1/4QS nach der Funktion dieses Werks in der Gemeinschaft. Dabei schlägt sie vor, den Text weniger als Gesetz- oder Regelbuch, sondern als Sammlung konkreter halachischer Entscheidungen der Gemeinde-Verantwortlichen zu verstehen. Ch. Hempel (Community Origins in the Damascus Document in the Light of Recent Scholarship, 316-329) interpretiert die Geschichtsüberblicke der Damaskusschrift als Dokumente einer Vorläuferbewegung des ,yachad’, die in enger Verbindung mit den Trägerkreisen der Henochliteratur oder des Jubiläenbuches zu sehen sei. H. Eshel (The Meaning and Significance of CD 20:13-15, 330-336) bietet einen Beitrag zur Interpretation der in der Damaskusschrift erwähnten Zeit von 40 Jahren. S. J. Pfann (The Essene Yearly Renewal Ceremony and the Baptism of Repentance, 337-352) vergleicht das in Qumran bezeugte Ritual einer Bundeserneuerung mit der Bußtaufe Johannes des Täufers, und J. H. Charlesworth (John the Baptizer and Qumran Barriers in the Light of the Rule of the Community, 353-375) erörtert die möglichen Beziehungen zwischen der Gemeinschaft von Qumran und Johannes dem Täufer.

Vier Beiträge widmen sich Kalenderfragen: Einen Überblick über die Problematik bietet S. Talmon (Calendar Controversy in Acient Judaism: The Case of the ’Community of the Renewed Covenant’, 379-395). Spezielle Probleme der kalendarischen Texte erörtern M. G. Abegg Jr. (Does Anyone Really Know What Time It Is: A Reexamination of 4Q503 in Light of 4Q317, 396-406) und C. Martone (Some Observations on the New Mishmarot Texts from Qumran, 443-449). U. Gleßmer und M.Albani (An Astronomical Measuring Instrument from Qumran, 407-442) beschreiben das von ihnen selbst im Rockefeller-Museum entdeckte astronomische Messinstrument - eine Art Sonnenuhr - und erläutern dessen Funktion in der Anlage von Qumran.

Ebenfalls vier Beiträge behandeln Probleme der in Qumran auffällig stark vertretenen Levi- und Priestertradition: Die hohe Bedeutung, die Levi und den Leviten in manchen Texten (in unterschiedlicher Form) beigelegt wird, ist nach Auffassung von R. Kugler (The Priesthood at Qumran. The Evidence of References to Levi and the Levites, 465-479) aus der Situation der Qumrangemeinde zu erklären. Die vom Tempel separierte priesterliche Gruppe habe die Leviten als eine alternative Priesterschaft idealisiert und entsprechende Texte gepflegt. Mit Detailfragen der Funktion Levis und der Leviten nach den Ordnungen der Tempelrolle bzw. der Darstellung des Jubiläenbuchs beschäftigen sich die Beiträge von L. H. Schiffmann (Priestly and Levitical Gifts in the Temple Scroll, 480-496) und J. C. VanderKam (Isaac’s Blessing of Levi and his Descendants in Jubilees 31, 497-519). J. A. Fitzmyer (The Aramaic Levi Document, 453-464) skizziert die Publikationsgeschichte des aramäischen Levitextes aus Qumran und vergleicht seine Sprache mit der des aramäischen Levitextes aus der Kairoer Geniza.

Der Abschnitt zum Thema "Messianism and Eschatology" berührt ein Feld, das traditionell unter christlichen Theologen besonderes Interesse findet. W. M. Schiedewind (Structural Aspects of Qumran Messianism in the Damascus Document, 524-536) und C. A. Evans ("The Two Sons of Oil": Early Evidence of Messianic Interpretation of Zechariah 4:14 in 4Q254 4 2, 566-575) erörtern die Herkunft und die Struktur der Vorstellung von zwei ,Messiassen’ in den Qumrantexten. J. M. Baumgarten (Messianic Forgiveness of Sin in CD 14:19 [4Q266 10 I 12-13], 537-544) weist auf den interessanten Tatbestand hin, dass die Damaskusschrift - wie jetzt im Licht der 4QD-Texte noch deutlicher wird - davon spricht, dass der Messias Aarons und Israels für alle Sünden der früheren Zeit der Unwissenheit Sühne schaffen wird (vgl. dazu auch die Handschrift des aramäischen Levi-Textes 4Q541 9 2). Die Belege zeigen, dass der Gedanke eines (priesterlich gedachten) in der Endzeit Sühne wirkenden Messias’, vorchristlich längst belegt ist.4 É. Puech (Some Remarks on 4Q246 and 4Q521 and Qumran Messianism, 545-565) erörtert einige Probleme der vieldiskutierten Texte 4Q246 und 4Q521, und T. Elgvin (Renewed Earth and Renewed People: 4Q475, 576-591) ediert die Fragmente des wohl nichtessenischen apokalyptischen Textes 4Q475, dessen offizielle Edition in DJD 36 erscheinen wird. Warum dieser Beitrag von den Herausgebern nicht in der Reihe der anderen Texteditionen präsentiert wurde, ist freilich nicht ganz einsichtig- der Text hat jedenfalls alle Aufmerksamkeit verdient.

Die letzte Gruppe von Beiträgen gilt dem Thema "Wisdom and Liturgy". J. Strugnell (The Sapiential Work 4Q415 ff. and Pre-Qumranic Works from Qumran: Lexical Considerations, 595-608) führt eine Vokabular-Analyse zu dem großen Weisheitstext vor, der unter den Namen "4QSapiential Work A" bekannt wurde und demnächst wohl als "4QInstruction" in DJD 34 ediert werden wird. Der Text erweist sich als ein wichtiger Bestandteil der Weisheitstradition zwischen Proverbien und Ben Sira, der sehr wahrscheinlich voressenischen Ursprungs ist und in der Qumrangemeinde und vermutlich auch darüber hinaus große Bedeutung erlangte. J.J. Collins (In the Likeness of the Holy Ones: The Creation of Humankind in a Wisdom Text from Qumran, 609-618) widmet sich der schöpfungstheologisch bedeutenden Passage aus diesem Weisheitstext (4Q417 2 I,15-18). E. Eshel (The Identification of the ’Speaker’ of the Self-Glorification Hymn, 619-635) analysiert den für Fragen der Christologie hochinteressanten Erhöhungshymnus 4Q491 und seine verschiedenen Textparallelen und stellt die These auf, dass dieser Hymnus im Namen des eschatologischen Hohepriesters gesprochen sein will. Im letzten Beitrag des Bandes bietet B. Nitzan (The Textual, Literary and Religious Character of 4QBerakhot [4Q286-290], 636-656) eine knappe Beschreibung der von ihr vor kurzem in DJD 11 edierten Hymnenkomposition 4QBerakhot.

Die Vielzahl der Beiträge zeigt eindrücklich die Vielfalt und den Reichtum der in der Bibliothek von Qumran erhaltenen Texte, die - trotz der vielfältigen Probleme - für das Verständnis der Entstehung, Überlieferung und frühen Interpretation des alttestamentlichen Textes, der vielfältigen Strömungen des antiken Judentums und ihrer Denkwelt sowie der traditionsgeschichtlichen Hintergründe der urchristlichen Theologie noch viele Impulse versprechen. Angesichts der immensen Spezialisierung der Forschung bedarf es dazu in Zukunft verstärkter Bemühungen um einen Transfer der qumranistischen Einsichten in die Zweige der Bibelwissenschaft und der Judaistik.

Fussnoten:

1) D. W. Parry/S. W. Booras, The Dead Sea Scrolls CD-ROM Database Project, in: D. W. Parry/S. D. Ricks [Hrsg.], Current Research and Technological Development on the Dead Sea Scrolls, STDJ 20, Leiden 1996, 215-238; neuerdings auch D. W. Parry et al., New Technological Advances: DNA, Electronic Databases, Imaging Radar, in: P. W. Flint/J. C. VanderKam, The Dead Sea Scrolls After Fifty Years, Vol. 1, Leiden 1998, 496-515 (507-510).

2) Dazu ist noch immer grundlegend das Handbuch von A. Lange, Computer-Aided Text-Reconstruction and Transcription - CATT Manual, Tübingen 1993.

3) The Allegro Qumran Collection on Microfiche, ed. George J. Brooke with the collaboration of Helen K. Bond, Leiden 1996.

4) S. zum Ganzen jetzt die umfassende Arbeit von J. Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran, WUNT 2. R. 104, Tübingen 1998.