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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

722-724

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Roscher, Thomas

Titel/Untertitel:

Liturgie – ein offenes Haus? Die Plauener Friedensgebete von 1989 und 1990.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 518 S. Kart. EUR 54,00. ISBN 9783374062287.

Rezensent:

Benedikt Kranemann

Mit dieser Leipziger Dissertation von Thomas Roscher liegt eine weitere Monographie zu den Friedensgebeten in den letzten Monaten der DDR vor. Studien von Kay-Ulrich Bronk, Der Flug der Taube und der Fall der Mauer. Die Wittenberger Gebete um Erneuerung im Herbst 1989 (Arbeiten zur Praktischen Theologie 16), Leipzig 1999, und Hermann Geyer, Nikolaikirche, montags um fünf. Die politischen Gottesdienste der Wendezeit in Leipzig, Darmstadt 2007, widmen sich Friedensgebeten an Orten, die stärker im Blick der Öffentlichkeit waren. In Plauen, wo bereits am 7. Oktober 1989, also zwei Tage vor der Leipziger, eine Massendemonstration stattfand, fehlten die Kameras westlicher Fernsehteams.
Der Vf. unterzieht die zehn Friedensgebete, die in Plauen seit dem 5. Oktober stattgefunden und nach Einschätzung des Vf.s zur Minimierung von Gewalt beigetragen haben, einer sehr gründlichen liturgiewissenschaftlichen Analyse. Für sie hat er in Auseinandersetzung mit der Präsenztheorie des Literaturwissenschaftlers Hans-Ulrich Gumbrecht ein eigenes Instrumentarium entwickelt, mit dem er die Andachten auf Sinn- und Präsenzkultur hin befragt und dadurch vor allem darstellen kann, wie es gelingen konnte, über einen längeren Zeitraum Christen und Nichtchristen zu einer Ritualgemeinschaft zusammenzubringen. Die Analyse der An­dachten ist recht kleinteilig angelegt, Zusammenfassungen er­leichtern die Lektüre.
Nach der Einleitung (mit Forschungsbericht) (17–24) und einer umfangreichen Einführung in die Methodik der Arbeit (25–54) beschreibt der Vf. anhand des voluminösen Quellenmaterials zunächst die Geschichte der Plauener Friedensandachten (55–104) und erläutert das zeitgeschichtliche Umfeld. Um sich ein Bild von den damaligen Verhältnissen zu machen, sind ausführliche Zeitzeugenberichte hilfreich, so die Schilderungen der Auseinandersetzungen zwischen nach Freiheit verlangender Bürgerschaft und Staatsmacht. U. a. stammen sie von einem Wehrpflichtigen der Grenztruppen und von Mitarbeitern der Staatssicherheit und verdeutlichen, mit welcher Härte die Auseinandersetzungen geführt wurden und welche Bedeutung in diesem Umfeld die Friedensandachten besessen haben. Im Anschluss werden die einzelnen Friedensandachten minuziös rekonstruiert (105–363), was sich aufgrund der Quellenlage zum Teil als schwieriger erweist, als man erwarten würde. Verschiedene Plauener Kirchenräume wurden zwischen dem 5. Oktober 1989 und dem 16. März 1990 genutzt.
Der Vf. legt eine wiederkehrende Grundstruktur aus Wort, In­formation zum politischen Geschehen und Gebet frei. Er analysiert die verschiedenen Wort- und Musikanteile, insbesondere die Informationen, die in diesen Andachten gegeben wurden, und arbeitet die Fürbitten sorgfältig durch, erläutert, wer die Akteure in diesen Gottesdiensten waren, welche Entwicklungen die Andachten im Laufe der Monate durchlaufen haben usw. Ein wichtiger Abschnitt der jüngsten Liturgiegeschichte mit ökumenischem Charakter wird hier dokumentiert und für die weitere Forschung aufbereitet. Im mit »Bündelung und Nachlese der liturgischen Rekonstruktionen und ihrer Kommentierung« (365–426) überschriebenen Kapitel werden Phasen innerhalb der Gebete deutlich. Dienten die Andachten zunächst der öffentlichen Artikulation der politischen Lage, dem Austausch von Informationen, dem Gebet für Drangsalierte und Inhaftierte, so später der Begleitung des Prozesses der Demokratisierung (365 f.). Die Andachten im Kirchenraum boten einen öffentlichen Raum, der so in der DDR sonst nicht gegeben war. Sehr aussagekräftig ist die Formulierung, die Andachten seien »Rezeptionsorte des Unausgesprochenen« (383) gewesen. Friedensandachten und politische Situation standen in einem wechselseitigen Verhältnis (369).
Kritisch beobachtet der Vf., »dass die Adressatengruppe der Nichtchristen […] mehr und mehr in den Andachten aus dem Blick gerät« (386), weil binnenkirchliche Interessen stärker werden. Durch seine genauen Textanalysen gelingt es dem Vf., die zum Teil hintergründige Theologie in den Feiern offenzulegen. Christologie/Messianologie und Theologie, auch die Eschatologie der An­dachten werden sichtbar. Was hier im Einzelnen Beten meinte, wird in der Studie differenziert dargelegt und noch einmal auf das Leben in der DDR hin kontextualisiert. Von der Ebenbildlichkeit Gottes in der Liturgie zu sprechen, implizierte ein Bild des Menschen, das gegen dessen Nutzung im politischen System stand. Zugleich wurde durchgängig der Freiheit schenkende und erlösende Gott gefeiert. Gottesbilder können Christen wie Konfessionslose ansprechen, ein wichtiges Moment für ein Ritual, das Menschen unterschiedlichen Bekenntnisses und verschiedener Weltanschauung einschließen sollte. Insgesamt seien die Friedensgebete in Plauen eine Hilfe für die Menschen gewesen, weil die politischen Herausforderungen und die existenziellen Nöte der Menschen auf eine Mitte trafen, in die die pluralen Interessen integriert werden konnten (vgl. 488). Eine weitere Stärke der Andachten sei gewesen, dass es ein einfach durchschaubares Grundgerüst gegeben habe, das Gestaltungsräume mit einer wiederkehrenden Grundstruktur verbunden habe.
Der Vf. sieht in den Friedensandachten ein »Paradigma für heutige Feierformen« (488). Tatsächlich gibt es einige Merkmale mit paradigmatischem Charakter. Allerdings darf man nicht übersehen, dass in den vergangenen drei Jahrzehnten Kirchen und Ge-sellschaft Veränderungen durchlaufen haben, die es erforderlich ma­chen, den Gedanken des Paradigmatischen noch vertieft zu re­flektieren. Die Liturgien charakterisiert der Vf. als »politische Diakonie« (492), was sicherlich Zentrales trifft, aber das rituelle Mo­ment ganz ausblendet. Vielleicht würde sich hier der Begriff der »Ritendiakonie«, den Paul Michael Zulehner geprägt hat, anbieten. Er schließt ein politisches Moment ja nicht aus, macht aber eben deutlich, dass das Handeln im Ritual entscheidend ist. Die Einschätzung, dass von diesen Liturgien heute Licht auf andere Liturgien fallen kann, ist sicherlich zutreffend. Die vorliegende Arbeit erfüllt damit mehrere Aufgaben: Sie erschließt Liturgien, die für die deutsche Geschichte des späten 20. Jh.s ganz wesentlich gewesen sind. Aufgrund der Schilderungen der Zeitgeschichte wie der sehr genauen Analyse der einzelnen Gottesdienste und ihrer Kontexte begreift man die Dramatik der Situation. Sie nimmt zugleich eine sehr dichte theologische Analyse der Liturgie vor, die hilft, die existenzielle Dichte der einzelnen Feier zu begreifen. Und sie betrachtet die Gottesdienste immer wieder im weiten Feld kirchlicher Liturgien. Der gewählte Ansatz mit seinen Analyseinstrumentarien ist dabei hilfreich, wenngleich zum Teil etwas umständlich und nicht immer ohne Rückfrage. Interessant wäre es gewesen, explizit die Friedensgebete in Leipzig und Wittenberg mit denen in Plauen zu vergleichen, dabei auch die unterschiedlichen Forschungsansätze zu berücksichtigen.
Interessant ist jene Passage, in der beschrieben wird, wie ein Pfarrer aus Hof an einer der Liturgien teilnimmt und als Bürger der alten Bundesrepublik die Situation im Gottesdienst nicht richtig einschätzen kann: Wie verlief eigentlich die Rezeption von »außen«, gerade auch die mediale Rezeption? Es ist nicht das Schlechteste, wenn eine wissenschaftliche Studie Fragen für weitere Forschung generiert, wie es für das vorliegende, lesenswerte Buch der Fall ist.