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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

720-722

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Koslowski, Jutta [Hg.]

Titel/Untertitel:

Aus dem Leben der Familie Bonhoeffer. Die Aufzeichnungen von Dietrich Bonhoeffers jüngster Schwester Susanne Dreß. M. e. Geleitwort v. A. Dreß.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2018. LVI, 868 S. u. 16 S. Bildteil. Geb. EUR 49,00. ISBN 9783579071527.

Rezensent:

Jennifer Wasmuth

Nur dürre biographische Daten waren bisher von Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) jüngster Schwester Susanne bekannt: dass sie am 22.08.1909 als achtes und letztes Kind des Ehepaares Paula und Karl Bonhoeffer in Breslau geboren wurde, am 14.11.1929 den Theologen Walter Dreß geheiratet hat und am 15.01.1991 in Berlin verstorben ist. Mit der vorliegenden Ausgabe hat sich die Situation grundlegend verändert: Mit den »Aufzeichnungen« sind wesentliche Teile der Lebenserinnerungen von Susanne Dreß zugänglich. Unter den Überschriften »Kindheit und Jugend« und »Familie und Beruf« finden sich in acht »Bänden« ausführliche autobiographische Schilderungen, die sich von den Vorfahren der Familie Bonhoeffer über die Zeit des Nationalsozialismus bis hin zur Nachkriegszeit und dem Wiederaufbau Anfang der 50er Jahre des 20. Jh.s erstrecken.
Wie die Herausgeberin in ihrer Einleitung darlegt, gab es Pläne zur Veröffentlichung des Materials bereits zu Lebzeiten von Susanne Dreß. Aufgrund von Differenzen zwischen Autorin und Verlag, die den Inhalt und die Form betrafen, sind diese jedoch nicht weiter verfolgt worden. Der Herausgeberin ist deshalb zu danken, dass das Material jetzt in einer sprachlich bearbeiteten und dadurch gut lesbaren, mit hilfreichen Kommentaren versehenen Ausgabe vorliegt, der außer einem Geleitwort des Sohnes Andreas Dreß und Abbildungen ein Anhang mit Dokumenten und Hintergrundinformationen beigegeben ist. Zu den Dokumenten gehört ein Vortrag, den Susanne Dreß im Jahre 1966 im Gedenken an ihre Brüder Klaus und Dietrich gehalten hat. Pointiert gibt sie darin über die Motive des Widerstandshandelns der Familie Bonhoeffer und dessen bleibende Bedeutung Auskunft: Es solle »zum echten, menschenwürdigen, verantwortlichen Leben für andere« (837) anleiten. Auch eine Zeittafel zum Leben von Susanne Dreß und ein Stammbaum der Familie Bonhoeffer finden sich in dem Anhang. Neben dem Personenregister fehlen zwar ein Orts- und Sachregister, dafür bietet das Inhaltsverzeichnis detaillierte Angaben.
Mit den Aufzeichnungen liegt ein interessantes zeithistorisches Dokument vor, das die großbürgerliche Existenz der Familie Bonhoeffer mit selbstverständlichen Kontakten zu hochstehenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und hohem Anspruch an literarische und musikalische Bildung ebenso wie die Härten eines Pfarralltages in einer Gemeinde der Bekennenden Kirche unter den Bedingungen des Nationalsozialismus aufleben lässt. Die inneren Spannungen, die es speziell in dieser Gemeinde gegeben hat, in der Martin Niemöller (1892–1984) bis zu seiner Verhaftung 1938 tätig war, werden allerdings nur angedeutet. Es hätte dazu weiteres Material gegeben, »höchst brisante Inhalte« (XLIV), auf deren Veröffentlichung die Herausgeberin jedoch mit Rücksicht auf den erklärten Autorenwillen verzichtet hat. Ist diese Entscheidung einerseits nachvollziehbar, so hätte die Veröffentlichung von Do­kumenten, die beispielsweise auch das nach dem Zweiten Weltkrieg gegen Walter Dreß von Niemöller betriebene Entnazifizierungsverfahren betrafen, »einschließlich des Vorwurfs von Dokumentenfälschung und drohender Gefängnisstrafe« (XLIV), die Aufzeichnungen als historische Quelle aufgewertet.
Mit ihren Lebenserinnerungen liefert Susanne Dreß das bemerkenswerte Selbstporträt einer Frau, die trotz persönlicher Schicksalsschläge und extrem widriger Zeitumstände einen enormen Gestaltungswillen bewiesen und als Pfarrfrau Verantwortung auch für gemeindeleitende Aufgaben übernommen hat. An der Seite eines Mannes, der vor der Übernahme des Pfarrdienstes als Dozent für Kirchengeschichte zunächst an der Lutherakademie in Dorpat und dann an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig war und der Vorträge in der Gemeinde hielt, »wo alle sagten: ›Kein Wort verstanden‹« (694), hat sie einen wichtigen Beitrag zu Gemeindeauf-bau und Gemeindeentwicklung geleistet. So wurden u. a. auf ihre Initiative hin verschiedene Gemeindekreise ins Leben gerufen, bei i hr lag die tatkräftige Organisation von Gemeindeveranstaltungen, unter ihrer Verantwortung fanden Sommerfreizeiten statt. Auch lag der schulische Religionsunterricht zeitweilig in ihrer Hand.
Susanne Dreß tritt auf diese Weise als eigenständige Persönlichkeit hervor, die sich auch in der Familie Bonhoeffer als solche zu behaupten wusste.
Das gilt auch in ihrem Verhältnis zu ihren Brüdern und hier insbesondere zu Dietrich Bonhoeffer, von dem sie drei Jahre trennten und mit dem sie als den »Kleinen« in der Familie zeitlebens eine enge Beziehung verband. Mit den »Aufzeichnungen von Dietrich Bonhoeffers jüngster Schwester« wird sich deshalb die Erwartung verbinden, dass sich darüber noch unbekannte Seiten Bonhoeffers als herausragender historischer Gestalt des 20. Jh.s erschließen lassen. Verstärkt noch durch die Einleitung, in der die Herausgeberin die Aufzeichnungen von der »bestimmten Überlieferung« bisheriger biographischer Arbeiten – etwa Eberhard Bethges oder Ferdinand Schlingensiepens – abhebt und neue Informationen in Aussicht stellt (so XXX f.), wird diese Erwartung jedoch trotz zahlreicher Bezugnahmen auf Bonhoeffer nicht eingelöst. Tatsächlich gibt es nur eine einzige längere Passage in dem umfangreichen Werk, in der Bonhoeffer eingehender beschrieben wird. Dass sich die Darstellung durch Susanne Dreß dabei anders als die Darstellung durch die Schwester Sabine Leibholz-Bonhoeffer (1906–1999) als »Biographie« und nicht als »Hagiographie« (so die Herausge-berin, XXXI) ausweist, widerlegen die hier formulierten Sätze (vgl. 31: »Ich glaube, ich habe ihn angebetet […] Er war der Stärkste, Schnellste, Klügste, Einfallsreichste, Freundlichste, Frömmste und Schönste von allen Kindern, die ich kannte.«). Auch finden sich zwar Hinweise auf religiöse Prägungen, die Susanne Dreß durch ihren älteren Bruder empfing. So war er es, der sie bereits in jungen Jahren noch während seines Studiums in die Kindergottesdienstarbeit einband (vgl. 400 f.). Häufiger werden Gespräche über religiöse Fragen erwähnt, die beide miteinander geführt haben. Theologische Gedanken hingegen kommen nur ausnahmsweise vor. Das ge­schieht etwa, wenn Bonhoeffer seiner Schwester den christlichen Auferstehungsglauben zu vermitteln sucht (vgl. 389: »Dass der Tod in seiner trostlosen Schwere nicht mehr gilt; dass Gott, den wir auf dieser Welt nicht wollen und deshalb umbringen, doch lebendig bleibt; dass die Geschichten von der Auferstehung wunderschön sind und es auf das Gleiche hinauskommt, ob sie stimmen oder miteinander übereinstimmen, weil viel wichtiger ist, dass die Menschen damals merkten: Jesus ist nicht erledigt, sondern jetzt geht es erst richtig los, weil der Tod tot ist – das war der Inhalt unserer Unterhaltungen auf meinen Osterspaziergängen mit Dietrich.«) oder aber den Sinn des Abendmahls (vgl. 398: »Dietrich konnte ich fragen, ob das Abendmahl wirklich so etwas Besonderes sei, und er antwortete sehr beruhigend und heilsam: ›Für mich schon. Ich bin gerne eingeladen, wo man mich gern hat.‹«).
Am Ende bleibt deshalb festzuhalten: Mit den Aufzeichnungen von Susanne Dreß liegen Lebenserinnerungen vor, die zwar die bisherige Wahrnehmung Dietrich Bonhoeffers nicht entscheidend verändern dürften, die ihn gleichwohl anschaulich-anekdotisch in Erinnerung rufen. Nicht zuletzt aber haben sie ihren Wert in sich selbst – als das bemerkenswerte Zeugnis einer in ihrem Glauben, Denken und Handeln auf ihre Weise dem Nationalsozialismus be­harrlich trotzenden Frau.