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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

715-720

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Grassl, Fabian F.

Titel/Untertitel:

In the Face of Death. Thielicke – Theologian, Preacher, Boundary Rider. Foreword by T. J. Wengert and W. Thielicke.

Verlag:

Eugene: Wipf & Stock (Pickwick Publications) 2019. 292 S. Kart. US$ 35,00. ISBN 9781532655470.

Rezensent:

Markus Wriedt

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Scherf, David: Gesetz und Evangelium im Nachkriegsprotes-tantismus. Eine Untersuchung am Beispiel von Ernst Wolf, Helmut Thielicke und Carl Heinz Ratschow. Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XII, 285 S. = Religion in der Bundesrepublik Deutschland, 5. Geb. EUR 69,00. ISBN 9783161576775.


Nachdem Mitte der 90er Jahre mehrere Arbeiten zu Leben und Werk Helmut Thielickes (1908–1986) erschienen, war es lange Zeit sehr ruhig um das Erbe des einst so wirkmächtigen Vertreters des deutschen Protestantismus. Umso mehr ist zu bemerken, dass 2019 gleich zwei Graduierungsschriften seinem Leben und Werk gewidmet sind. Zunächst sei hier auf die Arbeit von Fabian F. Grassl verwiesen, der damit 2017 an der Queens University in Belfast, Nordirland, promoviert wurde. Der Titel verweist auf ein zentrales Thema Thielickes in der Anthropologie wie auch auf die persönliche Prägung durch die Erfahrung schwerer Krankheit. »Im Angesicht des Todes« lautet denn auch der Titel der ihm von der Hamburger Fakultät anlässlich der Vollendung seines 60. Lebensjahres gewidmeten Festschrift. Seine jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Tod als Thema einer christlich fundierten Anthropologie wurde 1980 noch einmal unter dem Titel »Leben angesichts des Todes« (Stuttgart) publiziert. Die drei weiteren Begriffe der Titelformulierung entsprechen allerdings der inhaltlichen Schwerpunktsetzung des dreigeteilten Werkes nicht völlig.
G. handelt in einem ersten Teil die Biographie des Gelehrten ab und nimmt dabei Bezug insbesondere auf dessen autobiographisches Schrifttum, ergänzt durch Archivfunde und lose eingestreute Hinweise auf zeitgenössische Positionen. Es ist überschrieben mit »Life« und handelt die Biographie Thielickes aufgrund seiner Wegleitung in den erwähnten Schriften um den Fokus der äußersten Lebensbedrohung und »Wiedererweckung« am Karfreitag des Jahres 1933 ab. Dazu greift G. etwas unvermittelt auf die Formulierung Sören Kierkegaards »Krankheit zum Tode« zurück und erkennt in der Schilddrüsenkrankheit einen Brennpunkt der intellektuellen Biographie des Gelehrten. Dessen weiteres Leben fokussiert er auf die Erfahrungen Thielickes im sogenannten »Dritten Reich«. Über die langen Jahre größter beruflicher Belastung und extensiver Publizistik findet sich hingegen kaum etwas. So bleibt das Leben des Hamburger Theologen eigentümlich asymmetrisch.
Im zweiten größeren Abschnitt handelt er die Theologie Thie-lickes ab und konzentriert sich darin auf die bewusste Hinwendung zum evangelischen Erbe Martin Luthers sowie auf die Brennpunkte der Pneumatologie, der Trinitätslehre und des Christuszeugnisses, ohne Zweifel zentrale Themen des dogmatischen Entwurfes aus den 50er und 60er Jahren. Die lose Verbindung mit zeitgleich veröffentlichenden Theologen wird durch einschlägige Zitate belegt, aber systematisch nicht weiter verfolgt. Die Aufnahme des wirkmächtigen Buches von Jürgen Moltmann »Der gekreuzigte Gott« (München 1972) mutet in diesem Kontext jedoch befremdlich an, ist doch Thielickes Hegelrezeption sehr weit von der politisch instrumentalisierten Theologie des Tübinger Systematikers entfernt. Das ist auch im Blick auf die Verwendung dialektischer Modelle in Bezug auf Thielickes Theologie anzumerken. Dessen philosophische Wurzeln liegen in geschichtsphilosophischen Entwürfen der Aufklärung und der frühen idealistischen Philosophie, gewiss aber nicht in der Analogie zu linkshegelianischen Entwürfen. Darin dürfte auch die Tragik der akademischen Biographie Thielickes liegen, der mit profundem Wissen und Selbstbewusstsein die zum Teil radikal und provokant vorgetragenen Forderungen der rebellierenden Studierenden nicht aufzunehmen geeignet und bereit war.
Der dritte Teil nimmt sodann die Wirkung Thielickes als Prediger in den Blick. Diesmal mit lateinischen Kapitelüberschriften entwirft G. eine dreigeteilte Skizze der Entwicklung des berühmten Kanzelredners a) in der Zeit des Todes unter besonderer Berücksichtigung seines unerschrockenen Einstehens für die evangelische Verkündigung in der Zeit des Nationalsozialismus, b) im Blick auf die seelsorgerlich-pastorale Herausforderung einer Zeitansage im Licht des Evangeliums insbesondere in der Nachkriegszeit, und schließlich mit Blick auf den seelsorgerlichen Auftrag des evangelischen Predigers.
Der Rezensent legt das Buch mit zwiespältigem Eindruck zur Seite. Zunächst einmal erschließt es der englischsprachigen Welt, die immer weniger deutsche Texte zur Kenntnis nimmt, in hervorragender Weise das Gesamtwerk des Theologen. G. hat zahlreiche Übersetzungen von Werken Thielickes aufgespürt und auch deutschsprachige Quellenausschnitte selbst übersetzt. Ob er damit einem revival der theologischen Position des Nachkriegstheologen in der englischsprachigen Welt zuarbeiten will? Die Intention des Buches wird hier nicht recht deutlich.
Die systematische Rekonstruktion wirkt gewollt und künstlich, die biographische Skizze lässt jeglichen Ansatz historischer Kritik vermissen. Die zwei Vorworte, die dem Druck beigefügt wurden, wirken eigenartig legitimatorisch: Timothy Wengert, international bekannter Spezialist für die Theologie Philipp Melanchthons, lobt das Buch wegen der aufgewiesenen Nähe zur reformatorischen Theologie. Wolfram Thielicke, einer der Söhne des prominenten Theologen, dankt für die gelungene Erinnerung. Dass Theologie, insbesondere die öffentlich performierte, nicht selten ihren Quellgrund in der Biographie ihres jeweiligen Vertreters hat, ist ebenso banal wie zutreffend. Warum aber, und in welcher Zuspitzung die Zeitumstände bei Thielicke zu einer biblisch gegründeten, struktur-konservativen Theologie und einer eher in Kreisen des Nachkriegsbürgertums und weniger bei den aufbegehrenden Intellektuellen und Revolutionären der 68er-Bewegung ihre Wirkmacht entfalten konnten, vermag die fleißige Arbeit nicht zu beantworten. Möge sie so gelesen werden, dass sie den Weg zur Lektüre der Originalschriften eröffnet und nicht durch vorschnelle Systematisierungen verstellt.
Die zweite in diesem Zusammenhang zu erwähnende Studie stammt von David Scherf. Er ist damit 2017 in Osnabrück unter Betreuung von Arnulf von Scheliha promoviert worden und rekonstruiert einen Teilausschnitt der Theologie von drei evangelischen, näherhin lutherischen Nachkriegstheologen und trägt damit in erheblichem Maße zu deren Kontextualisierung bei. Die Auswahl dieser drei Protagonisten des Nachkriegsprotestantismus in Deutschland begründet S. mit deren Umgang mit repressiven Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes der dennoch offensichtlich zu unterscheidenden Theologen. Der Höhepunkt ihrer theologischen Produktion lag bei Ernst Wolf zwischen den 40er und 50er Jahren, in den 50er und 60er Jahren bei Helmut Thielicke und schließlich den 60er und 70er Jahren bei Carl Heinz Ratschow. Die innerhalb der genannten Zeitrahmen große wissenschaftliche Publikationstätigkeit der drei Theologen wird als Ausweis ihrer nachhaltigen Wirksamkeit verstanden. Diese öffentliche Wahrnehmung steht in einem eigentümlichen Gegensatz zu ihrer Nachwirkung in den Jahren nach der sogenannten »Studentenrevolte« und deren Folgen für die Bildungsreformen in den 70er und 80er Jahren, welche die Strukturen akademischer Tätigkeit grundlegend veränderte. Einen weiteren Grund, sich mit diesen drei Theologen zu beschäftigen, er­kennt S. darin, dass ihren theologischen Entwürfen bisher kaum eine zu­sam­menhängende Würdigung zuteilwurde.
Die Untersuchung fragt nach der sozial-ethischen Zuspitzung und Anwendung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als Indikator einer modernitätstauglichen Transformation evangelischer Theologie im Anschluss an Martin Luther. Im Sinne einer beschreibenden Rekonstruktion mag diese These ihren Zweck erfüllen. Es wäre aber doch zu fragen, inwieweit die Transformation der von Luther vor allem bibelhermeneutisch verstandenen Unterscheidung im Dienste der Schriftauslegung verstandenen dialektischen Akzentuierung die Inanspruchnahme des Reformators und seines Erbes zu Recht vornimmt. Die Rekonstruktion der theologischen Entwürfe von Ernst Wolf, Helmut Thielicke und Carl Heinz Ratschow stellt in drei Kapiteln den Hauptteil der Arbeit dar, wobei der Position des Hamburger Systematikers Thielicke der größte Raum zukommt. Die Untersuchung wird durch einen knappen Abschnitt eröffnet, in dem einleitend die Fragestellung auch terminologisch reflektiert, der Forschungsstand skizziert und das Vorgehen knapp erläutert wird. Das erste Kapitel thematisiert die Frage nach einer sozialethischen Interpretation des G egensatzes von Gesetz und Evangelium exemplarisch für die (Vor-)Kriegszeit bei Werner Elert, Karl Barth und Paul Althaus, denen für die späteren Theologengenerationen eine große Wirkmacht unterstellt wird. Den Abschluss der Untersuchung bildet ein zusammenfassender Ausblick auf die exemplarische Bedeutung der behaupteten Transformation der dogmatischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in den sozialethischen Kontroversen der Nachkriegszeit. Verzeichnisse zur verwendeten Li­teratur sowie zu Personen und Sachen schließen die flüssig geschriebene und wohltuend knappe Erörterung von 297 Seiten ab.
Die sozialethische Zuspitzung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in den 30er Jahren und damit zum größten Teil im Schatten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft rekonstruiert S. in der Spannung zwischen zwei theologischen Erklärungen bzw. Bekenntnistexten zwischen den Erlanger Theologen Elert und Althaus im Ansbacher Ratschlag und dem zunächst noch in Bonn lehrenden Karl Barth und der maßgeblich von ihm beeinflussten Barmer Theologischen Erklärung. Nichts weniger als eine theologische Haltung zum Nationalsozialismus kommt in dem Ansbacher Ratschlag zum Ausdruck, der durch den bloßen Hinweis auf die konfessionellen Unterschiede der Protagonisten nicht hinreichend erklärt wird. Vielmehr werden drei durchaus unterschiedliche theologische Entwürfe im Umgang mit der zeitgenössischen Gegenwart sichtbar, die dann durch die drei Nachkriegst heologen fruchtbar aufgenommen und kritisch weitergeführt wurden. Die ambivalente Haltung von Elert und Althaus zum nationalsozialistischen Gedankengut wird nicht verschwiegen, allerdings nicht so wie in den jüngeren Forschungen beispielsweise von Berndt Hamm akzentuiert. Die positionelle Spannung zwischen den Bekenntnistexten von Ansbach und Barmen lässt aber die Notwendigkeit einer weiteren Bearbeitung der sozialethischen Grundfrage nach dem Umgang mit gottfeindlichen Regimes un­abweisbar werden.
Die drei Hauptkapitel sind allesamt nach dem gleichen Gliederungsprinzip aufgebaut. Ein einleitendes Kapitel skizziert die Biographie, das Werk und den Forschungsstand des jeweiligen Theologen. Sodann folgt eine Rekonstruktion des theologischen Entwurfs im Fokus der Frage nach der Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Den Abschluss bildet schließlich ein Kapitel zur sozialethischen Zuspitzung in der jeweils zeitgeschichtlich aktuellen Diskurs- und Debattenlage. Im zweiten Kapitel wird zunächst Ernst Wolf und sein theologischer Entwurf in der Spannung zwischen Evangelium und Gebot erläutert, deren Ausgestaltung sehr stark an Karl Barth und die Grundannahmen der Barmer theologischen Erklärung erinnert. S. möchte zeigen, dass Ernst Wolf doch über die Position von Barth und Barmen hinausgeht, indem er das Barthsche Schema von Form und Inhalt des Evangeliums in seiner Vorrangstellung gegenüber dem Gesetz zu­gunsten einer stärkeren Verzahnung von Evangelium und Gebot auf formaler Ebene sieht. Außerdem streicht Wolf das Gesetz ganz aus seiner Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gebot. Das Gesetz ist danach dasjenige, was der Mensch aus dem Gebot macht, indem er dessen Maßgaben zum Gegenstand der eigenständigen Rechtfertigung werden lässt. Damit gerät er in formaler Hinsicht in die Nähe der dreigliedrigen Analyse von Althaus, die weiter unten näher erläutert wird. Entscheidend für Wolfs theologische Positionierung ist die Erfahrung der »Macht- und Sprachlosigkeit von Theologie und Kirche während der nationalsozialistischen Herrschaft«, die aus der Verbannung von Religion und Kirchlichkeit in den Raum privater Persönlichkeitsentfaltung resultiert (99 f.). »In der Nachkriegszeit mussten Theologie, Kirche und einzelner Christ […] erst wieder lernen, dass sie auch einen nicht unwesent-lichen öffentlichen Auftrag aus ihrem Glauben empfangen ha-ben.« (101) In der soteriologischen und offenbarungstheologischen Grundierung dieser Überlegungen von Ernst Wolf deuten sich durchaus Analogien zum Ansatz von Helmut Thielicke an.
Dessen grundlegend lutherische Perspektive hat u. a. auch in den akademischen Lehrern Rudolf Hermann und Paul Althaus ihren Grund. Obwohl Thielicke auch Barth gehört hatte, konnte er sich mit dessen Theologie nicht recht anfreunden. War doch für ihn die Grundunterscheidung von Gesetz und Evangelium von dem Gedanken der Geschichtlichkeit des Heilshandelns Gottes mit dem Menschen unlösbar verbunden. »Gesetz und Evangelium haben ihren Ort […] im Zusammenhang der Rechtfertigung des Menschen und der Konstitution des ethischen Handlungssubjekts.« (183) Nach Thielicke sei die dialektische Spannung von Gesetz und Evangelium im Worte Gottes und allein im Glauben aufzuheben. »So kann seine soteriologische Anlage von Gesetz und Evangelium als Synthese der Konzepte von Paul Althaus und Werner Elert betrachtet werden.« (183) Anders allerdings als die Erlanger Theologen konzentriert Thielicke seine offenbarungstheologische Grundannahme auf die alleinige Offenbarung in Christus, die eine Offenbarung in der Schöpfungsordnung schlechterdings ausschließt. Die Betonung der Geschichtlichkeit der Offenbarung ist nach S. unlösbar mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium verbunden. Thielicke grenzt sich gleichermaßen gegen die Ungeschichtlichkeit des Barthschen Entwurfs wie gegen existentialistisch geprägte Positionen etwa Rudolf Bultmanns ab. Der Gegensatz von Gesetz und Evangelium wird zur Deutekategorie der Lebenswirklichkeit, die freilich auch »die Möglichkeit der freien, handelnden Zuwendung an Welt und Mitmensch bieten.« (186) Daraus resultiert auch die Würdigung des demokratischen Rechtsstaates als christlich legitim, der er mit der öffentlichen Verkündigung und Lehre zu genügen versucht.
Als dritten und jüngsten Repräsentanten des evangelischen Nachkriegsprotestantismus lutherischer Prägung benennt S. Carl Heinz Ratschow. Wiewohl durchaus produktiv, hat er kein monographisch gefasstes Œuvre hinterlassen, sondern vielmehr in Aufsätzen und durch die Anregung und Herausgeberschaft wichtiger theologischer Überblickswerke gewirkt. Dazu kommt eine große Zahl an akademischen Schülern und Schülerinnen, die das von früh an bestehende akademisch-kirchliche Netzwerk prägten. Auch seine theologische Positionierung vollzieht sich als »konsequenter Antwortversuch auf die von ihm diagnostizierten Probleme seiner Zeit.« (248) Dabei weitete er den Blick von der christlichen Theologie und Kirche hin zu einer umfassenden Wahrnehmung von Religion. In ihnen ereignet sich das Hereingehen Gottes in die Weltwirklichkeit. Diese menschliche Wirklichkeit deutet Ratschow mit Hilfe der dialektischen Spannung von Gesetz und Evangelium. Sein Interesse ist dabei weniger von sozialethischen Problemstellungen beeinflusst als vielmehr in der dogmatischen Funktion, die dieser Gegensatz im Kontext der Rechtfertigungslehre als Ausdruck des glaubenden Menschen wahrnimmt. Dabei bleibt er gleichermaßen in der materialdogmatischen Durchführung wie in der ethischen Konkretion »recht vage«; »als Deutekategorie der Wirklichkeit des Menschen lösen Gesetz und Evangelium in der Ausführung Ratschows als An­fechtung und Evangelium in Verbindung mit dem Eingehen der Gotteswirklichkeit in die Weltwirklichkeit die ordnungstheologischen Entwürfe der Vorgängerkonzeptionen ab.« (249) Gemeinsam ist allen Positionen dennoch die Wahrnehmung Gottes und seines Handelns im konkreten, geschichtlichen Erleben der Zeit, die den Menschen freilich nicht zum gottesfürchtigen Handeln zwingt, sondern in die Anfechtung führt. Sie tritt an die Stelle des sündenoffenbarenden Gesetzes, freilich in gleicher Funktion. S. erblickt hierin ein Spiel »mit der klassisch lutherischen Gegenüberstellung von Deus absconditus und Deus revelatus.« (250) Zugleich wird dieser Gegensatz auch zum Deutungsansatz anderer, nichtchristlicher Religionen.
Im zusammenfassenden und weiterführenden fünften Kapitel gelangt S. zu der Einsicht, dass die drei Positionen »eine entscheidende Gemeinsamkeit auf(weisen): sie bewegen sich zwischen Deuten und Handeln.« (256) Auch wenn der Begriff nicht fällt, holt S. damit auch die genuin lutherische Grundlegung als hermeneutische Kategorie wieder ein. Zugleich wird deutlich, dass und wie das theologische Motiv unter den Bedingungen der Zeitgeschichte konkrete Ausformulierung erfährt, die bei allen drei behandelten Theologen bereits in der Erfahrung nationalsozialistischer Repression ihren Ausgang finden. Die Deutekategorie Gesetz und Evangelium wird zu einem konkreten Bewältigungsinstrument der Wirklichkeit. Ihr eignet damit – explizit wie implizit – ein sozialethischer Impetus. Der abschließende Versuch einer Reformulierung von Gesetz und Gegenwart wird bei S. dazu verwandt, die notwendige Übersetzungsarbeit theologischer Grundwahrheiten in die Sprache und das Empfinden der jeweiligen Zeitgenossen zu fordern. Explikation und Aktualisierung sind dabei die Pole eines Spannungsfeldes, das auch mit Gesetz und Evangelium oder Deuten und Handeln beschrieben werden kann. Als gravierende theologische Themenfelder benennt S. dabei die Notwendigkeit, mit dem völligen Fehlen eines Sündenverständnisses und seiner exis-tentialen Wahrnehmung umzugehen, sodann die Transformation der dogmatischen Formel in Begriffe wie »Freiheit« und »Menschenwürde« sowie die Annäherung an weitere Leitbegriffe der Mo­derne und deren handlungsorientierende Funktion. Die uneingeschränkte Anerkennung des Menschen wird zur Ermöglichung tätiger Freiheit. S. nimmt die Problematik einer Neubewertung dessen, was in den 20er Jahren als »Zwei-Reiche-Lehre« verhandelt wurde, durchaus wahr. Ihre transformierende Interpretation wird nur möglich, wenn sich die Theologie anderen Disziplinen, wie etwa der Reli-gionssoziologie, öffnet.
Beide Graduierungsarbeiten rufen zunächst die wortmächtigen Vertreter des Nachkriegsprotestantismus in Erinnerung, verweisen aber zudem auf Engführungen und Aporien der von S. konzipierten Untersuchung. Sie erscheint dabei nicht nur als Weiterführung, sondern auch als innovative Neuformulierung traditioneller Lehrüberzeugungen der durch die Epochenzäsur des National-sozialismus ohnehin kaum bruchlos durchzuführenden theologischen Arbeit. Die systematischen Rekonstruktionen durch ihre Verfasser werfen ein mögliches und phasenweise durchaus plausibles Bild auf die Positionen von Ernst Wolf, Helmut Thielicke und Carl Heinz Ratschow. Insofern beide Arbeiten die zeithistorischen Einflüsse zwar benennen, aber ihnen nicht weiter nachgehen, bleibt der Abbruch dieser Traditionen in den 70er Jahren letzt-lich ungeklärt. Auch die zeitgleiche Wiederentdeckung der Ge­schichte als Offenbarungsbestand (Pannenberg), die hegelianische Geschichts- und Weltdeutung (Moltmann, Jüngel) sowie die aus dem angelsächsischen Sprachbereich heranziehende pragmatis-tische Welt- und Wirklichkeitsdeutung (Herms, Deuser, Moxter) u. a. m. kommen nicht zur Sprache, obwohl sie inhaltlich in den Ausführungen immer mal wieder aufblitzen (könnten). Die Arbeiten treten in der für die Systematische Theologie der vergangenen Dezennien typischen Zwittergestalt eines systematischen Entwurfs und dessen historischer Herleitung auf. Das befriedigt letztlich nicht, sondern provoziert weitere Forschung und weiteres Nachdenken. Das wäre nun freilich nicht das Schlechteste, was diesen Untersuchungen geschehen könnte: Ihre Nutzbarmachung im Kontext theologischer Entwürfe im Angesicht der (Post-)Moderne. Dieser Epochenzuschnitt wird von manchen Zeitgenossen als ebenso dramatisch wahrgenommen wie die Frage, ob Theologie nach Auschwitz überhaupt noch möglich sei. Die weiterführende Interpretation wird klären müssen, was die bearbeiteten theologischen Entwürfe zu dieser Frage in der unmittelbaren Nachkriegszeit und angesichts der Herausforderungen des beginnenden dritten Jahrtausends beitragen konnten. Dazu verhalten sich die Arbeiten freilich noch als Vorüberlegungen, denen die theologische Konkretion noch erst folgen muss.