Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

708-711

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hamm, Berndt

Titel/Untertitel:

Spielräume eines Pfarrers vor der Reformation. Ulrich Krafft in Ulm.

Verlag:

Ulm: Stadtbibliothek Ulm 2020. 471 S. m. 33 Abb. = Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Ulm, 27. Geb. EUR 39,80. ISBN 9783946561026.

Rezensent:

Martin Ohst

Nur selten liest man dickleibige gelehrte Werke, die derart von der Begeisterung für ihren Gegenstand durchpulst sind, wie Berndt Hamms neuestes opus magnum über den Ulmer Münsterprediger Ulrich Krafft (ca. 1455–1516), der seine umfangreiche Büchersammlung seiner Vaterstadt vermachte und damit deren Stadtbibliothek begründete. Deren 500-jähriges Jubiläum gab Berndt Hamm den Anstoß, sich mit diesem Vermächtnis und dem Erblasser für einen Festvortrag zu befassen, und daraus ist dann das vorliegende Buch erwachsen. Es spiegelt insofern seine Entstehungsgeschichte wider, als es bei der Beschreibung dieses Grundstocks der Ulmer Stadt-bibliothek einsetzt und aus ihr eine erste Umrisszeichnung von Kraffts intellektuellem Profil gewinnt. Der gelehrte, humanis-tisch gebildete Jurist war auch theologisch hoch gebildet; er investierte viel Geld in die damals erscheinenden neuen Editionen der antiken wie der christlichen Klassiker, aber auch in tagesaktuelle Literatur. Dass dieses Besitztum als intellektuelles Handwerkszeug diente, bezeugen zahlreiche Marginalien. In Krafft vereinten sich also erwachendes Geschichtsbewusstsein und ein teilnehmender Blick auf die eigene Gegenwart, humanistisches und scholastisches Wissenschaftsethos, Jurisprudenz und Theologie – in der entschlossen ak­zeptierten praktischen Verantwortung für das eigene Gemeinwesen und dessen Annäherung an die ihm vorgegebene Sollgestalt.
Von hier aus geht H. auf die Lebensgeschichte seines Protago-nisten zurück. Dieser entstammte der führenden Patrizierfamilie Ulms und wuchs in einer großen Geschwisterschar auf – zwei seiner Brüder wurden später hingerichtet; einer von ihnen hatte an­scheinend in einem Konflikt das Recht in die eigenen Hände genommen (318). – Den Traditionen seiner Vorfahren mütterlicherseits folgend, nahm er wohl schon fünfzehnjährig das allgemeinverbindliche Artes-Studium in Basel auf und widmete sich dann der Jurisprudenz – nach der Gründung der dortigen Universität in Tübingen und dann in Pavia, wo er mit der Doktor-würde die höchste akademische Qualifikation erwarb. Virtuos verknüpft H. die Rekapitulation von Kraffts akademischem Werdegang mit der Rekonstruktion seiner geistigen Welt, wie sie in seiner Bibliothek dokumentiert ist – es ist überhaupt ein Charakteris-tikum dieses Buches, dass H. durch ein dichtmaschiges Netz von Verweisen auf die einzelnen Informationen in immer neuen Konfigurationen immer neues Licht wirft. 1484/85 kehrte Krafft nach Tübingen zurück – als Ordentlicher Professor, und mit seiner Einsetzung als Rektor für das Sommersemester 1485 ist dann für seinen weiteren Lebensgang ein chronologischer Fixpunkt gegeben. In Tübingen erschloss sich ihm mit seinem theologischen Kollegen Gabriel Biel der Zugang zu einem informellen Kreis spätscholastischer Theologen, die bei spätfranziskanischer/»ockhamistischer« Grundorientierung auch anderen theologischen Schulrichtungen offen gegenüberstanden und sich auch humanistischen Impulsen keineswegs verschlossen; besonders eng waren Kraffts Berührungen mit zwei weiteren Männern, die als gelehrte Juristen zugleich K irchenämter mit Seelsorgepflichten ausübten, nämlich zu dem Basler Professor und Pfarrer Ulrich Surgant sowie zu Johannes Geiler von Kaysersberg, der Professor in Freiburg gewesen war, be­vor er jahrzehntelang als Prädikant am Straßburger Münster wirkte und auch literarisch die seelsorgerlichen und reformerischen Impulse Johannes Gersons im deutschen Sprachraum zur Wirkung brachte.
Was die theoretischen und praktischen Aktivitäten dieser Männer zentrierte, war das Streben nach einer Theologie, die Predigt und Seelsorge für eine effektive Erziehungs- und Bildungsarbeit zurüstete – mit dem Ziel, Menschen zu einer Lebenshaltung zu verhelfen, die den Himmel verdiente, indem sie das Leben auf Erden lebenswert gestaltete. Die Träger dieser von H. schon seit seiner Habilitationsschrift als »Frömmigkeitstheologie« bezeichneten Spielart praxisorientierter spätmittelalterlicher Intellektualität standen zwar als Priester oder Mönche persönlich am Rande des bürgerlichen Sozialgefüges, waren ihm jedoch nicht nur durch ihre Herkunft, sondern auch durch ihre Mentalität und durch die Zielsetzungen, die sie verfolgten, eng verbunden – sie standen, rückblickend betrachtet, an der Schwelle, die überschritten wurde, als der Pfarrer auch rechtlich vollgültig zum Ehemann und Familienvater und damit vollends zum Bürger (Bernd Moeller) wurde.
Zurück zu Krafft: Der folgte 1492 einem Ruf nach Freiburg und von dort einem weiteren nach Basel (1495); auch hier hatte er jeweils für ein Jahr das Amt des Rektors inne. 1501 kehrte er in seine Vaterstadt zurück – als Pfarrer. Auf höchst erhellende Weise zeichnet H. das Profil dieser singulären Pfarrstelle: Sie war nicht nur fürstlich do­tiert, sondern sie war mit einer wohl einmaligen Fülle von geistlichen und weltlichen Zuständigkeiten verbunden, die von ihrem Inhaber genau das juristische Kompetenzprofil forderte, das Krafft mitbrachte. Im Gegenzug stand es dem Pfarrer frei, die mit der Pfründe verbundenen Predigt- und Seelsorgeverpflichtungen wei­t-gehend zu delegieren: Hierfür standen fünf »Helfer« bereit. Die hatten sicherlich auch in Kraffts Amtszeit genug Arbeit, aber es war eine im Vergleich mit seinen Vorgängern hervorstechende Besonderheit seiner Amtsführung, dass er selbst viel predigte und in seine Predigtarbeit viel Mühe investierte. In Kraffts Person durchdrangen einander so die stadtpolitische Verantwortung des juris-tisch gebildeten Patriziers und der erzieherisch-seelsorgerliche Impetus des »Frömmigkeitstheologen«. Er predigte Gottes überschwängliche Gnade, die es dem Menschen fast schon unmöglich mache, das wahre Ziel seines Lebens, die ewige Seligkeit, zu verfehlen – wenn er denn nur seinen durch die Sünde ja nicht beeinträchtigten Verstand anstrengen und bedenken wolle, welche Ver haltensweisen seinem wahren, wohlerwogenen Eigeninteresse zuträglich seien. Und in dieser Fluchtlinie konnte er dann auch bruchlos darlegen, was das für die alltägliche Lebensführung in der prosperierenden Reichsstadt bedeute, nämlich das verständige Sicheinfügen in die Ordnungen des städtischen Lebens und die Bekämpfung von sozialinadäquaten Neigungen und Trieben: Das »städtische Ethos« in seiner Interpretation durch den hochgebildeten Aristokraten verleiht den christlichen Tugendidealen konkreten Gehalt (vgl. 108 f.). In dieser mit geistlichem Anspruch fundierten und zugleich das Weltleben aus einer grundsätzlich optimis-tisch-wohlwollenden Perspektive ins Auge fassenden Funktion bezeichnet H. Ulrich Krafft leitmotivisch als den »religiösen Dirigenten« (zentral 220–222) seiner Vaterstadt. Das Pult dieses Dirigenten war die Kanzel, die Partitur, mit der er arbeitete, war das als Leitdokument der veritas catholica der fides implicita vor- und aufgegebene Bibelbuch, und als Taktstock diente ihm deren allegorische Auslegung, die es dem Prediger einerseits ermöglichte, das, was er und seine Hörer längst schon wussten und kannten, in jedem Vers des heiligen Buches wiederzufinden, und beide anderseits wirksam vor der Gefahr beschützte, dass ein Bibeltext sie zu verstörenden, aufwühlenden Gedanken hätte verleiten können.
Die Aufzeichnungen zu zwei großen Predigtzyklen wurden nach Kraffts Tode gedruckt, und damit ist Krafft, wie H. mehrmals betont, der bislang einzige in der Forschung bekannte spätmittelalterliche Pfarrer, von dem damals Predigten im Druck erschienen sind (zu den Einzelheiten der Publikations- und Druckgeschichte: 69–92). Diese Predigten sind nicht nach der Perikopenordnung in sonn- oder feiertäglichen Messgottesdiensten gehalten worden – ihr liturgischer Rahmen und ihr Ort im Wochen- und Tageszyklus sind wohl noch zu ermitteln. Predigtgeschichtlich dokumentieren sie also die seit dem 13. Jh. zu beobachtende wechselseitige Durchdringung von Bettelordenspredigt und Pfarrpredigt.
Bei dem Zyklus »Der geistliche Streit« handelt es sich um 33 Predigten aus der Fasten- und Osterzeit des Jahres 1503 über frei gewählte Texte: Christus, der Hauptmann, als dessen Sprecher der Prediger fungiert (107), führt seine Kriegsknechte/Söldner, die Predigthörer/-leser, in den Kampf gegen die eigene Sinnlichkeit, die Verlockungen der Welt und die Anschläge des Teufels; der Siegespreis ist die ewige Seligkeit. Feinfühlig zeigt H., worin die Besonderheiten von Kraffts Aneignung dieses vielbenutzten Bildmusters bestehen, besonders lehrreich ist der Vergleich mit Zwingli (102 f.). Vom Frühjahr 1514 bis in den Januar 1515 hat Krafft in 45 Predigten die Sintflutgeschichte ausgelegt. Die »Arche Noe« symbolisiert das Lebensschiff, das ein jeder Mensch für sich selbst zu zimmern hat, um mittels seiner sicher die Wasserwüste der Sünde und des Todes zu überqueren und wohlbehalten an seinem Bestimmungsort, im ewigen Leben, anzukommen. H. arbeitet heraus, dass diese Beanspruchung des Textes auslegungsgeschichtlich singulär dasteht: Herkömmlicherweise (bis in die reformatorische Liederdichtung: EG 245,3) steht die Arche als Sinnbild für die Kirche, d. h. für den Inbegriff all dessen, was Gott zur Rettung der Menschheit aus der Sünde unternimmt; für Krafft hingegen steht Noah als der exemplarische Christenmensch im Mittelpunkt, weil er tut, was Gott ihm befiehlt, und sich auf diese Weise das ewige Leben erwirbt. Dazu gehört natürlich auch die Erfüllung der spezifisch kirchlichen Verhaltensmaßregeln bzw. die Inanspruchnahme der kirchlichen Hilfsangebote – aber all das scheint für Krafft und seine Hörer eine unproblematische Gegebenheit gewesen zu sein, die deshalb keiner besonderen apologetischen oder aggressiven Betonung be­durfte – bezeichnend ist, dass in beiden Predigtzyklen das Papstamt insgesamt nur einmal erwähnt wird (317). Diese Leerstelle ist also kein Indiz für kritische Distanz, sondern signalisiert vielmehr selbstverständliche Geborgenheit von Prediger und Hörern in den nun einmal gegebenen Ordnungen der Kirche: Weil sie allgemein als zuverlässige Grundlagen und Leitlinien der Lebensgestaltung akzeptiert sind und funktionieren, müssen sie eben, anders als zu anderen Zeiten, nicht unentwegt eigens thematisiert werden.
H. hat diese beiden Predigt(zykl)en nicht nach ihrem jeweiligen Aufbau und ihren Spannungsbögen rekonstruiert, sondern er hat sie als Material verwendet, um aus ihnen ein Gesamtbild von Kraffts Denken zu gestalten. Dieses Gesamtbild hat sein organisierendes Zentrum im Gottesbild. Hier überwiegt die schenkende, grundlose Güte. Sie allein hat Welt und Menschheit geschaffen und den Menschen mit der schlechterdings unverlierbaren Freiheit ausgestattet, sich zu gewinnen oder sich zu verfehlen (»unzerstörte Grundgüte der menschlichen Natur und ihrer geistigen Seelenkräfte, auch nach dem Sündenfall Adams und Evas« [265 f.]). Die (lohnende und) strafende Gerechtigkeit ist diesem prius gegenüber das posterius. Letztlich markiert sie eine Schranke, die es schwer macht, von Gottes Allmacht zu sprechen: Den Menschen, der sich trotz aller Hilfen und Konzessionen weigert, das ihm von Gott zugedachte Heil sich anzueignen, »kann« Gott nicht retten; er »muss« ihn zu seinem eigenen Bedauern der ewigen Verdammnis preisgeben. Sicher, Krafft, zumindest durch seinen Tübinger Kollegen Gabriel Biel mit der spätfranziskanischen Schultheologie vertraut, war zweifelsohne so versiert, dass er damit den Gedanken der Allmacht Gottes begriffstechnisch zu verbinden wusste: Gott selbst hat kraft seiner potentia absoluta diese Heilsordnung gesetzt und sich durch eine freie Willenssetzung an sie gebunden (potentia ordinata). Trotzdem: Die Frömmigkeit, die sich hier artikuliert, rechnet geradezu verständig mit einem grundsätzlich freundlichen, fast schon partnerschaftlichen Gott, der von seinen freien Geschöpfen nicht mehr verlangt, als von ihnen billigerweise (meritum de congruo als geistliches Papiergeld: 353 f.!) erwartet werden kann, und mit dem man es sich nur schwer unwiderruflich zu verderben vermag. Ein Religionsphilosoph, der projektionstheoretischen Denkmustern folgt, würde hier wohl die quantitativ höchstgesteigerte Wunschvorstellung eines patriarchal-wohlwollenden Stadtregiments identifizieren, das deshalb finster mit drakonischen Strafen dräut, weil es ihre Anwendung möglichst vermeiden will. Das Verstörende, das Irrationale im Gedanken an den allbedingenden Unbedingten war dem Herkunfts- und Geistesaristokraten auf der Münsterkanzel ebenso fern wie das Erschrecken über sich selbst, das einen Menschen ankommen mag, wenn er seiner selbst angesichts Gottes und der Ewigkeit ansichtig wird. Und so malen Kraffts Predigten ein Himmel und Erde, Fegefeuer und Hölle umfassendes Gesamtverständnis von Wirklichkeit, dessen verständige Geschlossenheit unerschütterlich scheint – solange es nicht mit Fragen konfrontiert wird, die in ihm keinen Platz haben. H. hat diesen Vorstellungs- und Gedankenkosmos rekonstruiert, und er hat seiner Rekonstruktion durch immer neue synchrone und diachrone Kontextualisierungen ein bislang wohl einmaliges Maß an Tiefenschärfe verliehen. Auf diese Weise ist er schließlich auch dem Menschen in und hinter dem Werk ganz nahe gekommen (398–406). Das kann man in einer kurzen Besprechung nicht angemessen wiedergeben – dafür kann man ihm nur danken.