Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

508–510

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Mendelssohn, Moses

Titel/Untertitel:

Dokumente II. Die frühen Mendelssohn-Biographien. Bearb. von M. Albrecht. Mit Isaaks Euchels Mendelssohn-Biographie, übers. und mit einer Nachschrift von Reuven Michael.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstadt: Frommann 1998. XXVI, 444 S. gr.8 = Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, 23. Lw. DM 295,-. ISBN 3-7728-1520-0.

Rezensent:

Harald Schultze

Die Moses Mendelssohn-Jubiläumsausgabe wird um einen weiteren Supplement-Band bereichert. Michael Albrecht hat biographische Texte höchst unterschiedlicher Struktur aus den Jahren 1786-1827 kritisch gesichtet und in einer umfassenden Auswahl herausgegeben; vorgeschaltet sind drei kurze Texte, die vor dem Tode Mendelssohns geschrieben wurden (Friedrich Nicolais Brief an Johann Peter Uz, 1759; Mendelssohns Brief an J. J. Spieß, 1774, und ein kurzes Biogramm von Karl August Kütner, 1781).

Die Einleitung (IX-XXVI) gibt Rechenschaft über die Editionskriterien. Aufgenommen wurden meist kürzere, z. T. auch sehr ausführliche Texte mit originalem Informationswert. Wo deutlich in Abhängigkeit von anderen Informationen nur weitergegeben wurde, was bereits zugänglich war, wird auf den Nachdruck verzichtet. Eine Reihe von Texten werden gekürzt wiedergegeben (z. B. Mirabeau [1787] und David Friedländer [1819]). Außer den sorgfältigen biographischen Nachweisen ist jedem einzelnen Text eine kurze Information über den Verfasser vorangestellt. Zitate aus Mendelssohns Schriften werden unter Hinweis auf die Jubiläumsausgabe nachgewiesen; auf einen eigenen Kommentar wird verzichtet; mit knappen eigenen Anmerkungen werden Hinweise auf in den Texten benannte Personen und Schriften gegeben.

Der Band stellt eine Fundgrube zur Wirkungsgeschichte Mendelssohns dar. Nur wenige der hier gesammelten Texte sind heute in Nachdrucken oder anderen Sammelwerken zugänglich. Die Nachrufe von Friedrich Nicolai in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, von Johann Erich Biester in der Berlinischen Monatsschrift, von Simon Höchheimer und Karl Philipp Moritz, sämtlich im Todesjahr Mendelssohns 1786 erschienen, sind Würdigungen des verehrten Philosophen aus dem unmittelbaren Kreis der Freunde und Gesprächspartner. Sie dokumentieren den hohen Respekt, der Mendelssohn von allen Seiten entgegengebracht wurde und sind zugleich Zeugnisse der Betroffenheit über seinen zu frühen Tod. Mit diesen Nachrufen ist zugleich eine Weichenstellung auch für spätere Arbeiten gegeben: Die Lebensleistung des Autodidakten, die bewunderte Fähigkeit des philosophischen Denkers, schwierige philosophische Einsichten fasslich und in einer hochkultivierten Sprache zu vermitteln, die besondere Bedeutung des Brückenbauers zwischen der eigenen jüdischen Gemeinde und der aufgeklärten Welt des literarischen Deutschland stehen im Mittelpunkt - ebenso wie die ausführliche Würdigung der Persönlichkeit Mendelssohns, der offenbar durch seine Liebenswürdigkeit, seine Sensibilität und seine persönliche Bescheidenheit sich über-all Freunde gemacht hatte. Die Würdigungen Mendelssohns durch Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau, von Gerret Brender a Brandis (Amsterdam) und von Carlo Giovanni Maria Denina (Berlin und Paris) bezeugen europäisches Interesse an der Persönlichkeit Mendelssohns.

Ein Schlüsseltext ist die Gedenkvorlesung "Bei der erneuerten Todesfeier Mendelssohns", die David Friedländer, der Berliner Seidenfabrikant und Schüler Mendelssohns, in der "Gesellschaft zur Beförderung des Edeln und Schönen" in Berlin am 9. Januar 1791 gehalten hat (296-305). Die Würdigung des großen Lehrers und Freundes wird zum Vehikel des eigenen Programms, die bürgerliche Anerkennung der Juden zu befördern. Trotz mehrfacher Bemühungen anderer Aufklärer (z. B. Christian Wilhelm von Dohm 1781) war auch im spätfriderizianischen Berlin die bürgerliche Gleichstellung der Juden noch nicht erreicht. Obwohl eine Reihe junger, begabter und ehrgeiziger Juden sich den Eintritt in die Gesellschaft durch weitgehende Assimilation erkämpften, wirkten die alten Denkmuster fort. Friedländer hat offenbar selbst noch erfahren, was Mendelssohns Lebensweg gezeichnet hatte: das Vorurteil der Gesellschaft, das mit dem Namen des Juden die Vorstellung von Unfähigkeit und Unmoralität verband. Dass die Anerkennung in der Gesellschaft nicht davon abhängig gemacht werden durfte, dass der Jude seiner eigenen religiösen Herkunft untreu wurde, war das erklärte Ziel. Unter diesem Vorzeichen wird die Würdigung Mendelssohns zum Exempel dafür, dass der Jude sich gleichrangig wie die anderen Mitglieder der Gesellschaft zum bewunderten Bürger und Lehrer bilden könne, "daß jeder Mensch, auch der Jude, ein frommer, rechtschaffender, moralisch guter Mensch sein könne, obschon er das höchste Wesen auf eine andere Weise anbete, und obschon er über gewisse, außer dem praktischen Leben liegende, teils übersinnliche, teils historische Wahrheiten, andere Meinungen und einen anderen Glauben habe" (303).

Unter dieser Fragestellung ist es kein Zufall, dass auch in den anderen biographischen Darstellungen die Persönlichkeit des Juden Moses Mendelssohn, der, aus ganz eingeschränkten Lebensverhältnissen kommend, eine Universität nie besuchen konnte, der sich seinen Lebensunterhalt als Angestellter einer Seidenmanufaktur verdienen musste und nie die Freiheit eines Gelehrtensdaseins erwerben durfte - der aber durch seine Begabung, seinen Fleiß und seine Kommunikationsfähigkeit zum gesuchten Gesprächspartner von Philosophen und Schriftstellern wurde, das eigentliche Thema ist. Mit Mendelssohn ist ein Durchbruch erfolgt, der in Deutschland das Urteil über die Juden nachhaltig verändert hat.

Dieser Prävalenz der Würdigung des Menschen Mendelssohn korrespondiert faktisch die Distanz der neuen Generation gegenüber der philosophischen Gedankenwelt Mendelssohns. Obwohl dieser in den "Morgenstunden" noch 1785 sein philosophisches Glaubensbekenntnis durchfor- muliert hatte, fand er damit nur noch die Zustimmung des gebildeten Bürgertums seiner eigenen Generation. Mendelssohn selbst war sich dessen bewusst, dass er seit 20 Jahren kaum noch in der Lage gewesen war, die neuere philosophische Entwicklung mit zu gestalten. Die Kantsche "Kritik der reinen Vernunft" hat er zur Kenntnis genommen, aber nicht mehr diskutiert. Der Spinoza-Streit, dem er eben mit seinen "Vorlesungen über das Dasein Gottes" 1785 noch entgegentreten wollte, wurde von anderen weitergeführt. Die Würdigungen Mendelssohns beziehen sich daher eher respektvoll auf das Verdienst seiner früheren Arbeiten und den Stil seines Philosophierens, rechnen aber nicht mehr mit der Überzeugungskraft seiner Beweise. Salomon Maimons Rückblick aus dem Jahr 1793 (313-322) ist dafür bereits der Beleg. Die späte Würdigung der religiösen Metaphysik Mendelssohns durch den 68-jährigen David Friedländer in seinen Fragmenten von 1818 (385-408) ist kein Gegenbeweis - handelt es sich doch um das Zeugnis des Schülers, der nicht selbst philosophisch gearbeitet hat.

Ein Fundstück von besonderer Bedeutung stellt die "Geschichte des Lebens unseres weisen Lehrers Moses, Sohn des Menachem" von Itzik Euchel aus dem Jahre 1788 dar (102-257), die in diesem Band erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlicht wird. Der Übersetzer Reuven Michael fügt (257-263) eine Charakteristik Euchels an: Itzik (Isaak) Abraham Euchel (1756-1804) stammte aus Kopenhagen, sollte Rabbiner werden, hat sich aber diesem Berufsziel entzogen und intensiv bemüht, das Programm der Aufklärung in seinem eigenen Volk zu fördern, hatte in Königsberg und Berlin in diesem Sinne gewirkt, eine Zeitschrift herausgegeben und Gesinnungsfreunde geworben. 1784 war er Mendelssohn begegnet und von ihm beeindruckt. Seine Biographie hat er in hebräischer Sprache geschrieben, um die Programmatik des Lebenswerkes von Mendelssohn in seinem eigenen Volke zu befördern. Die strenge eigene Bindung an das jüdische Herkommen und die Zielsetzung, den Glaubensgenossen den Zugang zu der Bildungswelt ihrer Umwelt zu erleichtern, waren für Mendelssohn selbst zentrales Anliegen; die Übersetzung des Pentateuch und der Psalmen sowie der Kommentar zum Kohelet sind die Belege dafür. Die Nachrufe zeigten aber, dass Mendelssohn offenbar die stärkere Resonanz im nichtjüdischen Deutschland gefunden hatte, während die strenge rabbinische Tradition des Judentums auch noch in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland solchen Bemühungen eher abweisend gegenüberstand.

Die Brückenbauerfunktion Mendelssohns gegenüber seinem eigenen Volk wird anschaulich in dem Bemühen Euchels, in der Sprachform jüdischer Gelehrsamkeit die Ideen Mendelssohns zu vermitteln. Die Biographie enthält daher nicht nur die Schilderung seines Lebensgangs, sondern außerdem breite Inhaltsangaben zum Streit mit Lavater und Jacobi, vor allem aber zusammenfassende Übersetzungen von Mendelssohns "Jerusalem" (154-223). Da Mendelssohn dieses Werk in deutscher Sprache geschrieben hatte, lag Euchel daran, seine Theorie von jüdischer Religions- und Staatsauffassung unter denen zu verbreiten, die sich die deutsche Sprache noch nicht angeeignet hatten. In diesem Konzept gerade wird der Kontext von Mendelssohns Schritt in die bürgerliche Gesellschaft der Aufklärung deutlicher als an vielen anderen Zeugnissen. Michael Albrecht ist deshalb dafür besonders zu danken, dass er sich des Werkes von Euchel angenommen hat. Die in diesem Band der Jubiläumsausgabe vorgelegte Dokumentation der frühen Mendelssohn-Biographien zeigt jedoch im Ergebnis, dass in den ersten Jahrzehnten nach Mendelssohns Tod eine wirkliche Biographie nicht geschrieben worden ist. Die Hoffnung des Freundeskreises, dass Friedrich Nicolai dieses unternehmen werde, hat sich nicht erfüllt. Die Lebensbeschreibung aus der Feder Itzik Euchels ist zu stark geprägt von der pädagogischen Tendenz, als dass sie wesentlich über die Informationen der anderen Nachrufe hinausgehen würde. - Trotz dieser ernüchternden Einsicht ist den Herausgebern der Jubiläumsausgabe zu danken, dass sie dies Material in solchem Umfang zugänglich gemacht haben.