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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

683-685

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schöttner, Marievonne

Titel/Untertitel:

Der vollkommene Mensch. Zur Genese eines frühchristlich-gnostischen Konzepts.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2019. 300 S. = Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, 61. Geb. EUR 46,00. ISBN 9783402114469.

Rezensent:

Konrad Schwarz

Die antiken christlichen Apokryphen, die auf Koptisch überliefert sind, werden in der deutschsprachigen Forschung eher selten monographisch behandelt. Einen anregenden neuen Beitrag auf diesem Gebiet stellt die Studie von Marievonne Schöttner »Der vollkommene Mensch« dar. Das Buch geht auf eine im Wintersemester 2017/2018 in Würzburg eingereichte Dissertation zurück, die von Bernhard Heininger wissenschaftlich betreut wurde.
Anliegen der Studie ist es, »sich den Anfängen des Motivs ›der vollkommene Mensch‹ zu widmen«, wobei der Blick insbesondere auf die Syntagmen ⲡⲣⲱⲙⲉ ⲛⲧⲉⲗ[ⲉ]ⲓⲟⲥ bzw. ὁ τέλ[ε]ιος ἄνθρωπος gerichtet ist (11). Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf zentralen Textabschnitten aus dem Evangelium nach Maria (EvMar). Darauf folgen Überlegungen zum »Religions- und traditionsgeschichtliche[n] Hintergrund« sowie ein Kapitel über die »Gnostische Rezeption« des Motivs im Evangelium des Judas (EvJud), im Apokryphon des Johannes (AJ) und im Evangelium nach Philippus (EvPhil). Die Auswahl der Schriften wird mit ihrer vermuteten Datierung ins 2. Jh. begründet; zahlreiche weitere, mutmaßlich spätere Schriften mit Verwendungen dieses Motivs – vor allem in den Nag Hammadi Codices – werden lediglich er­wähnt (10 f.198).
In methodischer Hinsicht lehnt sich die Vfn. eng an das Arbeitsbuch von Martin Ebner und Bernhard Heininger an. Dies zeigt sich insbesondere im Kapitel der Auslegung des EvMar, die im Folgenden näher in den Blick genommen werden soll. Das Kapitel wird durch eine Klärung der »Einleitungsfragen« des EvMar eröffnet, worin sich die Vfn. im Spektrum der neueren Forschungspositionen für die Frühdatierung in die 1. Hälfte oder die Mitte des 2. Jh.s ausspricht. Der Abschnitt zum Aspekt »Frühchristlich-gnostischer Charakter« umreißt die gegenwärtig strittige Diskussion über die »Gnosis« vor allem mit Blick auf das EvMar und hält fest, dass es sich in einer »›Grauzone‹ zwischen Christentum und Gnosis« verorten lasse (30).
Vor dem Hintergrund der neueren Forschungsdiskussion wäre in diesem Zusammenhang eine nähere Auseinandersetzung mit der Kategorie »Gnosis« wünschenswert. Die Vfn. stimmt einem weiten Verständnis der »Gnosis« zu, das die »beiden großen gnostischen Strömungen« des Sethianismus und des Valentinianismus zusammenfasst (198; vgl. 10 f.). Relevante Anfragen zu dieser Auffassung von »Gnosis« – etwa mit Hinweis auf die theologische Diversität der Texte, die Einordnung der Debatte über die »Gnosis« in den antiken häresiologischen Diskurs oder eine engere Begrenzung des Begriffs auf die »Sethianer« (Karen L. King, Bentley Layton, David Brakke u. a.) – werden dagegen nicht näher thematisiert. In ähnlicher Weise bleibt auch unklar, warum der Vfn. nach der »Menschensohn« im Thomasevangelium (EvThom 86) »für den Gnostiker« steht (47), wohingegen die meisten neueren Kommentare diese Interpretation nicht vertreten.
Die Untersuchung des EvMar konzentriert sich auf die Textabschnitte über die »Aufforderung Jesu zur Nachfolge« (BG 8502 p. 8,11–9,5), die »Ermutigung Marias« an die Jünger (p. 9,5–24) sowie die »Verteidigungsrede Levis« (p. 18,5–19,2). Die letztgenannte Textpassage enthält den einzigen erhaltenen Beleg des »vollkommenen Menschen« in dieser Schrift (p. 18,16), während die anderen Abschnitte wegen ihrer Aussagen über den »Menschensohn« ( ⲡϣⲏⲣⲉ ⲙⲡⲣⲱⲙⲉ) bzw. den »Menschen« (ⲣⲱⲙⲉ) hinzugenommen werden. Die Textabschnitte werden jeweils in ihrer Abgrenzung vom Kontext be­stimmt, gefolgt von sorgfältigen, eng am koptischen Text orientierten Analysen zur Syntax und Semantik. Darüber hinaus wird im Anschluss an Ebner/Heininger zu jedem Textabschnitt eine »Gattungskritik« durchgeführt, in deren Ergebnis etwa bei p. 9,5–24 die Einordnung als »Offenbarungsdialog« oder »Apophthegma« erwogen wird (70). Der Abschnitt p. 18,5–19,2 wird hingegen vor dem Hint ergrund der antiken Rhetorik betrachtet. Hier liege im Wesent-lichen eine »Mischgattung« aus »Verteidigungsrede« und »Beratungsrede« vor (93). Weiterhin erfolgt jeweils eine »Traditions- und Überlieferungskritik«, die ihren Blick vorwiegend auf relevante Belege in den Schriften des Neuen Testaments richtet. Besonders hervorzuheben ist der umfangreiche Exkurs mit einem Überblick zur Bekleidungsmetaphorik (96–108). Die Vfn. kommt danach zu dem Schluss, dass das EvMar die Verwendung der Bekleidungsmetaphorik im Corpus Paulinum kannte (Röm 13,13; Kol 3,8–12 etc.), diese aufgriff und sie »als ein neues Konzept der Selbstwerdung entwi-ckelt« (109). Das Fazit dieses Kapitels hält fest, dass der »Weg zum vollkommenen Menschen« aus einem »ersten indikativischen Handeln« bestehe, denn der »Menschensohn ist im Inneren der Jünger« (121). Wie die Vfn. – im Unterschied zu vielen neueren Forschungspositionen – erklärt, stehe der »Menschensohn für Jesus«; jedoch handle es sich bei der »Redewendung vom ›Menschensohn im Inneren‹« um eine metaphorische Aussage, »dass die Jünger ihr Inneres erkennen sollen« (56). Der erste »Zugang zur Vollkommenheit« sei somit eröffnet, aber die »Jünger müssen aktiv ihre Selbstwerdung verwirklichen, indem sie die aufgezeigten Schritte zu diesem Ziel auch gehen« (121). Obwohl das EvMar weder Maria noch andere Erzählfiguren als »vollkommen« bezeichnet, hebt die Vfn. hervor: »der Mensch kann zu Lebzeiten vollkommen werden (irdische Vollkommenheit)« (123).
Bemerkenswert ist das Kapitel »Religions- und traditionsgeschichtlicher Hintergrund«, das die Verwendung der für die Studie zentralen Lexeme in einem Durchgang von der antiken Philosophie über das frühe Judentum – insbesondere bei Philo von Alexandrien – bis hin zum Neuen Testament darstellt (127–197). Da in der neueren Forschung die Bedeutung des kaiserzeitlichen Platonismus für die »Gnosis« betont wird, wäre dieser Zweig der Philosophie, der in der Untersuchung nicht berücksichtigt ist, zu ergänzen. So steht τέλειος etwa bei Alkinoos (Didask. I 4 sowie XXIX–XXX) vorwiegend in Verbindung mit der »Tugend« (ἀρετή), so dass die Diskussion der »Vollkommenheit« im Bereich der philosophischen Ethik weiter an Bedeutung gewinnen würde, zumal in eigener Weise auch das EvMar ein hohes Interesse an der Auseinandersetzung mit den Affekten zeigt (p. 15,1–17,7). Im Fazit des Kapitels hebt die Vfn. hervor, »dass das EvMar dem judenchristlichen Vollkommenheitskonzept des MtEv am nächsten steht«, da für beide Schriften »Vollkommenheit zu Lebzeiten erreichbar« erscheine, wenngleich sich das EvMar durch die Vorstellung vom »neuen Menschen« mit dem »Menschensohn im Inneren« davon abhebe (197).
Das abschließende Kapitel lenkt den Blick auf die »Gnostische Rezeption« des »vollkommenen Menschen«. Nach einer vergleichsweise kurzen Analyse der relevanten Passage im EvJud (CT p. 34,18–35,14) hebt die Vfn. den Aspekt der Affektbeherrschung im Kontext dieser Aussage hervor, während das EvMar in diesem Zusammenhang die Nachfolgethematik und die Evangeliumsverkündigung nenne (209). Das AJ und das EvPhil enthalten dagegen zahlreiche Belege, die für die Frage nach dem »vollkommenen Menschen« re-levant sind und in der Studie jeweils analysiert werden. Für das AJ lässt sich der Vfn. nach ein »umfassend reflektiertes Konzept« erkennen, das im Zusammenhang mit dem philosophisch-ethischen Apathie-Ideal stehe (228). Ebenso sei auch das Konzept im EvPhil differenzierter entwickelt, wobei sich diese Schrift insbesondere durch sakramentale Vorstellungen vom EvMar unterscheide (265).
Eine »Bilanz« fasst die Ergebnisse der Untersuchung zusammen und geht besonders auf die differenzierten Verwendungsweisen des »vollkommenen Menschen« in den verschiedenen Schriften ein. Ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein Auswahlregister zu Stellen und Stichwörtern schließen den Band ab.