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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

506–508

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Aus, Roger David

Titel/Untertitel:

"Caught in the Act," Walking on the Sea, and the Release of Barabbas Revisited.

Verlag:

Atlanta: Scholar Press 1998. XIV, 184 S. m. Abb. gr.8 = South Florida studies in the history of Judaism, 157. Lw. $ 49.95. ISBN 0-7885-0407-X

Rezensent:

Wolfgang Fenske

Zur religionsgeschichtlichen Arbeit mit neutestamentlichen Texten gehört die Frage nach der Relevanz rabbinischer Literatur. Bis in die Gegenwart werden rabbinische Texte pauschal herangezogen, um neutestamentliche Hintergründe offenzulegen. Doch stellt sich die Frage in den letzten Jahrzehnten differenzierter dar. So sind die rabbinischen Texte zum Teil erst seit Ende des zweiten Jahrhunderts schriftlich niedergelegt worden, oder es gibt bekanntlich nicht die rabbinischen Aussagen - sie sind vielmehr trotz Vereinheitlichungstendenzen der Redaktion unterschiedlichen Strömungen zuzuordnen. Weiterhin: Die Vielfalt der Einzeltexte wird durch die gesamte Schrift bestimmt, somit ist es verfehlt, Einzeltexte aus diesem Gesamtkontext zu lösen (Neusner); es ist kaum mehr ersichtlich, welche Aussagen in neutestamentliche Zeit zurückreichen, rabbinische Aussagen müssen also allein für ihre jeweilige Zeit beachtet werden (Müller); es ist mit unterschiedlichen Methoden einzeln zu erheben, welcher Text in die neutestamentliche Zeit zurückzureichen vermag (Evans); oder: Der Kern jüdischer Frömmigkeit ("common judaism"), der seinen Niederschlag in den Schriften findet, ist mit christlichen Schriften zu vergleichen (Sanders).

Auch A. vertritt die Position, daß rabbinische Texte nicht pauschal zur Erhellung neutestamentlicher Texte herangezogen werden können, sondern daß jeder Text überprüft werden muß. Dieses Werk ist nur eines seiner Werke mit entsprechendem Ziel. 1994 erschien "Samuel, Saul and Jesus: Three Early Palestinian Jewish Christian Gospel Haggadoth" (SFSHJ 105); schon 1988 erschienen: "Water into Wine and the Beheading of John the Baptist. Early Jewish-Christrian Interpretation of Esther 1 in John 2:1-11 and Mark 6:17-29" (Brown Judaic Studies 150), und: "Weihnachtsgeschichte - Barmherziger Samariter - Verlorener Sohn: Studien zu ihrem jüdischen Hintergrund" (Arbeiten zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, 2). Das dritte Kapitel des hier zu rezensierenden Buches "Barabbas Revisited", nimmt Bezug auf ein in SFSHJ 54 erschienenes Werk "Barabbas and Esther and Other Studies in the Judaic Illumination of Earliest Christianity" (1992). Diese Titel zeigen die Intention des Autors: Er möchte neutestamentliche Texte aufzeigen, die mit Hilfe rabbinischer Texte nicht nur besser zu verstehen sind, sondern überhaupt erst aus ihrer traditionellen jüdischen Perspektive heraus ursprünglicher zu verstehen sind.

Wie diffizil der Autor vorgeht, das zeigt nicht zuletzt auch das hier zu besprechende Werk. Seine drei Kapitel behandeln nach der Einleitung IX-XI folgende Themen: Kapitel 1: "’Caught in the Act’ - with whom, and by whom? The Judaic Background of the Incident of the Adulteress in John 7:53-8:11" (1- 48); Kapitel 2: "Walking on the Sea. The Crossing of the Reed Sea in Exodus 14-15, and Jesus as Second Moses and Messiah in Mark 6:45-52, Matt 14:22-33, and John 6:16-21" (53-133); Kapitel 3: "The Release of Barabbas Revisited (Mark 15:6-15; Matt 27:15-26; Luke 23:18-25; John 18:39-40)" (135-170). Abgeschlossen wird das Buch mit Hinweisen auf "Sources and Reference Works" (171-179) sowie mit einem "Index of Modern Authors" (181-184).

Alle drei Kapitel sind gleich übersichtlich und klar aufgebaut und legen Schritt für Schritt detailliert den Hintergrund der drei oben genannten Texte dar. So ist zum Beispiel aus der Formulierung von Joh 7,53-8,11 im Vergleich zu mSanh 9,6 ersichtlich, daß die Frau mit einem Heiden Ehebruch getrieben hat, und da die Zeloten die Pflicht hatten, Juden, die mit Heiden die Ehe gebrochen haben, zu töten, ist die durch Schriftgelehrte an Jesus gerichtete Frage im Kontext der Auseinandersetzung mit den Zeloten zu sehen (10-15). Danach wird das Alter der Tradition von mSanh 9,6 wie von Joh 7,53-8,11 diskutiert. A. sieht Traditionen makkabäischer Zeit im Hintergrund solcher Aussagen, da diese Zeit der Bedrückung durch Heiden rigorose Handlungen verlangt habe (15-18). Dann wird die Zeit Jesu thematisiert: Die pharisäischen Schriftgelehrten, die die Frau zu Jesus bringen, stehen den Zeloten nahe und dürfen, wie die Halacha vorgibt, die ertappte Frau töten (18-21). Der Mann wird nicht zur Rechenschaft gezogen, weil er Heide ist - und in der Zeit Jesu römischer Heide (21-26). Viel wurde schon darüber nachgedacht, was Jesus auf die Erde geschrieben haben könnte. Schriftgelehrte waren fähig, so A., aus Anfangsworten, die Schriftstellen zitierten, den gesamten Text in Erinnerung zu rufen. Und schriftgelehrt zeigt A., welche Texte Jesus auf diese Weise den Schriftgelehrten, die die Frau töten wollten, in Erinnerung brachte. Ausgehend von Mal 2,11 und dem weiteren Kontext werden verschiedene rabbinische Interpretationen dieser Bibelstelle zitiert. Die zweite Stelle Hos 4,14 wird entsprechend eingeordnet (26-34). Auch weitere Details werden geklärt (Steinigung, der Befehl Jesu "Sündige nicht mehr"). Betont wird das hohe Alter der Geschichte - ab Joh 8,2 (40-42) - und die Sprache, in der die Geschichte verfaßt wurde. Weil zum Beispiel mSanh 9,6 in Hebräisch geschrieben wurde, wird auch diese Geschichte ursprünglich hebräisch gewesen sein, auch wenn Jesus mit der Frau auf Aramäisch gesprochen haben wird (43-44). Als Gattung wird sie als "entrapment narrative" angesehen (47 f.).

Entsprechend werden auch die weiteren oben genannten Texte interpretiert: Wenn es z. B. Mk 6,47 heißt, Jesus wandelte mitten auf dem Meer, dann steht Ex 14,29 und 15,19 im Hintergrund. Mit diesen Texten handelt es sich um die Erzählung, in der das Volk mitten durch das von Gott gestaute Wasser hindurchgeht, was die Septuaginta mit "in der Mitte des Sees" übersetzt - eine Formulierung, die Mk 6,47 aufgreift (64). Diese und andere Beobachtungen werden mit rabbinischen Texten verknüpft: "The Palestinian Jewish Christian who first composed the account employed many elements from early Judaic tradition on Exodus 14-15 and Gen 1:2 to form a narrative which has offered encouragement to countless disciples of Jesus throughout the centuries" (131). So soll die Geschichte unter anderem zeigen, daß Jesus der königliche Messias ist, der Geist Gottes, der über den Wassern schwebt (Gen 1,2). Was vom Vater erzählt wird (Ps 77,20), tut nun sein Sohn (131), er wiederholt das Rettungshandeln, das der Vater am "Schilfmeer" gewirkt hat (130).

Wenn man der Meinung ist, daß die rabbinischen Texte neutestamentliche Zeit beleuchten können, dann zeigt dieses Werk überraschende Parallelen auf. Dieser Vergleich neutestamentlicher und rabbinischer Texte ist jedoch nur ein Teilbereich der bisher verhältnismäßig wenig untersuchten Frage nach den rabbinischen Schriften in ihrem Verhältnis zu Überlieferungen aus der Zeit des ersten Jahrhunderts insgesamt. So muß noch das Verhältnis rabbinischer Schriften zu Schriften aus Qumran, zu Pseudepigraphen und christlichen Apokryphen und zu Philo geklärt werden. Erst im Licht dieser Ergebnisse lassen sich gesichertere Rückschlüsse, negative oder positive, in der Bedeutung der rabbinischen Schriften für das Neue Testament ziehen. Aufzuzeigen, daß die Wurzeln christlicher Theologie und Texte jüdisch sind, ist das berechtigte Anliegen des Vf.s - und hervorzuheben ist, daß er das mit einer immensen Kenntnis rabbinischer Tradition immer wieder versucht, wenn auch der Eindruck nicht ausbleibt, daß er kunstvoll mit Texten zu jonglieren vermag. Doch können einzelne Texte oder die eine oder andere Parallele mehr als ein Indikator für jüdische Tradition sein? Die gesamte Intention christlicher Schriften ist neben den Detailanalysen aus der jüdischen Perspektive zu betrachten - und so haben christliche Autoren nicht allein Bausteine ihrer jüdischen Tradition aufgenommen, sondern sind selbst ein Teil dieser Tradition; ebenso ist die hinter einer aufgenommenen Einzeltradition stehende Strömung rabbinischen Judentums zu beachten, wenn Bezüge zu neutestamentlichen Autoren und Traditionen hergestellt werden sollen. Auf Bausteine jüdischer Tradition hingewiesen zu haben, die den grundlegenden jüdischen Ursprung neutestamentlicher Texte erkennen lassen, ist das Verdienst dieses Buches wie auch der anderen genannten Werke des Vf.s.