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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

668-670

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Botner, Max, Duff, Justin Harrison, and Simon Dürr [Eds.]

Titel/Untertitel:

Atonement. Jewish and Christian Origins.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2020. 261 S. Geb. US$ 59,00. ISBN 9780802876683.

Rezensent:

Thomas Hieke

Im Juni 2018 wurde an der University of Saint Andrews ein Symposium mit dem Titel »Atonement: Sin, Sacrifice, and Salvation in Jewish and Christian Antiquity« abgehalten. Das vorliegende Buch dokumentiert wichtige Ergebnisse dieser Konferenz. Ziel ist es, Schlaglichter auf ein Theologumenon zu werfen, das im Deutschen kaum angemessen wiederzugeben ist: atonement, also at-one-ment, der Vorgang, wie man »mit Gott wieder in eins, in Harmonie, kommt«. Das deutsche Wort »Sühne« kommt dem nahe, greift aber zu kurz, schwingen doch Aspekte wie Buße, Reinigung, Versöhnung, Erlösung mit. Man kommt mit diesem Begriff an den Kern der Religionen Judentum und Christentum. Wie die Einleitung des Buches (Max Botner, Justin Duff, Simon Dürr) hervorhebt, ist dieses Konzept in beiden Religionen lebendig und relevant – als Beispiele werden die große Bedeutung des Jom Kippur im heutigen Judentum und der Roman »Atonement« (dt. »Abbitte«) von Ian McEwan (2001) genannt. Des Weiteren habe die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. zwar die konkreten Opfer beendet, nicht jedoch die Diskussion um die dahinterstehenden Konzepte. Mental bleiben die Grundideen um Opfer, Versöhnung, Sühne (eben »atonement«) höchst relevant und verlagern ihren Ausdruck in die Produktion von Texten, Kunstwerken und Architektur – vor allem aber in die theologischen Vorstellungswelten (»sacrificial imaginaires«). Es soll in dem Buch aber nicht um die Rezeptionsgeschichte gehen, sondern um die »Ur­sprünge« (s. den Untertitel). Die Einleitung fasst die Essenz der Beiträge zusammen (XVII–XIX). Neun Autorinnen und Autoren sprechen mit Erfolg wichtige Aspekte des weiten Feldes von Sünde, Sühne, Opfer, Erlösung und Versöhnung an. Dabei geht es nicht um Einführungen in Grundlagen, sondern um die Diskussion spezieller Probleme auf hohem Niveau. Die Essays sind in zwei Bereiche sortiert.
Teil 1 behandelt entscheidende Punkte in der Entwicklungs-geschichte der »atonement legislation« in der Hebräischen Bibel. Christian A. Eberhart, ein Experte für Opfer und Sühne im Alten und Neuen Testament, behandelt in seinem Beitrag »Atonement« allgemeine Aspekte zum Begriff sowie zu Opferritualen in der Hebräischen Bibel, insbesondere zum Ritus der Aufstemmung der Hand (z. B. Lev 1,4). Sodann wendet er sich der Rezeption des vierten Gottesknechtsliedes (Jes 52,13–53,12) und der damit verbundenen Deutung von Tod und Auferstehung Jesu zu (Röm 4,25). – Deborah W. Rooke liefert unter dem Titel »Sin, Sacrifice, but No Salvation« einen Überblick zur sogenannten karet-Strafe in ihren verschiedenen Formen innerhalb des priesterlichen Denkens. Mit diesen scharfen Formulierungen eines Selbstausschlusses aus der Gemeinschaft durch inakzeptable Handlungen versuchten die Priester, ihre Wertvorstellungen in den Köpfen derer zu verankern, für die sie schrieben: Wer derartige Verstöße begehe, falle aus dem Wertesystem heraus und verliere dessen Vorteile – solches sei nötig, damit die hierarchische Ordnung und die Heiligkeit der Gemeinschaft stabil blieben. – David P. Wright schließt den ersten Teil mit dem Beitrag »Atonement beyond Israel«, in dem er die Hinzufügungen der Holiness School (H) zur priesterlichen Gesetzgebung (P) über das Sündopfer herausarbeitet. Dazu erläutert er das ḥaṭṭāt-System der Priesterschrift (P) nach Lev 4 und behandelt dann die mit dem Heiligkeitsgesetz (H) in Verbindung stehende Passage Num 15,22–31; Ziel ist dabei vor allem die Integration des in Israel lebenden Fremden (gēr) als eine rechtliche Kategorie.
Die sechs Beiträge des zweiten Teils drehen sich um anthropologische sowie kosmologische Konzepte sowie das Auftreten von Mittlerwesen. Carol A. Newsom behandelt unter dem Titel »When the Problem Is Not What You Have Done but Who You Are« die Veränderungen im Fokus auf »atonement« in den Gebeten und Ge­dichten aus der Zeit des Zweiten Tempels. Sie bestehen darin, dass mehr und mehr eine negative Anthropologie die Oberhand gewinne, die den Menschen als abgrundtief und angeboren böse betrachte. Doch dieser Pessimismus sei nicht Selbstzweck, sondern diene dazu, durch moralische Transformation und Nähe zu Gott bzw. den Engeln neue religiöse Erfahrungen der Erhöhung zu generieren. – Crispin Fletcher-Louis zeigt mit einer intensiven Lektüre der hebräischen Fassung von Sir 49,16–50,21, wie der Hohepriester in der Zeit Ben Siras zur Verkörperung des idealen Menschseins vor Gott wird und damit zugleich zur Verkörperung des verheißenen Messias (»The High Priest in Ben Sira 50: The High Priest Is an Incorporative Divine Messiah and At-One-Ment Takes Place through Worship in the Microcosm«). – N. T. Wright bettet in seinem Beitrag »Get the Story Right and the Models Will Fit: Victory through Substitution in ›Atonement Theology‹« den Begriff »atonement« in ein gesamtbiblisches Narrativ ein. Dabei liege in der Kreuzigung Jesu der Kulminationspunkt von Bund und erneuertem Bund, Überwindung des Bösen und der Etablierung des neuen Himmels und der neuen Erde, der Sieg des Lammes. Dem entspreche das letzte Bild der Bibel: der Ausdruck von Gottes Herrschaft durch das kosmische Heiligtum im Himmel wie auf Erden. So verlängere sich der große Bogen von Genesis 1 bis Exodus 40 hinaus bis Offenbarung 21. – Den Zusammenhang von »sehen« und »Rettung« stellt Catrin H. Williams ins Zentrum ihres Beitrags »›Seeing,‹ Salvation, and the Use of Scripture in the Gospel of John: Intertextual Perspectives on the Johannine Understanding of Jesus’s Death«. Dazu wertet sie sowohl das intertextuelle Netzwerk innerhalb des Johannesevangeliums als auch bestimmte Bezüge etwa zum Pessach im Buch Exodus und zum Buch Jesaja (Gottesknechtslieder) aus. Dabei sei der gekreuzigte Jesus der unverzichtbare Fokus für den Glauben, denn auch der auferstandene Christus wird an seinen Wundmalen erkannt; das Bild vom »Lamm Gottes« verschmelze Pessach-Me-taphorik mit dem Stellvertretungsgedanken. Dies zu sehen und zu erkennen bringe den Nachfolgerinnen und Nachfolgern Jesu das Heil. – Den Epheserbrief nimmt T. J. Lang in seinem Beitrag »Sealed for Redemption: The Economics of Atonement in Ephesians« in den Blick. Er wertet vor allem die Metaphorik des (Be-)Siegelns, die aus der Kaufmannssprache stamme, aus (Eph 1,13–14). Dabei zeigt er sowohl die Leistung dieser Metapher für Erlösung auf als auch deren Grenzen und Anfälligkeit für Fehlinterpretationen. – Abschließend untersucht Martha Himmelfarb (»What Goes On in the Heavenly Temple? Celestial Praise and Sacrifice in Ancient Judaism and Christianity«) die Vorstellungen in frühjüdischer und frühchristlicher Literatur über die »himmlische Liturgie«. Sie zieht dazu u. a. das Buch der Wächter (aus 1Henoch), 2Henoch (slavHen), die Lieder zum Sabbatopfer aus Qumran, die Johannesoffenbarung, den Hebräerbrief und das Testament Levis heran. Die Vorstellung einer himmlischen Liturgie sei seit dem Ende des Ersten Tempels verbreitet, die Rolle von »atonement« sei sehr unterschiedlich ausgeprägt. Nur der Hebräerbrief verwende die Vorstellung, dass Blut im Himmel in einer einmaligen und einzigartigen Opferliturgie Verwendung finde.
Eine Gesamtbibliographie ermöglicht einen Überblick über die aktuelle Forschungslage. Die Liste der Beitragenden zeigt den in­ternationalen Charakter der Diskussion. Drei Indizes erschließen den Band (Autorinnen und Autoren, Stichwörter, Bibelstellen und andere antike Literatur). – Das Bild auf dem Schutzumschlag des Buches versinnbildlicht, dass die Lektüre nur etwas für Initiierte ist: Es zeigt ein an den Füßen gebundenes Lamm eines Merinoschafes (Francisco de Zurabán, 17. Jh., Prado, Madrid), mehr nicht – man könnte es für ein Stillleben halten. Doch es gibt auch Varianten des Bildes (insgesamt fünf), die den Kopf mit einem feinen Heiligenschein versehen (San Diego Museum of Art). So wird für die religiös Eingeweihten aus dem gebundenen Lamm das Opferlamm, das Agnus Dei, und das religiöse Universum von Opfer, Sühne, Sünde, Versöhnung bricht herein. Das muss man aber schon vorher im Kopf haben, sonst ist das Bild wirklich nur ein Stillleben. Ebenso sind die Beiträge dieses Buches nur für diejenigen eine fruchtbare Lektüre, die sich schon intensiv mit den jüdischen und christlichen Konzepten befasst haben, die hinter dem englischen Begriff »atonement« stehen.