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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

664-665

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nagel, Tilman

Titel/Untertitel:

Was ist der Islam? Grundzüge einer Weltreligion.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2018. 694 S. Geb. EUR 39,90. ISBN 9783428152285.

Rezensent:

Rüdiger Braun

Tilman Nagel, zweifellos einer der renommiertesten Vertreter der deutschen Islamwissenschaft, macht bereits im Vorwort seines knapp 700 Seiten umfassenden Buches mit der Referenz auf Martin Kramers Ivory Towers on Sand deutlich, dass er mehr intendiert als, wie das Fragezeichen im Titel und der Terminus »Grundzüge« im Untertitel vermuten lässt, eine klassische Einführung in den Islam. N. attestiert den Angehörigen der politisch-medialen Klasse eine Beschönigung des Islam, die in Wahrheit »auf seine Geringschätzung hinausläuft« (7) und auf Sand gebaut bleibt, solange sie sich nicht mit grundlegenden Einsichten der islamwissenschaftlichen Analyse in Deckung bringen lässt. Diesem Zweck dienen die folgenden 20 Kapitel zu grundlegenden Signifikanten und Bedeutungssyndromen des Islam, in denen N. die in zahllosen Einzelstudien zur Geschichte und Theologie des Islam, zum Koran sowie zum Propheten hinlänglich bewiesene islamwissenschaftliche Ex­pertise einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen sucht. Dass N.s Buch nicht primär an Vertreter der eigenen wissenschaftlichen Zunft, sondern an ein breiteres Lesepublikum gerichtet ist, erschließt sich aus der Struktur der einzelnen Kapitel, die sich auch unabhängig voneinander lesen lassen und ein geschlossenes Bild von der jeweiligen Thematik zu vermitteln suchen. Die damit naturgemäß verbundenen Wiederholungen müssen kein Nachteil sein, eröffnen sie doch die Möglichkeit, bereits Gelesenes in anderen Kontexten nochmals erneut zu reflektieren. Gleichwohl ließe sich fragen, ob nicht die Kapitel zum Koran (4) und zum Hadith (5) am Beginn des Buches einen sinnvolleren Platz gefunden hätten, insofern die gegebenen Auskünfte über Islam (1), Allah (2) und Muhammad (3) ohnehin nicht ohne den Rückgriff auf den autoritativen Kanon auskommen. Gleiches gilt für die Kapitel zum Be­griff von Religion und Ritus (12) sowie zum Menschenbild (13), beides Inhalte, deren Klärung auch schon vor der Abhandlung einschlägiger Themen wie Scharia (6), Kalifat (8), Dschihad (9) und den Strömungen des sunnitischen und schiitischen Islam (10 f.) hilfreich gewesen wäre. Nachvollziehbar hingegen ist die Platzierung der Themen Nichtmuslime (18) und Frauen (19) am Ende des Bu­ches, an dem N. einige in früheren Kapiteln angelegte Argumentationslinien aufzunehmen und mit Blick auf die Herausforderungen der säkularen Moderne weiterzuführen sucht. Letztere bilden implizit eine wesentliche Hintergrundfolie der in den Einzelkapiteln vorgelegten Reflexionen, die den Versuch unternehmen, mo­derne Interpretationen islamischer Topoi einer kritischen Relektüre auszusetzen. Die Grundlage dafür legt N. im einführenden Kapitel, in dem er das gemeinislamische Verständnis von Islam als einer natürlichen bzw. ursprünglichen Religion thematisiert, die im L aufe der Zeit durch menschlich auferlegte Erschwernisse und Zwänge wie z. B. komplizierte Speisegebote im Judentum oder asketische Frömmigkeitsformen im Christentum korrumpiert und durch Muhammads Verkündigung schließlich wieder restituiert wurde. Vor diesem Hintergrund formuliert N. in den folgenden Kapiteln berechtigte Anfragen an zeitgenössische Praktiken modernistischer Koran- und Islamhermeneutik. Den zur Legitimation moderner Religionsfreiheit vielfach zitierten Koranvers »In der Religion gibt es keinen Zwang« (Q 2,256) liest er, um nur einige Beispiele herauszugreifen, nicht als ein Plädoyer für Religionsfreiheit, sondern als Warnung vor Formen der Gottesverehrung, die – wie z. B. die jüdische oder christliche – die ursprüngliche und somit zwanglose Daseinsordnung des Islam, wie N. formuliert, »schuldhaft verfälscht« (40) haben. Der im interreligiösen Dialog vielfach genutzte arabische Begriff salām ziele nicht etwa auf einen »Frieden« im westlichen säkularisierten Sinn, sondern auf die ›Unversehrheit‹ bzw. ›Reinheit‹ der Religion. Ähnliches gilt für die im modernen islamischen Diskurs zur Flexibilisierung der Rechtszwecke (maqāṣid) genutzten fünf wesentlichen Güter bzw. »Notwendigkeiten« (ḍarūrīyāt) des Rechts, deren ursprünglicher Sinn zunächst darin bestand, die Autorität der šarīca abzusichern und die Menschen an ihre Verpflichtung (taklīf) gegenüber Gott als dem eigentlichen Herrscher des islamischen Gemeinwesens zu erinnern. Die islamische Idee des »jedem Menschen anerschaffenen vollständigen Menschseins, das sich nur der Muslim bewahrt«, spiele nicht nur in den muslimischen Vorstellungen von den Menschenrechten »eine tragende Rolle« (405), sondern finde ihre »le­benspraktische, vorzugsweise rituelle Konsequenz […] in der besseren Daseinsordnung der Kultgemeinschaft Abrahams« als dem Urtypos »der vorbehaltlosen Weggabe des Gesichts an Allah«. Damit habe die in einer Reihe von Purifikationsriten (rituelles Gebet, Läuterungsgabe, Pilgerfahrt, Fasten) aufrechterhaltene islamische Daseinsordnung, wie N. unterstreicht, »mit dem modernen europäischen Begriff ›Religion‹, der ein durch ein Credo, ein Glaubensbekenntnis, begründetes persönliches Verhältnis zu einem Gott bezeichnet […] wenig gemein« (409). Den Nimbus der Progressivität des islamischen Rationalismus, den Reformer einem solchen Urteil entgegenhalten würden, hält N. für überbewertet: Dem Rationalismus war im Raum des Islam, so N., nicht etwa an der Förderung der Eigenständigkeit menschlicher Vernunft gelegen, sondern daran, den als Bindeglied zwischen dem Menschen und den göttlichen Gesetzen erachteten Verstand des Menschen seinem richtigen Gebrauch, d. h. der angemessenen Deutung der Zeichen Gottes zuzuführen. Selbst Averroes, Repräsentant aristo-telischer Vernunft im Islam, habe, so N., den rationalistischen Um­gang mit dem Koran auf eine klar umgrenzte intellektuelle Elite beschränken bzw. diesen keinesfalls der breiten Masse ge­währen wollen. Mag die antike Philosophie unter den Muslimen »einige ernsthafte Interessenten« gefunden haben, stand sie »im Ganzen gesehen auf einem verlorenen Posten«. Der islamischen Ra­tionalität fehle »das ihre Augenblicksbezogenheit überspannende Element der Vernunft, der selbständigen Reflexion der durch den Verstand ausgedeuteten Wahrnehmungen« (493). Mit dazu beigetragen habe die sich insbesondere im 12. Jh. ausbildende Überhöhung Mohammeds und die Verklärung des Beispiels der medinensischen Gemeinde, die für viele Muslime bis heute »das Maß aller Dinge« bleibe: Was der islamischen Daseinsordnung fehle, ist N. zufolge die für eine Emanzipierung des Individuums unentbehrliche Voraussetzung der Herausbildung von »nicht un­mittelbar durch die göttliche Botschaft beherrschten Sektoren des Daseins« (622).
Man wird mit N.s Bewertungen der Dynamiken und Wandlungen des islamischen Diskurses nicht konform gehen müssen, um die von ihm vorgelegte Relektüre dieses Diskurses in ihrer Nüchternheit als Anregung zum eigenen Weiterstudium und Weiterdenken wertzuschätzen. Die Islamwissenschaft dürfe sich, so N., nicht scheuen, das »überregionale Zusammengehörigkeitsgefühl, das Muslime verschiedener Herkunft bekunden«, als »eine Ge-gebenheit von höchstem gesellschaftlichem und politischem Ge­wicht« zu vergegenwärtigen. Und sie dürfe nicht, wie er in er-neuter Aufnahme des mit Martin Kramer im Vorwort aufgenommenen Fadens betont, über »die Unterschiede zwischen der west-lichen und der islamisch geprägten politischen Zivilisation«, wie es »hierzulande erwünscht« scheint, hinwegdeuten. Was den Charakter einer Religion im Wesentlichen bestimmt, ist eine Weltsicht, ein »Erschauen des Ganzen« (661).