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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

657-658

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ghaffar, Zishan

Titel/Untertitel:

Der Koran in seinem religions- und weltgeschichtlichen Kontext. Eschatologie und Apokalyptik in den mittelmekkanischen Suren.

Verlag:

Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2020. X, 270 S. m. 4 Abb. u. 1 Tab. = Beiträge zur Koranforschung, 1. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783506704320.

Rezensent:

Bertram Schmitz

Die Koranforschung wird zunehmend durch unterschiedliche weiterführende Herangehensweisen und -möglichkeiten bereichert. Die geschieht zum einen dadurch, dass weitere religiöse Quellentexte aus dem Umfeld des Korans erschlossen, ediert und durch Übersetzungen zugänglich gemacht werden. Zum anderen verwendet die historische Einordnung des Korans auch profanhis-torische Aufzeichnungen, die einen tieferen Einblick in die damalige Zeit geben. Diese Situation, wie sie Zishan Ghaffar mit Recht bei seiner Analyse zugrunde legt, besteht zunächst aus zwei be­deutsamen politischen Konflikten während der Entstehungszeit des Korans. Von – aus da­maliger Perspektive – weltrelevanter Be­deutung war die Auseinandersetzung zwischen dem byzantinischen und dem sassanidischen Reich, die nördlich des betreffenden Gebiets stattgefunden hat und deren religionspolitisches Zentrum in der Eroberung und Rück-eroberung Jerusalems gesehen werden kann. Der zweite Konflikt fand im Süden statt, die militärische Spannung zwischen dem Reich von Aksum (Äthiopien) und dem von Himyar (Jemen).
Diese Aktionen bilden den politischen Hintergrund der Verse des Korans. Die Inhalte werden darüber hinaus von dem antago-nistischen Verhältnis zwischen Christentum und Judentum zur damaligen Zeit vorgegeben. Der gesamte literarische Fundus bis zum 6. Jh. nach der Zeitenwende, der in diesem geographischen Raum des heutigen Saudi-Arabiens zur Verfügung stand, kann als potentielle Grundlage für den Koran gelten. Es ist jeweils die Frage, welche Erzählungen in welcher Weise innerhalb des Korans verwendet wurden.
Auf dieser Basis wird das Werk von G. nachvollziehbar. Er bietet eine religionspolitische Analyse von Suren oder Surenteilen, die nach klassischer Einteilung noch in Mekka offenbart wurden, also vor der Auswanderung nach Medina im Jahr 622, und innerhalb dieser mekkanischen Zeit etwa in der Mitte zwischen Offenbarungsbeginn 610 und besagter Auswanderung liegen.
Für die Analysen wählte G. die Suren 18 und 21, sowie Teile aus den Suren 17, 19, 38, 27 und 30. Dabei handelt es sich um bisher schwer zuzuordnende Abschnitte, die auf diese Weise durch ihren Kontextbezug erhellt werden. So kann die Interpretation der Be­gegnung von König Salomo mit der Königin von Saba in Sure 27,15–44 als »eine entschiedene Kritik an der militärischen und gewaltsamen Vorgehensweise der Byzantiner gegen die Sassaniden« gelesen werden (97). Der Koran bietet an diesem Beispiel der letztlich friedlichen Überzeugung zum richtigen Glauben der Königin durch Salomo an den einen Gott eine Alternative zum Krieg an. Als Grundlage für Erzählmotive dieser Begegnung konnte, so G., der Koran auf einen Targum Scheni zum biblischen Buch Esther zu­rückgreifen; zudem stehe diese Darstellung in Beziehung zum Alexanderroman in der Fassung der damaligen Zeit.
Auch die Erzählungen der jeweiligen Vergehen der Könige David und Salomo in Sure 38 können als Kritik an der damaligen Königsherrschaft (des Kaisers Herakleos) verstanden werden. Dieser stünde allein der weltliche Thron (kursi) zu, aber keine übergeordnete religiöse oder gar heilsgeschichtliche Macht. Die Geburtsgeschichten von Jesus und Johannes in Sure 3 zeigen wie viele andere Beispiele, dass weder die christliche noch die jüdische Tradition allein erwählt seien: »Keine Gruppe kann für sich exklusiv die Er­wählung durch Gott beanspruchen.« (48)
An einigen Punkten ergeben sich Fragen. Sure 17 verweist nach G. eindeutig auf die zweimalige Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Dies gilt für ihn als sicher, obwohl nur an dieser Stelle das Wort masgid für Tempel verwendet wird, was im Koran sonst jeden »Ort der Niederwerfung« meint, der Tempel aber mit mihrab bezeichnet wird. Auch der Eingangsvers 17,1, der die Entrückung des Propheten an den »fernen« (aksa) Ort benennt und ebenso kryptisch ist wie die analoge Erwähnung der Entrückung bei Paulus im Neuen Testament (2Kor 12,2–4), könnte zwar theoretisch bereits das Tempelgelände in Jerusalem meinen, genauso aber auch – wie bei Paulus – einen Ort im Himmel; dann wäre der Bezug nach Jerusalem, zur (späteren) al-Aksa-Moschee, ein Anachronismus.
Ebenso verwendet G. die Bezeichnung des irdischen Throns als Kursi, um in der Salomo – Königin von Saba-Episode zu bezeichnen, dass ihr nur ein solcher zustehe, kein Thron im Sinne des ars, der eindeutig Gott zugeordnet wird (68). Allerdings verwendet, wie G. selbst angibt, ausgerechnet einer der berühmtesten Koranverse, der Thron-Vers (ayat-kursi; Sure 2,255) kursi für den Thron Gottes, wobei sich G. überzeugend bemüht, diese Ausnahme zu begründen. Man könnte allerdings auch an die jüdische Mystik des himmlischen Thron(wagen)s denken, bei dem der Unwissende gerade diesen Glaspalast für Wasser hält und sich damit als der Gotteserkenntnis für unwürdig erweist. – Die Verwendung des Christus-Begriffs ist bei G. mitunter diskussionswürdig.
Diese zuletzt genannten Momente sind als Anmerkungen zu verstehen. Sie zeigen meines Erachtens, wie spannend die Begegnung unterschiedlicher Fragestellungen und Fachwissenschaftler zu demselben Thema sein kann und welche Diskussionen sich eröffnen. War es bis vor einigen Jahrzehnten noch eine eher an religiösen oder orientalistischen Fragen interessierte Auseinandersetzung mit dem Koran, so stellt diese historisch-politisch kontextuelle Betrachtung, die zugleich eine Vielzahl weiterer Bezugstexte einbringt, eine Bereicherung dar. Sie kann – verbunden mit der Aufarbeitung weiterer jüdischer und christlicher Literatur der damaligen Zeit – Aufschluss über viele bisher dunkle Stellen geben. Bei dem Werk von G. wird in hohem Maße die zeitlich gebundene literarische wie politische Kontextualität des Korans gerade an Stellen gezeigt, an denen die Fragestellungen zur Religion nicht weiterkommen. Eine aktuell religionspolitische Nuance erhalten die Ausführungen dadurch, dass G. gerade in den letzten Kapiteln seines Buchs implizit und im Schlussteil explizit verdeutlicht, dass es dem Koran zumindest in der untersuchten mittelmekkanischen Periode um friedliche Lösungen geht: »Eine apokalyptische Dimension der byzantinisch-sassanidischen Auseinandersetzung und die militärische Dimension im Glaubenskampf werden geradezu ab­gelehnt« (256; G.s Beispiele gehen allerdings davon aus, dass sich das Gegenüber friedlich zum richtigen Glauben überzeugen lässt). In diesem Sinn ist die Lektüre dieses weiterführenden Werks für die wissenschaftliche Koranauslegung eindeutig zu empfehlen; die Mühe des Lesens wird belohnt.