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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

597–599

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gause, Ute

Titel/Untertitel:

Töchter Sareptas. Diakonissenleben zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 295 S. m. 23 Abb. Kart. EUR 22,00. ISBN 9783374061921.

Rezensent:

Matthias Benad

Zum 150. Jahrestag der Gründung der Westfälischen Diakonissenanstalt in Bielefeld hat Ute Gause eine »ausschnitthafte Geschichte Sareptas« anhand von Diakonissenbiographien vorgelegt (11). Drei Lebensgeschichten werden rekonstruiert auf der Grundlage einer relativ günstigen Überlieferung, die überwiegend im Sarepta-Ar­chiv liegt (22–24). Sie werden erzählt vor dem Hintergrund gleichbleibender Muster kollektiver Identität, die sich z. B. in Probezeit und Ausbildung, Einkleidung und Einsegnung, Entsendung in den Dienst und ritualisierten Bräuchen manifestieren. Das Mutterhaus wird als »Schnittpunkt der Alltags-, Kirchen-, Diakonie- und Frauengeschichte« wahrgenommen (12). Die Berufsbiographien eignen sich, die gesamte Entwicklung Sareptas zu be­leuchten, des größten Mutterhauses der evangelischen Diakonissengeschichte mit ca. 2000 Schwestern im Jahr 1934 (31). Dass sich die Darstellung auf nur drei Biographien stützt, hat seinen Grund in der zögerlichen und kontroversen Befassung der Schwesternschaft mit der eigenen Geschichte. Für ein weiterreichendes Projekt fehlte am Ende die Zeit – was sich auch an einigen, durchweg marginalen Punkten zeigt, die zukünftig einer Korrektur be­dürften. Den Schwestern war wichtig, dass eine Frau den Auftrag übernahm. Dem Vorstand Bethels und der Direktion Sareptas ge­lang es, G. zu gewinnen, deren Name für methodisch gleichermaßen umsichtige wie sensible, geschlechtergeschichtlich orientierte Untersuchungen zur evangelischen Mutterhausdiakonie steht.
Aus den Schwesterngruppen Sareptas rückt sie die Diakonissen als weitaus wichtigste in den Fokus. Sie gestalteten ihr Leben im Mutterhaus in freiwilliger Selbstbindung, eingegliedert in eine familienanaloge, personale Hierarchie, in der sie als ledige Töchter der Mutterhauseltern galten, bereit zum Dienst in Sarepta, Bethel oder auf auswärtigen Stationen, auf die sie ohne Rücksprache ausgesandt werden konnten. Dazu gab es Gestellungsverträge mit auswärtigen Trägern, die u. a. die Zahlung eines Stationsgeldes an die Diakonissenanstalt regelten. Die Diakonissen begnügten sich mit Taschengeld, blieben um ihres Dienstes willen ehelos und ge­lobten den »Mutterhauseltern« Gehorsam. Hier bestand eine Analogie zu den evangelischen Räten Armut, Keuschheit und Ge­-horsam, die in den gleichzeitig aufblühenden, aber auch parallel rückläufigen, mehr als doppelt so zahlreichen Mutterhäusern ka­tholischer Schwesternkongregationen befolgt wurden.
G. setzt sich wohltuend ab von diakonieüblicher Hagiographie, nimmt Sarepta als totale Institution (Erving Goffman) wahr, hat an bloßer Institutionengeschichte wenig Interesse und favorisiert einen geschlechterspezifischen Zugang, wobei sie sich in der Darstellung an der ethnographischen Methode der dichten Beschreibung (Clifford Geertz) orientiert (19). Da es um Lebensbeschreibungen geht, setzt sie sich mit Kritik am biographischen Ansatz auseinander (Pierre Bourdieu).
Mit den Diakonissenbiographien verbindet G. die Frage nach dem kollektiven Selbstbild der Schwesternschaft. War das nach außen kommunizierte Bild des Mutterhauses als »Schmelzhütte der heißen Trübsal« (so »Vater« Bodelschwinghs Deutung des biblischen Namens Sarepta, vgl. 24) möglichweise mehr dessen persönliches Thema? Hatten die Schwestern dieses Ideal selber verinnerlicht oder wurde ihr kollektives Selbstverständnis doch stärker von ihrer Arbeitsleistung bestimmt (29)? Die Schwesternbiographien, die G. ausgewählt hat, konnten nicht als repräsentativ, aber doch als typisch für die Diakonissenschaft gelten. Sie decken den Ge­samtzeitraum einigermaßen ab und sollen einen »Zugang zum emotionalen Gedächtnis Sareptas« erlauben (20).
Die erste der drei vorgestellten Frauen ist die schlesische Pfarrerstochter und Kaiserwerther Diakonisse Emilie Heuser (1822–1898), die 1869 als Gründungsvorsteherin nach Bielefeld entsandt wurde, wo sie bis ans Ende ihre Tage blieb. Ihr sind schon früher Aufsätze gewidmet worden. Durch die hier neu aus den Quellen gearbeitete, hundertseitige Biographie (41–140) wird eine neue Stufe erreicht. Ursprung und Aufbau werden ebenso fassbar wie weibliches Leitungshandeln in der Frauengenossenschaft.
Weniger reich ist die Quellenlage zu Anna Siebel (1874–1975), die wie viele Sarepta-Diakonissen aus einfachen Verhältnissen ins Mutterhaus kam, dort zur Krankenpflegerin ausgebildet und jahrzehntelang als Gemeindeschwester im Ruhrgebiet eingesetzt wurde (141–180). Schriftlichen Äußerungen nicht sehr zugeneigt, steht sie für die berufliche Praxis und kirchliche Wirkung der Diakonissenschaft. Die Schilderung wird dadurch lebendig, dass allgemeinhistorische und lokale Entwicklungen ihrer Einsatzorte berücksichtigt werden.
Die Phase des Rückgangs, der Reformbemühungen und der Transformation wird durch den Lebensweg der »revolutionären Schwester« Dr. phil. Liese Hoefer (1920–2009) fassbar (182–245). Als junge Frau glühende Nationalsozialistin, war sie bei Kriegsende zutiefst desillusioniert. Sie suchte und fand den Weg in die Diakonissenschaft, nachdem sie zuvor in einer Dissertation »Verarbeitungsweisen zeitbedingter Ereignisse bei 17–21-Jährigen« reflektiert hatte (195). Weil sie in Sarepta nicht jene Tiefe geistlicher Gemeinschaft fand, die sie sich erhofft hatte, gab sie sich nicht mit der Leitung des Kindergartenseminars zufrieden, sondern nahm federführend an dem drei Jahre währenden kommunitären Experiment der »Gruppe C« teil, das schließlich vom Diakonissenkonvent beendet wurde (225). Später wandte sie sich schriftstellerischer Tätigkeit zu, indem sie Gebete und Besinnungen verfasste, und nannte das »Ausstreuen von Samen, ohne zu wissen wohin« (230).
Die Lebensgeschichten werden so eindrücklich geschildert, dass sie bei der Lektüre mit innerer Beteiligung aufgenommen werden können. So wird deutlich, was G. meint, wenn sie davon spricht, »einen Zugang zum emotionalen Gedächtnis« des Mutterhauses gewinnen zu wollen.
Unklar bleibt dagegen die Bemerkung, es gehe ihr um eine »Chronik anhand von Schwesternbiographien« (21), handelt es sich doch bei dieser Gattung um eine Aufzeichnung geschichtlicher Ereignisse in exakter zeitlicher Reihenfolge. Diese Aufgabe ist von Diakonissen – unabhängig von Schwesternbiographien – schon 1984 erledigt und später noch ergänzt worden. Diese hausinterne Chronik erweist sich als zuverlässig, zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass unter der Fülle der aufgereihten Fakten wesentliche Entwicklungen verborgen bleiben. Das gilt z. B. für den langen, heftigen Streit in der Mutterhausleitung direkt nach dem Tod von Friedrich v. Bodelschwingh d. Ä. 1910.
Voraussetzung dafür, dass aus den drei behandelten Biographien überhaupt ein – wenn auch fragmentarisches – Gesamtbild entstehen kann, ist der kompakte, gut orientierende Abschnitt »Zur Geschichte Sareptas und seiner Diakonissen« in der Einleitung (24–40). Darin wird zunächst anhand des Bildes vom himmlischen Schmelzer, das viele Jahre die Einsegnungsurkunden und das Titelblatt der Mutterhauszeitschrift zierte, sinnfällig das theologische Konzept Sareptas skizziert (24–30). Ein ebenso instruktiver Abriss der Entwicklung des Mutterhauses schließt sich an. Hier fehlt jedoch ein Hinweis auf das Seelsorgekonzept »Vater« Bodelschwinghs, das er 1878 vor der Kaiserwerther Generalkonferenz darlegte. Es war elementar für die innere Formung der Frauengenossenschaft. Im Zentrum stand vorab die persönliche Vereinbarung mit jeder einzelnen Schwester über das exklusive Recht der Mutterhauseltern zu persönlicher Seelsorge an ihr; daneben gab es allein das Gebet zum Heiland. Im Konflikt von 1910/12 ging es um die Fortführung dieser Praxis und zugleich um die Struktur des enorm groß gewordenen Mutterhauses. Hier zeigte sich, wie eng individuelle Glaubenseinstellungen verwoben sind mit Strukturfragen der Institution!
G. hat überzeugend »die Biographiewürdigkeit individueller Frauen (und Männer) innerhalb diakonischer Institutionen« vorgeführt. Am Schluss betont sie, dass »[u]nter der Prämisse, dass Alltags- und Frauengeschichte […] relevant sind, […] eine weitere Er­forschung der Institution und der Schwesternschaft und ihrer Aufgabenbereiche ein bleibendes Desiderat« sei (258). Dem ist nichts hinzuzufügen – außer dem Vorschlag an die Auftraggeber der vorliegenden Studie, ein entsprechendes Projekt zum Westfälischen Diakonissenmutterhaus alsbald auf den Weg zu bringen.