Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

594–596

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sandel, Michael J.

Titel/Untertitel:

Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leis-tungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Aus d. amerik. Englisch übers. v. H. Reuter.

Verlag:

Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlage 2020. 442 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 9783103900002.

Rezensent:

Annette Weidhas

Dieses Buch des populären kommunitaristischen Moralphilosophen der Harvard University ist nicht zuletzt eine Streitschrift ge­gen intellektuelle Arroganz. Michael J. Sandel wird von der ersten bis zur letzten Seite nicht müde, die akademisierte Meritokratie der US-amerikanischen Gesellschaft zu geißeln. S. beklagt, dass die Pflege des Gemeinwohls durch bürgerliche Solidarität mit Ärmeren in den letzten vier Jahrzehnten ins Hintertreffen geraten ist zugunsten einer Vorstellung von sozialer Anerkennung, die einzig die je eigenen Verdienste herausstellt. Der amerikanische Traum, dass jeder es nach ganz oben schaffen könne, sei auf eine Weise neu festgelegt worden, »die das Prestige der akademischen Klassen steigert und die Beiträge der meisten Arbeiter abwertet, was deren soziale Stellung und Wertschätzung zersetzt« (49). Exakt dieses Denken trage »am unmittelbarsten zur wütenden, polarisierten Politik unserer Zeit bei« (ebd.), womit auch das Phänomen Trump erklärt wird. Damit trifft S. sicherlich ins Schwarze. Nicht nur für die USA gilt inzwischen, dass, wer sich bei seiner Arbeit die Hände schmutzig machen muss, zu den »Dummen« zählt, denen kaum noch soziale Wertschätzung entgegengebracht wird. Obwohl auch in Deutschland längst klar ist, dass der Trend zur Akademisierung der Gesellschaft nicht nur positive Seiten hat, wollen die meisten Berufseinsteiger nach wie vor einen Bürojob – und das, obwohl sie (inzwischen wieder) ggf. mit einem Handwerks- oder Pflegeberuf mehr Geld verdienen könnten.
S. wendet sich aber nicht nur gegen die Akademisierung des Verdienstgedankens, sondern gegen diesen generell. Dabei setzt er Luthers Theologie gegen die calvinistische Prädestinationslehre, die gerade in der »neuen Welt« zur beherrschenden wurde (61 ff.). Und die »Demut, die aus der Hilflosigkeit angesichts der Gnade hervorgeht« habe in unserer säkularisierten Welt der Überheblichkeit Platz ge­macht, »die vom Glauben an die eigenen Verdienste beseelt ist« (66). Dabei ist nach S. die Vorstellung, wir seien frei handelnde Menschen, die aus eigener Kraft erfolgreich sein können, nur ein Aspekt der Meritokratie. Ebenso wichtig sei die Überzeugung, dass die Erfolgreichen ihren Erfolg auch verdient haben. »Dieser den Sieg betonende Aspekt der Meritokratie führt bei den Gewinnern zu Überheblichkeit, bei den Verlierern zu Demütigung. Er spiegelt einen Rest des Glaubens an die Vorsehung wider, der im moralischen Vokabular säkularer Gesellschaften fortbesteht.« (67) Ohne ihn so zu benennen, kritisiert S. im Folgenden einen säkularen Tun-Ergehen-Zusammenhang, der in seiner religiösen Form im Buch Hiob schon vor ca. 2500 Jahren ad absurdum geführt wurde. Theologische Bezüge bleiben bei S. aber insgesamt im Hintergrund, er argumentiert säkular moralphilosophisch. Sein Feindbild ist letztlich die neoliberale meritokratische Version der Globalisierung, in die er auch die Clintons und Barak Obama einordnet. Vor dezidiert parteipolitischen Stellungnahmen hütet er sich allerdings, sondern verortet sich als Mann der Mitte: »Der anhaltende Protest über die Bankenrettung beschattete Obamas Präsidentschaft und befeuerte letztlich eine Stimmung populistischen Protests – aufseiten der Linken die Occupy-Bewegung und die Kandidatur von Bernie Sanders, aufseiten der rechten die Tea-Party-Bewegung und die Wahl Donald Trumps.« (36) In solchen Analysen besteht nach Ansicht der Rezensentin der Wert des Buches. Allerdings wären dafür wohl nicht über 400 Seiten nötig gewesen. Schon auf S. 118 fasst S. im Grunde seine Gesellschaftskritik zusammen:
»Erstens: Die Wiederholung der Botschaft, wir seien für unser Schicksal selbst verantwortlich und hätten verdient, was wir bekommen, höhlt unter den Bedingungen ausufernder Ungleichheit und zum Stillstand gebrachter gesellschaftlicher Mobilität die Solidarität aus und demoralisiert diejenigen, die von der Globalisierung zurückgelassen wurden. Zweitens: Darauf zu bestehen, dass ein Uni-Abschluss der vorrangige Weg zu einem angesehenen Job und einem anständigen Leben sei, sorgt für ein auf Bescheinigungen beruhendes Vorurteil, das die Würde der Arbeit untergräbt und diejenigen erniedrigt, die keine Uni besucht haben. Drittens: Darauf zu bestehen, dass gesellschaftliche und politische Probleme am besten durch hochgebildete, wertneutrale Experten gelöst werden können, entspricht einer technokratischen Konzeption, die die Demokratie korrumpiert und normale Bürger entmachtet.«
Dieser Analyse ist nicht zu widersprechen. Nur: Was folgt daraus? Hier bleibt S.s Buch schwach. Er schlägt z. B. für den Zugang zu Eliteuniversitäten ein Losverfahren vor, zum Glück aber nur zwischen generell der Leistung nach Geeigneten. »Positiver Diskriminierung« redet er nicht das Wort. Eine wirkliche Lösung ist das Los aber gewiss nicht. Sofort würde sich der Streit auf die Voraussetzungen für das Losverfahren konzentrieren. Und Voraussetzungslosigkeit, wie sie schon für die Bestimmung von Volksvertretern diskutiert wurde, würde gleich gar nicht auf Dauer akzeptiert werden. Es bleibt die Erkenntnis, dass auch eine Leistungsgesellschaft keine gerechte Gesellschaft ist. Können wir die aber überhaupt schaffen? Eher nicht. Es wird immer Menschen geben, die klüger, schöner und stärker sind als andere. Die einen werden in ein behütendes, förderndes Elternhaus hineingeboren, die anderen haben es schwer, sich in schwierigen Verhältnissen zurechtzufinden. Der Versuchung, dieser Ungerechtigkeit durch identitäre Politik rechter oder linker Couleur zu entkommen und nur neue Ungerechtig keiten zu schaffen, muss widerstanden werden. Insofern haben freie Leistungsgesellschaften dann doch auch etwas für sich.
S. ist sich darüber im Klaren, dass es keine vollkommene Gleichheit und damit keine letztlich gerechte Gesellschaft geben kann – wobei durchaus die Frage hätte stärker gestellt werden dürfen, ob der moderne Fetisch der Gleichheit überhaupt geeignet ist, Gerechtigkeit zu schaffen. Man stelle sich das Hauen und Stechen vor, wenn alle 7,6 Milliarden Menschen dieser Welt gleich gebildet, schön und reich wären. S. scheint das zu ahnen und setzt auf Kommunikation. Er will »Bürger aus unterschiedlichen Lebensbereichen in gemeinsamen Räumen und an öffentlichen Orten zusammentreffen« lassen (361). Die Rezensentin hat sich seit ihrer Jugend bemüht, diese Idee in ihr Leben zu integrieren. Manchmal gelingt derlei tatsächlich. Oft aber scheitert ein solches Bemühen auch und es gibt einfach keine Verständnisbrücken. Und noch öfter hat das Zielobjekt schlicht kein Interesse am Gutgemeinten des Bemühten. Das muss dann demütig hingenommen werden. S. ist hier wohl zu optimistisch. Denn selbstredend gibt es nicht nur intellektuelle Arroganz, es gibt auch die antiintellektuelle Arroganz. Die machten sich nicht nur die Herrscher der verflossenen angeblichen Arbeiter- und Bauernstaaten zunutze, sie wird auch heute von falschen Populisten aller Art bedient. Der Hang zur Überhebung ist allen Menschen gemein. Darum muss S.s Buch in Blick auf seine Bewältigungsstrategien scheitern. Allerdings sollten Begabte oder auf sonst eine Art Bevorzugte wissen, dass sie besonderen Grund zur Demut haben. Darauf hinzuweisen macht den Wert des Bandes aus. Mit dem Ruf zur »Demut«, die das Bewusstsein für die Zufälligkeiten des Lebens schafft, endet S. dann auch. »Demut« sieht er am »Anfang des Weges, der uns von der brutalen Ethik des Erfolgs, die uns auseinandertreibt, zurück führt.« (362)
Manchen Lesern wird das als Ergebnis gering erscheinen. Das ist es aber ganz und gar nicht. Welcher Christ, zumal welcher luthe-rische, wollte S. hier nicht zustimmen? Gemeinwohl beginnt mit verständiger Barmherzigkeit, die auf Demut beruht. Erst dann entsteht Leistungsbereitschaft, die nicht nur den eigenen Erfolg im Blick hat. Wem das nicht genug ist, der sollte sich fragen, ob er nicht das falsche Ziel avisiert. Gleichheit, die über die Gleichheit vor dem Gesetz hinausgeht, stellt kein sinnvolles Ziel gesellschaftlicher Anstrengung dar. Sie ließe sich nur durch die Herrschaft der »Gleicheren« umsetzen, die zu neuer Ungerechtigkeit führte, wie man an allen sozialistischen Systemen sehen konnte. Was also bleibt? Achtung und Demut.