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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

590–592

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Laubach, Thomas [Hg.]

Titel/Untertitel:

Ökumenische Ethik.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag; Würzburg: Echter Verlag 2019. 306 S. m. Abb. u. Tab. = Studien zur theologischen Ethik, 153. Kart. EUR 58,00. ISBN 9783796540486 (Schwabe); 9783429054441 (Echter).

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Der Sammelband enthält »die meisten« (7) Referate des 38. Fachkongresses der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik, der vom 10. bis 13. September 2017 an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg tagte. Die Vereinigung hatte sich das Thema einer »Ökumenischen Ethik« gesetzt und dafür eine Reihe prominenter katholischer und evangelischer Moraltheologen und Ethiker zu Vorträgen eingeladen. Aus ganz unterschiedlichen Gründen muten das Thema, seine Durchführung und die folgende Publikation des Tagungsbandes recht merkwürdig an. Zum ersten heißt es in einem Protokoll der Tagungskommentare sehr prägnant über die Kongressdiskussionen, die Tagungskommentatoren »bilanzierten unisono, […] dass in begründungstheoretischer Hinsicht das Profil einer Ökumenischen Ethik auf dem Kongress nicht ansatzweise geklärt werden konnte. Insgesamt […] habe es an konkreten Ideen gemangelt, wie dieses Projekt wissenschaftstheoretisch zu denken sei« (303).
Zweitens fehlen dem Tagungsband eine Reihe von Referaten, auffällig diejenigen evangelischer Ethiker, darunter Peter Dabrock, Klaus Tanner (10), Arne Manzeschke und Stefanie Schardien (11). Es wäre gut gewesen, die ratlosen Leser darüber zu informieren, aus welchen Gründen diese Vorträge nicht abgedruckt sind. Denn so bildet sich der Dialog, der beim Kongress ohne Zweifel stattgefunden hat, im Tagungsband nicht richtig ab.
Und drittens mutet es merkwürdig an, dass in der wissenschaftlichen Reihe, in der der Tagungsband erschien, als Folgeband nun ausgerechnet eine Publikation über »Fundamente theologischer Ethik in postkonfessioneller Zeit« (Rezension ThLZ 146 [2021], 89–91, Kursivierung W. V.) publiziert wurde. Man wird den Eindruck nicht los: Während die sozialethische Avantgarde über postkonfessionelle Ethik nachdenkt, debattiert die gravitätische Nachhut noch über konfessionelle Ökumene. Leser fragen sich: Wieso dann nicht gleich zu Band 154 der Studien zur theologischen Ethik greifen? Ich würde das im Übrigen nicht schreiben, wenn einige der Referenten und Tagungskommentatoren nicht einen gewissen Überdruss an der ökumenischen Thematik offen erkennen ließen.
Lohnt es sich also noch, über die Unterschiede zwischen Prinzip und Situation, zwischen Naturrecht und angewandter Ethik, zwischen Deontologie und Teleologie, zwischen Rigorismus und Relativismus, zwischen biblischer Begründung und vernünftigen Argumenten nachzudenken?
Heinrich Bedford-Strohm, als Sozialethiker wie als Bischof und Ratsvorsitzender eingeladen, bejaht die Frage in seinem Beitrag, der die Geschichte katholischer Ethikbegründungen aufarbeitete, um am Ende ein sehr großes Maß an Gemeinsamkeiten zu statuieren. Die beruhen auf einem gemeinsamen christlichen Menschenbild und dem Prinzip von Gottes radikaler Liebe, das in beiden Kirchen ernst genommen werde. Er sieht bei ethischen Fragen am Anfang und am Ende des Lebens eine Parteinahme beider Kirchen gegen »Zweckmäßigkeitserwägungen« (34). Was allerdings den assistierten Suizid angeht, so hat die jüngste evangelische Debatte, die auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgte, die unterschiedlichen Positionen innerhalb der evangelischen Ethik sehr drastisch demonstriert. Gemeinsamkeiten beruhen also eher auf der eingenommenen Panoramaperspektive.
Stephan Ernsts Beitrag versucht zu demonstrieren, wie sich das vatikanische Lehramt vorsichtig in Richtung einer Situationsethik geöffnet hat, deren Kriterium die in »universaler Perspektive gewahrte Verhältnismäßigkeit« (73) sein soll. Für ihn unterliegen ethische Entscheidungen in bestimmten konflikthaften Situationen nicht nur Motiven, die aus der Situation selbst abzuleiten sind, sondern genauso in rationalen Erwägungen, die von außen auf die Situation übertragen werden.
Dominik Ritter fordert für den ökumenischen Dialog eine Priorität der Ethik. Ohne seine Begründung dafür vollständig zu entfalten, kommt er am Ende seines Beitrags zu der Forderung, vor allem »diakonisch zu sein und ethisch relevante Probleme vor theologische Spitzfindigkeiten zu stellen« (101). Und weiter heißt es: »Dogmatische Kontroversen wären danach zu priorisieren, inwiefern deren Lösung für Menschen in ihrer Lebens- und Glaubensentwicklung hilfreich ist.« (ebd.) Wenn man dieses Kriterium bei Fragen von Abendmahl/Eucharistie, Zölibat, Homosexualität ernst nehmen würde, so käme Bewegung in manche ökumenische Diskussionsthemen.
Noch einen Schritt weiter geht Gunter M. Prüller-Jagenteufel, der, ganz auf der Linie der katholischen Schule der Autonomen Moral eine Neubestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Wahrheit einfordert. Er sieht die katho-lische Ethik vor der ökumenischen Herausforderung, von »instruktionstheoretischen Offenbarungsvorstellungen und platonischen Urbild-Abbild-Metaphoriken zu verabschieden, um die Menschenwürde nicht nur als bloßes Lippenbekenntnis im Munde zu führen« (117). Und die Konsequenz wäre auch, dass die Frage nach katholischer oder evangelischer Ethik ob­solet geworden ist, sich im Zuge einer autonom gewordenen Ethik auflöst in die Frage nach dem Vernünftigen oder situationsbezogen Angemessenen. Das würde im Übrigen auch gelten für die sozialethische Aufnahme der »Parteilichkeit« Gottes, die Bedford-Strohm in seinem Eingangsbeitrag gefordert hatte.
Während die Beiträge des ersten Teils sämtlich Grundlagenprobleme erörterten, sind die Beiträge des zweiten Teils Spezialethiken und -aspekten gewidmet: Umweltethik (Wustmans, Lienkamp), Mys-tik, Spiritualität und Feminismus (Steinmair-Pösel), dem modisch gewordenen Anthropologumenon der Vulnerabilität (Walser), ethischen Fragen des Beginns (Bobbert) und des Endes des Lebens (Stamer) sowie der Familienethik (Veith, Schlögel-Flierl).
Am Ende soll nur darauf hingewiesen werden, dass es schwierig erscheint, die Beiträge des Sammelbandes auf eine gemeinsame Fragestellung festzulegen. Es geht um mehr als um die Fragen nach biblischer oder vernünftiger Begründung, Naturrecht oder Situa-tionsethik. Im Hintergrund jedes Beitrags ist auch eine ganz be­stimmte Kirchentheorie abzulesen, die von der Amtshierarchie (evangelisch und katholisch) über die Kirchen als kommunitaristische Assoziation bis zur konventualen Gemeinschaft reicht. Selbstverständlich lässt sich aus der Abfolge von Enzykliken und sonstigen Lehrschreiben so etwas wie die Geschichte einer katholischen Ethik schreiben, wie sich aus der Abfolge der Denkschriften, Stellungnahmen und Worte (einschließlich der Gemeinsamen Worte) so etwas wie eine Geschichte evangelischer Ethik entnehmen lässt. Aber damit ist der mögliche Dissens zwischen dem offiziellen Lehramt oder »offiziellen EKD-Meinung«, dem, was die theologische Ethik vertritt, und dem, was einfache Christenmenschen glauben, noch nicht hinreichend beschrieben. Vielmehr zieht sich dieser Dissens quer durch die beiden konfessionellen Lager hindurch. Dieser trifft in der Gesellschaft auf weitere Gegenüberstellungen, nämlich dem, was rechtlich eingeklagt werden kann (Menschenwürde und Menschenrechte) und dem, was moralisch und/oder ethisch zu fordern wäre. Ob jemand in einer Ethik eine evangelische oder eine katholische Position vertritt und ob sich beides zu einer ökumenischen Position vereinigen – besser formuliert: abstrahieren lässt, bleibt vor diesem Hintergrund leider nicht mehr als eine rein kirchenpolitische Frage, die für die Beantwortung des in Rede stehenden ethischen Problems überhaupt nicht mehr von Belang scheint. Kurzum: Gemeinsame Positionen in der Ethik können der Ökumene nicht helfen. Und Dissense in der Ökumene helfen auch nicht bei der Lösung ethischer Fragen. Hinter ethischen und ökumenischen Debatten versteckt sich das Gespenst einer hoch kontroversen evangelischen und katholischen Ekklesiologie, das man bei der Tagung hätte ansprechen sollen.