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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

588–590

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Knaus, Gerald

Titel/Untertitel:

Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Em­pathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl.

Verlag:

München: Piper Verlag 2020. 336 S. Kart. EUR 18,00. ISBN 9783492059886.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Der Soziologe und Migrationsforscher Gerald Knaus gilt als Erfinder des Türkeiabkommens vom März 2016, das die Fluchtbewegung über die Türkei in die EU auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/16 unterbinden oder zumindest merklich redu-zieren sollte. Im vorliegenden Buch berichtet K. nicht nur vom Zustandekommen des Abkommens und seinem Rationale, sondern entwickelt die Grundzüge einer internationalen, menschenrechts- und rechtsstaatskonformen Migrations- und Asylpolitik. Das umstrittene Türkeiabkommen, das K. gegen Kritik von Menschenrechtsorganisationen verteidigt, dient ihm dabei als Role Model für ähnliche Abkommen, die die EU mit nord- und westafrikanischen Ländern schließen sollte. Er berichtet aber auch von anderen Beispielen einer gelungenen Entschärfung von Migrationskonflikten und Flüchtlingsbewegungen. K. ist Mitgründer und Vorsit zender des in Berlin ansässigen Think Tanks European Stability Initiative (ESI), der auch in Brüssel, Wien und Istanbul Büros hat. Er schreibt gegen das drohende Ende einer Ära an, die vor 70 Jahren mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950) und der Genfer Flüchtlingskonvention (1951) begann. Sein Buch – eine Mi­schung von wissenschaftlicher Analyse, Reportage, persönlichen Er­innerungen und engagierter Positionierung – erzählt auch die Geschichte dieser Dokumente ebenso wie K.s eigene Geschichte. Man kann es ebenso als politisches Plädoyer wie als persönliche Bilanz seines eigenen Engagements in der Migrations- und Asylpolitik lesen.
K. unterbreitet Vorschläge, wie sich an Europas Grenzen »Kontrolle mit Respekt für Menschenwürde« (9) bzw. »Bewegungsfreiheit und Sicherheit, Freiheit und Kontrolle« (15) verbinden lassen. Die Forderung »No Borders« weist K. zurück, weil sie, »zu Ende gedacht, entweder Anarchie oder ein grenzenloses Imperium, entweder das Fehlen legitimer Autoritäten oder das Fehlen nationaler Souveränität« (22) bedeute. Ihr stellt K. seine Forderung »No inhumane Borders« gegenüber und ist von der Möglichkeit einer »Quadratur des Kreises« (ebd.) überzeugt. Unmenschlich ist eine Grenze, »an der Menschen Seeonotrettung verweigert wird. Es ist eine, an der jedes Jahr Tausende ertrinken. Und es ist eine, die Flüchtende zu einem tödlichen Hindernislauf zwingt« (36), an der die Bestimmungen der europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechts-charta missachtet und Menschen in ein anderes Land zurückgestoßen werden (push back).
Im Kern besteht K.s Konzeption darin, irreguläre Migrationsbewegungen durch vertragliche Regelungen mit Herkunfts- oder Transitländern einzudämmen, indem einerseits Menschen nach ir­regulären Grenzübertritten von den Ländern, aus denen sie ge­kommen sind, zurückgenommen werden. Im Gegenzug erhalten diese Länder finanzielle Unterstützung zur Versorgung der Geflüchteten. Außerdem werden für Menschen aus den Herkunftsländern legale Einreisemöglichkeiten geschaffen, um so den Anreiz für le­bensgefährliche Migration, an der sich kriminelle Schlepperbanden bereichern, zu unterbinden. Im Fall des Türkeiabkommens war vorgesehen, dass EU-Länder in derselben Höhe, in der Menschen von den griechischen Inseln in der Ägäis in der Türkei zurückgenommen würden, syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen würden.
Der Grundgedanke ist durchaus plausibel. Dass die Begrenzung irregulärer Migration nicht funktionieren kann, wenn nicht gleichzeitig legale Einwanderungsmöglichkeiten geschaffen werden, ist ebenso richtig wie die Zurückweisung einer auf völlige Abschottung gerichteten Migrations- und Asylpolitik. Allerdings hat das Türkeiabkommen bekanntermaßen bis heute aus verschiedenen Gründen nie richtig funktioniert und wurde nur in Teilen umgesetzt, wie auch K. ausführlich schildert. Man mag das harte Vorgehen Orbáns 2015/16 wegen seiner Menschenrechtsverstöße wie auch die harte Linie Österreichs in der Flüchtlingspolitik kritisieren. Rückblickend wird man jedoch wohl feststellen müssen, dass das unter Federführung von Bundeskanzlerin Merkel geschlossene Abkommen mit der Türkei nur deshalb Erfolge zeigte, weil es zu einem Zeitpunkt umgesetzt wurde, als die Durchreise durch die Balkanländer bereits weitgehend unmöglich gemacht worden und damit der Pullfaktor Richtung begehrter Zielländer wie Deutschland oder Österreich schon deutlich nachgelassen hatte.
Ob es realpolitisch möglich ist, Europa in der gegenwärtigen Krisensituation zu einem »Leuchtturm« (250 ff.) einer erneuerten Flüchtlings- und Asylpolitik zu machen, mit Deutschland und seinem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dessen Arbeit K. für vorbildlich hält, als Motor, sei dahingestellt. Wie weit sich die von K. als vorbildlich gelobte Flüchtlingspolitik des ehemaligen australischen Premierministers Fraser in den 1980er Jahren (vgl. 108 ff.) oder das Beispiel von Kanadas System privater Patenschaften aus der vietnamesischen Flüchtlingskrise von damals (vgl. 120 ff.) auf die heutigen Migrationsprobleme Europas übertragen lassen, muss offenblei ben. Auch auf unterschiedliche Einschätzungen, die in der Migra-tionsforschung zur wirksamen Bekämpfung irregulärer Migration und ihrer Ursachen bestehen, kann hier nicht weiter eingegangen werden, wohl aber auf einige Fragen zur Ethik, insbesondere zum Verständnis von Nächstenliebe und ihrer Funktion im Rahmen einer Migrationsethik und generell einer Ethik des Politischen. Seinem Kapitel »Wer ist mein Nächster?« stellt K. das neutestamentliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter voran. Aus historischen Beispielen folgert K.: »Für ›Brüder‹ und ›Schwestern‹ gibt es keine Obergrenzen, weil sie ›zu uns‹ gehören. Für andere Menschen hingegen stellt sich in jeder Gesellschaft die Frage der Aufnahmebereitschaft« (86). Im Anschluss an R. Rorty (vgl. 87 f.) unterscheidet K. zwischen Empathie und Solidarität, die mehr ist als Erstere. Unser Mitgefühl aber werde durch Narrative gefördert, die uns Menschen wahlweise als Brüder und Schwestern, als Fremde oder als Gefahr und Feinde wahrnehmen lassen. K. betont auch die Bedeutung von Vorbildern, mit deren Hilfshandeln sich Menschen identifizieren können. Ausd rücklich nennt er Carola Rackete und Harald Höppner von der Organisation Sea-Watch (91) und stellt die politische Forderung, private Seenotretter zu ermutigen und zu unterstützen. Rackete spricht sich allerdings für eine Politik der »Open Borders« aus, die K. doch eingangs abgelehnt hat. Auch übergeht er das vielfach diskutierte Dilemma, dass private Seenotrettungsorganisationen de facto von Schlepperorganisationen instrumentalisiert werden. Das individualethische Beispiel des barmherzigen Samariters bietet keine hinreichende Basis für die Lösung sozialethischer Probleme, wie auch der sittliche Universalismus der biblischen Botschaft keineswegs gewisse Vorzugsregeln aufhebt, die in der Geschichte christlicher Ethik anerkannt worden sind. Soll er nicht ein abstraktes Ideal bleiben, ist der ethische Universalismus überhaupt nur unter Anwendung von Vorzugsregeln lebbar.
K.s Gegenerzählung gegen eine inhumane Abschottungspolitik setzt auf die Magie von alten und modernen Märchen, wie jenem von Harry Potters magischem Zelt: »Von außen schien es klein, mit gerade genug Platz für zwei Personen. Betrat er es jedoch, fand er sich in einer Zimmerflucht wieder, in der viel mehr Menschen gut unterkommen konnten. Die dafür notwendige Magie ist die Verwandlung von Empathie durch Geschichten in solidarisches Handeln« (283). Hier kippt nun K. von einer politischen Theorie und Praxis in eine letztlich unpolitische Moral, die es Gegnern wie Befürwortern offener Grenzen recht machen will. Das kann wohl nicht die Lösung sein.