Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

495–500

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hartenstein, Friedhelm

Titel/Untertitel:

Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997. X, 274 S. 8 = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 75. Pb. DM 98,-. ISBN 3-7887-1640-1.

Rezensent:

Hubert Irsigler

Der Untersuchung liegt die an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU-München bei Prof. Jörg Jeremias erarbeitete Dissertation des Vf.s zu Grunde. Sie wurde nach Auskunft des Vorworts für den Druck überarbeitet und etwas erweitert (250 Seiten, dazu ein den Forschungsstand umfassend dokumentierendes Literaturverzeichnis, 251-270 und ein knappes Bibelstellenregister, 271-274). Wesentliches Forschungsziel der Arbeit ist eine traditions- und religionsgeschichtliche Rückfrage nach den in Jes 6,1-11 als primärer Texteinheit aufgenommenen Elementen der Jerusalemer Kulttradition. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage nach dem vorausgesetzten vorexilischen Konzept des Wohnorts JHWHs, wie es näherhin in der Visionsszenerie von Jes 6,1-4 erschlossen werden kann. Gleichzeitig soll sich auf dem Weg der traditionskritischen Analyse die spezifische Intention des ebenso berühmten wie komplexen Textes Jes 6,1-11 profilieren. Auf der Basis dieser Untersuchungen soll darüber hinaus in theologiegeschichtlicher Perspektive der Wandel des älteren Wohnortkonzepts in exilischer und nachexilischer Zeit deutlich werden.

Die "Einleitung" (1-29) greift (nach I Vorbemerkungen) zunächst in einer methodischen Vorüberlegung (II) die Forschungsdiskussion zur "Jerusalemer Kulttradition" auf und versucht im Anschluss an O. H. Steck eine "pragmatisch" verstandene Definition. Sie hebt auf den "durch den Tempelkult in vorexilischer Zeit gegebene(n) Überlieferungszusammenhang für die Texte und Riten des Jerusalemer Heiligtums und die damit verbundenen Bedeutungen" ab (9).1 Mit Recht betont der Vf. die methodische Notwendigkeit, die "Basis-Aussagen" der Jerusalemer Kulttradition von konkreten Einzeltexten her zu erheben (9). Dass sich konzeptuelle Zusammenhänge eines Traditionskomplexes letztlich erst durch eine Zusammenschau exegetischer, religionsgeschichtlicher, ikonographischer, epigraphischer u. a. Daten und Erkenntnisse umfassender erforschen lassen, ist damit nicht bestritten. Aus den weiteren Erörterungen der "Einleitung" (III Problemstellung und Aufgabe) sei besonders auf die Überlegungen zum "symbolischen" Entsprechungszusammenhang zwischen dem "eigentlichen" Wohnort der Gottheit, der nicht von vornherein mit der kosmischen Region Himmel identifiziert werden darf, und ihrer Anwesenheit im Heiligtum als der Differenz zweier Wirklichkeitsbereiche (15.17, vgl. 11-17) hingewiesen. Es folgen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Wohnort der Gottheit und zugrundeliegendem Weltbild im Alten Orient und Alten Testament (18-23), beschrieben mit Hilfe des räumlichen Modells der Symbolik des "Zentrums" als Koinzidenzbereich einer menschenweltlichen Horizontalen mit einer kosmischen Vertikalen. Ein knapper Überblick über den Stand der Forschung zur Intention von Jes 6 und Folgerungen für die Aufgabe der Untersuchung (23-29) schließen den einleitenden Teil ab. Im Anschluss an R. Knierim und besonders O. H. Steck nimmt H. die Deutung von Jes 6,1-4 als "Gerichtstheophanie" auf und akzentuiert die seiner Meinung nach zentrale Bedeutung von V. 4 für das Verständnis der Intention von Jes 6. In engem Zusammenhang damit steht die in Jes 6,1-4 dreimal vertretene Verbalbasis ML’ als Ausdruck eines zum Jerusalemer Heiligtumskonzept gehörenden "Fülle"-Motivs.

Der Hauptteil der Arbeit ist eine eingehende Untersuchung zum Themenbereich: "Die Vorstellung vom Wohnort JHWHs im Licht von Jes 6" (30-223). Ausgehend von "Sprachliche(n) Beobachtungen" zu Jes 6 (I: 30-40) sucht H. zunächst das "Jerusalemer Heiligtumskonzept in Jes 6" zu rekonstruieren (II: 41-109). Darauf folgt die Analyse der Frage, wie dieses Heiligtumskonzept durch die Aspekte der "Gerichtspräsenz Gottes im Heiligtum" in Jes 6 textlich geprägt und transformiert wird und welche traditions- und religionsgeschichtlichen Vorgaben eben diese gerichtspräsentischen Aspekte ihrerseits erkennen lassen. Ziel ist, die Intention von Jes 6 präzise zu erfassen, und zwar als schon von 6,1-4 her gegebene und kohärente und nicht erst an der Verstockungsbotschaft von 6,9-10 ablesbare Intention (III: 109-223). Sieben höchst informative religionsgeschichtlich orientierte Exkurse verbinden die beiden zentralen Kapitel II und III des Hauptteils, der mit einem ausführlichen Resümee (IV: 216-223) abgeschlossen wird.

Wie stellt sich nun H.s Rekonstruktion von Tradition und textlicher Interpretation in Jes 6 näherhin dar? Nur die wichtigsten Aspekte können hier angesprochen werden. H. gliedert (nach anderen) Jes 6,1-11 in die drei Szenen V. 1-5, V. 6-7, V. 8-11 (38.41). Die für die Untersuchung H.s entscheidende erste Szene besteht ihrerseits aus der ,eigentlichen Thronvision’ V. 1-4 und der Reaktion des Propheten auf das Geschaute V. 5. Die syntaktische Struktur in V. 1-4 zusammen mit der Leitwortfunktion der "Fülle"-Aussagen in V. 1+3+4 akzentuiert nach H. (im Anschluss an O. H. Steck) das Geschehen V. 4 als direkten Auslöser der Reaktion des Sehers in V. 5 (39 f.). Gleichwohl wird H. dem Fügungszusammenhang der drei -Sätze in V. 5 und deren Rückbezug auf V. 1-4 schwerlich gerecht, wenn er die Erkenntnis der eigenen Todesverfallenheit beim Propheten entscheidend erst als Folge des in V. 4 geschilderten Geschehens (Beben, Rauch) betrachtet (197 f. Anm. 677). Der Weheruf der Todesverfallenheit (Sätze 5b-c) wird in V. 5 durch zwei -Sätze bzw. Satzkomplexe begründet, die einerseits klar den Kontrast zur tödlich gefährlichen alleinigen Heiligkeit Gottes (V. 3) im Auge haben (Sätze 5d-e), andererseits integrativ die Tatsache der Schau des "Königs JHWH Zebaot" benennen (Satz 5f.). Dieses Objektsyntagma des letzten -Satzes nimmt aber syntaktisch präzise das komplexe Objekt von Satz 1a (einschließlich des prädikativen Adnominale als des sog. ferneren Objekts "... auf einem hohen und aufragenden Thron sitzen") auf, dann aber auch die syntaktisch dieses komplexe direkte Objektsyntagma näher beschreibenden und ausgestaltenden Sätze des statuarischen Thronbildes V. 1-3. Das individuelle Geschehen V. 4 ist freilich nicht weniger implizit Gegenstand der visionären Wahrnehmung, wie dies auch für den Inhalt von V. 6-7 gilt, ohne dass dieser sprachlich explizit als Gegenstand des "Sehens" (und "Hörens", vgl. V. 8) bezeichnet werden müsste. Eine (keineswegs exklusive!) Signalwirkung von V. 4 für das Verständnis der Gerichtsintention von Jes 6 betont H. mit guten Gründen (ausführlich in Kap. III des Hauptteils). Der essentielle Grund für die Erkenntnis der Todesverfallenheit des Propheten aber liegt nach Ausweis von V. 5 nicht in V. 4, so gewiss die Ich-Rede V. 5 narrativer Progress und insofern Geschehensfolge zu V. 4 ist. Der Zusammenhang der Massivität der zentralen Heiligkeit Gottes (Trishagion Jes 6,3 als spezifische ,jesajanische’ Gestaltung, die in dieser Form nicht tempelliturgisch ableitbar ist!) und seiner unheimlichen Vernichtungspotenz (V. 11) scheint mir in H.s Interpretation zu wenig berücksichtigt.2

H. rekonstruiert das Jerusulamer Heiligtumskonzept in Jes 6 von drei Elementen bzw. Motiven des Visionstextes her: 1. Der "hohe" und "erhabene" Thron von Jes 6,1 (41-56); 2. Der Palast Gottes und das göttliche Gewand (56-78); 3. Das "Fülle"-Motiv (ML’) in der Jerusalemer Kulttradition (78-107). Was den geschauten Thron angeht, so kann H. plausibel zeigen, dass dessen "Höhe" sich einer Übertragung der Gottesbergvorstellung auf den JHWH-Thron verdankt. Er ist als hochragendes Weltzentrum (48) nicht in der kosmischen Region des Himmels verankert (56, vgl. Exkurs 1: Bergwohnsitz und Götterpalast in Ugarit und Phönizien, 52-54)3. Man darf allerdings fragen, ob etwa die "Höhe" des Wohnsitzes Gottes in Ps 93,4, die den von Urzeit an feststehenden Gottesthron von V. 2 interpretiert (vgl. 46-48), nicht doch schon vorexilisch uranische Qualität konnotiert. Die Vorstellungen von Bergeshöhe und Himmelshöhe werden sich im vorausgesetzten Konzept des Wohnorts der Gottheit in der göttlichen Sphäre nicht ausschließen, sondern konvergieren (in Ugarit hat der auf dem Gottesberg S.apon thronende Baal nach KTU 1. 101,1-7 gleichwohl sein Haupt im "Himmel")4.

Als "Ort" der Jesajavision bestimmt H., wie mit überzeugenden Gründen häufiger angenommen, das irdische Jerusalemer Tempelgebäude in der Raumgliederung von innen nach außen (Cella - Hauptraum - Vorhalle). Vorbehalte bestehen gegenüber der Annahme eines "himmlischen" Palastes JHWHs im AT (63.76). JHWH-Thron und Tempel erscheinen symbolisch aufeinander bezogen: "In der räumlichen Achse der Vertikalen überragt der Gottesthron den Tempel hoch wie ein Berg" (63). Der Prophet sieht das Geschehen am Gottesthron in der hintergründigen Sphäre Gottes; dieses löst zugleich Reaktionen im Tempel (V. 4) aus (vgl. auch 219). - Im Jerusalemer Heiligtumskonzept spielt nach H. das von ihm sog. "Fülle"-Motiv eine wesentliche Rolle. H. begründet das Motiv von einem Entsprechungsverhältnis der ML’-Aussagen von Jes 6,1 und 3 her ("Gewandsäume", die den Tempelhauptraum ausfüllen - "Herrlichkeit" als "Fülle der ganzen Erde", 77 f.78 ff.100, vgl. Exkurs 3: "Schreckensglanz" und Gewandmetapher in Mesopotamien, 69-76). Da H. die Prädikationsstruktur des identifizierenden Nominalsatzes Jes 6,3d: "Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit" als in beide Deutungsrichtungen bewusst offengelassen ansieht (P - S/S - P)5, kann er für das Heiligtumskonzept nach Jes 6,3 folgern: "der aus dem Heiligtum nach außen ausstrahlenden ,Herrlichkeit’ entspricht die in Gestalt der Lebewesen [hier verstanden als ,Fülle der ganzen Erde’!] und ihres Lobpreises Gott zur ,Ehre’ gereichende ,Herrlichkeit’ der ,ganzen Erde’" (101, vgl. 108). Freilich teilt die aus Num 14,21 und Ps 72,19 erhobene liturgische "Fülle"-Formel mit Jes 6,3 streng genommen nur die Vorstellung einer Erfüllung der ganzen Erde mit der "Herrlichkeit" JHWHs (104, 101-105): diese und nicht die Lebewesen sind als das die ganze Erde Erfüllende prädiziert, vgl. Hab 3,3 und (von JHWH selbst gesagt!) Jer 23,24 (104 f.).

Im III. Kapitel des Hauptteils versteht es H. aufs Ganze gesehen sehr überzeugend, exegetisch und religionsgeschichtlich (vgl. besonders die Exkurse 4, 5 und 6 zur Symbolik von Tor und Schwelle in Mesopotamien, zu Tür und Drehzapfen als numinose Mächte bei den Hethitern sowie zu religionsgeschichtlichen Analogien des Motivs des Tempel füllenden Rauchs) die "Gerichtspräsenz" Gottes im Heiligtum als spezifischen textlichen Aspekt der Rezeption und Transformation eines vorausgesetzten Heiligtumskonzepts und damit der Intention von Jes 6 herauszuarbeiten (vgl. resümierend die tabellarische Übersicht 182 f. und die Ergebniszusammenfassung 216-223). Das gilt für das Beben der Schwellen in Jes 6,4a, für den "Rauch" von 4b (nicht die "Wolke" kultischer Tradition!), verstanden als bewusste Abwandlung von "Fülle"-Aussagen der Jerusalemer Kulttradition und näherhin als Zeichen des Zorns und der "Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum" (165, 161-166). Es gilt auch für die Beziehung der "Fülle"-Aussage von Jes 6,4b (Rauch!) und Jes 6,11 (166-183)6, sodann für die Serafim von Jes 6 (182-204).

Für die Frage nach dem Konzept des göttlichen Wohnorts sei besonders noch auf die von H. im Zusammenhang mit Jes 6,4b vorgelegte Analyse des vordeuteronomistischen Tempelweihspruchs 1Kön 8,12-13 (in seiner gegenüber Septuaginta kürzeren masoretischen Form) hingewiesen. Dem Spruch sind sekundär die Verse 8,10-11 vorangestellt (144-149). Das Überlieferungsstück 1Kön 8,12-13 führt auf eine traditionsgeschichtliche Voraussetzung der Jesajavision: ’rpl "Wolkendunkel" kennzeichnet demnach den mythischen Wohnbereich der Gottheit, vielleicht durch die lichtlose Cella des Tempels symbolisch repräsentiert und mit der Gottesbergvorstellung verbunden (147). Das "Wolkendunkel", in dem JHWH nach 1Kön 8,12 wohnen will, signalisiert nach H., dass die vorexilische Jerusalemer Kulttradition nicht nur die Vorstellung einer heilvollen Präsenz JHWHs im Heiligtum und in der Welt enthält (Kabod!), "sondern auch - durch die Aufnahme von Wettergottvorstellungen - die einer unzugänglichen Transzendenz des Wohnorts Gottes" (149). Für H. deutet sich darin gewissermaßen eine Kehrseite des heilvollen Tempelkonzepts an, das von einer Zugänglichkeit Gottes bzw. des göttlichen Bereichs im Kult ausgeht (vgl. 219).

Die spezifische Gestaltung und Intention von Jes 6 kann abschließend ein Vergleich mit der Erzählung von der Unterweltsvision eines assyrischen Kronprinzen (Kummâ) sowie 1Kön 22,19-22 verdeutlichen (205-216). Der Text dieser in einem späten Babylonisch geschriebenen Visionserzählung (nach der grundlegenden Bearbeitung durch W. von Soden um 670 v. Chr. zu datieren) wurde nachhaltig durch H.-P. Müller in die Diskussion zu Jes 6 eingeführt7; der Vergleich mit der Vision des Micha ben Jimla in 1Kön 22,19-22 ist bekanntlich längst in der Exegese von Jes 6 etabliert. Die Rahmenszenerie aller drei Texte bezeichnet H. als "Thronvision", ohne dies als eine bestimmende "Gattung" zu betrachten (215). H. will sogar vermuten, dass das Heiligtumskonzept der Jesajavision eine Aufnahme und Umformung assyrischer Vorstellungen in die Jerusalemer Kulttradition voraussetzt und dass der Text Jes 6 in konkreter Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössischen Texten seiner Umwelt steht (213.216). H. mag mit dieser Vermutung auf ziemlich dünnes Eis geraten und Strukturparallelen von Texten und Motiven (in dem kulturell gewiss offenen Milieu Jerusalems) zu rasch als konkrete textliche Referenz bewerten. Seiner Feststellung zur Datierung von Jes 6, nichts spreche gegen eine Abfassung der Jesajavision durch den Propheten, wird man jedoch mit guten Gründen folgen können. Möglich, mir aber von Skopus und Situationsbezug des Textes her weniger wahrscheinlich ist die alternative Vermutung, Tradenten hätten Jes 6 in der ersten Hälfte des 7. Jh. v.Chr. verfasst (216).

Als Schluss seiner Untersuchung bietet H. einen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Vorstellung vom Wohnort JHWHs (224-250). Er erkennt exemplarisch in 1Kön 8 (V. 12-13. 27. 30) eine Entwicklung, "die von der engen Verbindung von bergeshohem JHWH-Thron und Heiligtum über die explizite Verortung des Throns im ,Himmel’ zu einer völligen Infragestellung jeder räumlichen Festlegung vorangeschritten ist" (226, 224-228). Um seine Hypothese von einer fehlenden Verortung der Wohnung Gottes im "Himmel" in vorexilischer Jerusalemer Kulttradition weiter zu stützen, erörtert H. in seinem "Ausblick" die wohl frühexilischen Texte Ps 74 und (als etwas späteren Text) Thr 5 (229-244 und 244-248 mit Folgerungen 248-250). Beide Texte handeln vom zerstörten Heiligtum, nennen aber nicht explizit den Wohnort Gottes. Statt einer konkreten räumlichen Verortung der göttlichen Sphäre legen sie jedoch alles Gewicht auf die Dimension der "größeren" Zeit Gottes (vgl. schon Ps 93,1-2). Ps 74 sucht die notvolle Gegenwart durch die Vergegenwärtigung der heilvollen Anfangszeit des Volkes (qdm mit der Qualität des Uranfänglichen), angebunden an die größere Zeit Gottes, zu bewältigen (vgl. auch Thr 5,21). Thr 5 betont den trotz der Verwüstung Zions dennoch ewig thronenden ewigen Gott (5,19).

H.s materialreiche, mit enormem Fleiß geschriebene und intensive Untersuchung konzentriert sich textlich auf Jes 6,1-4. Sie verdient jedoch gerade auf Grund ihrer konsequenten und umfassenden traditions- und religionsgeschichtlichen Erarbeitung dieses Textes, seiner besonderen Gestaltung kultischer Tradition und seiner unheilsbezogenen Intention hohe Beachtung in der Jesajaforschung wie auch als Beitrag zur Diskussion der Jerusalemer Kulttradition. Überzeugend weist H. die Bedeutsamkeit der Unterscheidung zweier Sinn- bzw. Wirklichkeitsebenen für das Jerusalemer Heiligtumskonzept in Jes 6 nach: der Tempel auf dem Zion einerseits und die göttliche Sphäre sowie der Weltbereich andererseits, verbunden durch eine Logik symbolischer Entsprechungen. Seine Hypothese von der Umformung Jerusalemer Kulttradition von JHWHs Königsherrschaft und dem Ort des Gottesthrons seit frühnachexilischer Zeit auf der Basis der Erfahrung einer Unzugänglichkeit Gottes erscheint plausibel: "Die ausdrückliche Lokalisierung des JHWH-Throns im ,Himmel’ gehörte vermutlich nicht schon zu den Voraussetzungen dieser Umformung, sondern erst zu ihren Ergebnissen ..." (250). Modifikationen und weitere Differenzierungen schon in der vorexilischen Jerusalemer Kultkonzeption sind da freilich nicht ausgeschlossen.8

Es erstaunt allerdings, dass H., gerade wenn Jes 6 den Jerusalemer Tempel voraussetzt, nicht das zentrale Thronsymbol des salomonischen Tempels, das darin aufgestellte Kerubim-Paar als Thronsitz des unsichtbaren Gottes und damit verknüpft das Epitheton des "Kerubimthroners" der Jerusalemer Kulttradition in die methodische Fragestellung einbezieht.9 Auch das Fehlen eines expliziten Hinweises auf den traditionellen Kerubimthroner in Jes 6 ist bedeutungsvoll. Es dürfte dafür sprechen, dass wir, auch nach Abzug der spezifischen gerichtspräsentischen Gestaltungszüge in Jes 6, die Jesajavision nicht in jeder Hinsicht als Beschreibung dessen verstehen sollten, was jeder JHWH-Verehrer in Jerusalem gemäß dortiger Kulttradition wissen und glauben konnte. So gehört der "hohe" und "aufragende" Gottesthron von Jes 6,1, der traditionelle Gottesbergtopik verrät, gewiss der zweiten Sinn- und Wirklichkeitsebene (die hintergründige göttliche Sphäre) im Jerusalemer Heiligtumskonzept an. Er wird aber in der Vision als eine neue, im Tempelraum so nicht generell vorgestellte Größe (morphosyntaktisch nicht determiniert, anders als 1Kön 22,19!) eingeführt. Dies scheint mir ein Ansatzpunkt (u. a.!) für die Annahme zu sein, dass wir auf der ersten Sinn- und Wirklichkeitsebene des Heiligtumskonzepts (Gottes Wohnen im Tempel) auch von Jes 6 her mit einer traditionellen kultischen Vorstellung vom Thronen Gottes über den Kerubim im Debir, der Gotteswohnung des Tempelhauses (1Kön 6,23-28; 8,6-7) zu rechnen haben. Diese erste Sinn- und Wirklichkeitsebene des göttlichen Thronens im Jerusalemer Tempel wäre genauer abzuheben und zu rekonstruieren, wie dies m. E. mit überzeugendem Ergebnis O. Keel (1977) versucht hat.10

Dies und weitere mögliche Ansätze der Kritik wollen den gewichtigen Ertrag der gründlichen Untersuchung H.s nicht schmälern. Sie dürfte die Forschungsdiskussion zu Jes 6 und zum Jerusalemer Heiligtumskonzept nachhaltig herausfordern und inspirieren.

Fussnoten:

1) H. bevorzugt die Bezeichnung "Jerusalemer Kulttradition" gegenüber dem ebenfalls gebräuchlich gewordenen Terminus "Tempeltheologie" (4 Anm. 8), da sie deutlicher die Möglichkeit verschiedener Konzepte sowie deren diachronen Wandel impliziert.

2) Vgl. H.s knappen Hinweis auf einen Sinnbezug von Jes 6,3 und 11 (199), ohne diesen jedoch adäquat in die gesamte Intentionsanalyse zu integrieren.

3) Im Anschluss an H. vgl. (stark vereinfachend) A. Schart, Die Entgrenzung des heiligen Raumes. Tempelkonzept und Tempelkritik in der biblischen Tradition: Pastoraltheologie 86, 1997, 350 (348-359): "Gott thront nicht im Himmel, sondern auf dem Gottesberg".

4) Der göttliche Hofstaat, den Jes 6,1-3 voraussetzt, ist in Israel/Juda schwerlich erst in exilisch-nachexilischer Zeit "himmlisch" verankert worden, auch wenn etwa Ps 89,6-9 aus (früh)exilischer Zeit stammt. 1Kön 22,19-22 setzt noch nicht ein astralisiertes und Gegenstand kultischer Verehrung gewordenes "Himmelsheer" voraus, wie dies in Texten des späten 7. und des 6. Jh.s der Fall ist (z. B. 2Kön 23,4.5; Zeph 1,5; Jer 19,13). In diesem Zusammenhang ist etwa auch auf das Motiv des "Herabsteigens" (YRD) der Gottheit hinzuweisen, das auch der Jerusalemer Kulttradition angehören dürfte (vgl. Jes 31,4!, ferner Ex 3,8; 19,11.18.20 u. a.). Es stellt auf einer vertikalen Achse ein "oben" vor, das ohne die Konnotation der Himmelshöhe kaum zu denken ist (z. B. Ps 18,10, vgl. V. 7.17). Auf die Forschungsdiskussion um den Aufstieg JHWHs zum "höchsten Gott", die Uranisierung und Solarisierung JHWHs zumindest in der mittleren und späteren Königszeit kann hier nur verwiesen werden, vgl. zuletzt besonders B. Janowski, JHWH und der Sonnengott. Aspekte der Solarisierung JHWHs in vorexilischer Zeit, in: J. Mehlhausen [Hrsg.], Pluralismus und Identität: Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 8, Gütersloh 1995, 214-241 (bes. 228 ff).

5) Eine sprachlich wenig befriedigende Auskunft (80)! Mir scheinen immer noch die besseren Argumente für eine Deutung von Satz 3d im Sinne P - S zu sprechen, zumal wenn man darin eine Kontrastaussage zu einer geläufigeren kultischen Vorstellung vom primären Ort des Kabod im Tempel erkennt: Die ganze Erde ist es, die von der Ehre heischenden Herrlichkeit des JHWH Zebaot erfüllt ist, nicht nur der Tempel, vgl. H. Irsigler, Gott als König in Berufung und Verkündigung Jesajas, in: FS. N. Füglister, Würzburg 1991, 134 Anm. 15; 145 f.

6) Schwieriger erscheint es mir, die in V. 11 angekündigte Verödung als eine bewusste Kontrastierung zu einer tempelliturgisch verankerten Aussage von der "Fülle der Erde" (Satz 3b) zu interpretieren, wenn darunter die belebte und bewohnte Sphäre der Menschenwelt bzw. der Lebewesen verstanden wird, die Gott ihren (auch stummen) Lobpreis darbringen (175-176, vgl. 101). Eher dürfte die die ganze Erde erfüllende und somit universale Königsmajestät (Kabod) JHWH Zebaots, in der sich seine verzehrende Heiligkeit Ehrfurcht gebietend äußert und auswirkt, kontextuell in Jes 6 als die Bedingung der Möglichkeit, der Grund für die Macht und das Recht zu einer so umfassenden Vernichtung erscheinen, wie sie V. 11 formuliert.

7) Zuletzt in ZAH 5, 1992, 163-165.

8) S. o. Anm. 4 zur kosmisch-himmlischen Konnotation der göttlichen Sphäre über die traditionelle Gottesbergvorstellung hinaus. Neben der Vorstellung, dass der irdische Tempel den mythisch-kosmischen göttlichen Wohnort symbolisch repräsentiert, lässt sich mindestens für die späte Königszeit Judas nach Thr 2,1 (ferner Ez 43,7; Ps 132,7; 99,5.9; Jes 60,13) eine (weitere) Differenzierung des Wohnkonzepts annehmen: Der Tempel und der Zionsberg insgesamt bilden den "Schemel" von JHWHs Füßen; die Gottheit thront dann in einem kosmisch-himmlisch vorgestellten Wohnort, ohne dass die traditionelle Hinordnung auf den Zion und die alte Konnotation des Gottes- und Weltenberges aufgegeben wäre.

9) Gewiss liegen dazu gründliche Untersuchungen vor, vgl. exemplarisch B. Janowski, Keruben und Zion. Thesen zur Entstehung der Zions-tradition, in: FS K. Koch, Neukirchen-Vluyn 1991, 231-264, sowie schon O. Keel, JHWH-Visionen und Siegelkunst. Eine neue Deutung der Majestätsschilderungen in Jes 6, Ez 1 und 10 und Sach 4, SBS 84/85, Stuttgart 1977, 15-45.

10) O. Keel (s. Anm. 9), bes. 23-29. 4, in: 29-35 (26.35!): Der Thronende füllt in dieser anthropomorphen kultischen Vorstellung den Debir praktisch aus. Vgl. H. Irsigler (s. Anm. 5) 140-143: Jes 6 formuliert mit der raumsprengenden Gotteserscheinung nicht bloß traditionelles Wissen als visionäre Wirklichkeit. Vielmehr sprengt das Bild ein ,Normalkonzept’ vom im Debir des Jerusalemer Tempels unsichtbar thronenden, anthropomorph vorgestellten Gott. H. (42 Anm. 46) trifft m. E. in seiner Stellungnahme den Skopus des von mir v. a. zum Kerubimthroner (a. a. O. 140 f.) Gesagten nicht.