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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

580–582

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Casper, Bernhard

Titel/Untertitel:

»Geisel für den Anderen – vielleicht nur ein harter Name für Liebe«. Emmanuel Levinas und seine Hermeneutik diachronen da-seins.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Karl Alber 2020. 240 S. Geb. EUR 34,00. ISBN 9783495490808.

Rezensent:

Claudia Welz

Dieser Band sammelt zehn Studien zur Bedeutung des Denkens von Levinas aus der Feder des emeritierten Freiburger Professors für Christliche Religionsphilosophie Bernhard Casper. Wie aus dem Vorwort hervorgeht, entstanden die Studien in den letzten zehn Jahren zumeist aus Anlass von Forschungskolloquien (13).
Vorangestellt ist ihnen nach einer kurzen biographischen Einführung das Skript eines bemerkenswerten Gesprächs mit Levinas, das C. 1981 in Paris mit ihm geführt hatte. Darin kommen die Hauptmotive des Denkens von Levinas zur Sprache, z. B. das Antlitz des Anderen, das ein »Anrufen« (21) bedeutet, in dem »Gott einfällt« (22), und die bis zum Geiselsein für den Anderen reichende Verantwortung (22 f.). Das Geiselsein ist für Levinas »vielleicht nur ein harter Name für Liebe« (24) – eine Aussage, die so charakteristisch ist, dass C. sie in den Buchtitel aufgenommen hat. Wie er in einer Fußnote erklärt (38, Anm. 19), meinte »Geisel« (obses) ursprünglich den mit seinem eigenen Leib und Leben bürgenden Gewährsmann. In der Antike wurden vornehme Personen z. B. bei Friedensschlüssen dem Gegner übergeben, und bei der Verletzung von Vereinbarungen hatten sie ihr Leben verwirkt. Im Interview mit Levinas ist überdies die Rede von der in der Humanität aufscheinenden Spur der Herrlichkeit des Unendlichen (25 f.), von der Fruchtbarkeit als Möglichkeit »jenseits alles Möglichen« (27), der »Exzellenz« der als Brüderlichkeit gelebten Pluralität (29), dem Jude-sein als Lesen jüdischer Schriften und dem Philosophieren als Übersetzen des Gottesworts in »die Sprache der Universalität« (31). Das Verhältnis von Judentum und Christentum wird als zwei parallellaufende Wege (33) gesehen, deren Gemeinsamkeit das Prophetische ist (34).
Abgeschlossen wird der Band mit Textnachweisen der allesamt schon früher publizierten Studien, einem Abkürzungsverzeichnis und einem ausführlichen Inhaltsverzeichnis. Was den Band auszeichnet, ist, dass C. seine Studien nicht nur auf Levinas’ bereits ins Deutsche übersetzte Hauptwerke stützt, sondern auch auf seinen im deutschen Sprachraum noch wenig bekannten, in drei Bänden auf Französisch veröffentlichten Nachlass, darunter die carnets de captivité, die Hefte aus seiner deutschen Kriegsgefangenschaft. Dadurch können einige Pointen geschärft werden. So macht Levinas explizit, was seine Philosophie von derjenigen Heideggers unterscheidet: die Bedeutung des Anderen (112.164). Freiheit schließt für Levinas Verantwortung ein (113). Spannenderweise greift er auch die Frage nach dem Heil auf, mit der Einsicht, dass sich kein Mensch selbst befreien kann (115). Levinas will den Begriff der felix culpa rehabilitieren, die glückliche Schuld im Sich-ereignen der Ge­schichte zwischen sterblichen Menschen und ihrer Erwählung zur Liebe (170 f.), wobei das Heil nicht im Sein liege, sondern im Ausbruch aus dem Sein, in »der Möglichkeit zu sein, als ob man noch nicht gewesen wäre«; hierzu notiert Levinas das Wort Wiedergeburt auf Deutsch (107.76.169.180), entgegengesetzt der Ewigkeit (136). Auch die Vergebung spielt eine zentrale Rolle im Blick auf eine gereinigte Gegenwart und eine bessere Zukunft (222 f.).
»Le salut n’est pas l’être« wird mehrfach zitiert (70.77.117. 149. 156.179), und auch andere Hauptgedanken werden so oft wiederholt, dass man sich wünscht, die Studien wären bei ihrer Buchwerdung noch einmal auf Dubletten, Tripletten etc. überprüft worden. So liest man mindestens fünfmal, dass Levinas ›Subjektivität‹ durch ›Hypostase‹ ersetzen wollte (53.76.108.167.205), und mindestens zehnmal, dass die metaphysische Grundfrage, warum etwas und nicht vielmehr nichts ist, für Levinas zur Frage wurde, warum er selbst das Recht habe, zu sein (66.76.106 f.145 f.161.167.178.181.218). Der Gedankengang der Essays ist oft rein assoziativ via Stichwortverknüpfung.
Dessen ungeachtet ist die Lektüre ein Bildungserlebnis. Levinas’ Hermeneutik zeitlichen Daseins wird in C.s Essays einerseits im Verhältnis zur Phänomenologie Husserls und Heideggers verortet, andererseits im Gespräch mit Rosenzweigs, Ebners und Bubers Dialogphilosophie. Von Rosenzweig rezipierte Levinas vor allem das Be­dürfen des Anderen (140) und die Entdeckung des Ereignisses von »Sprache in ihrem ganz wirklichen Gesprochenwerden – in Wort und Ant-wort« (50, leider ohne Verweis auf die Quelle, den Stern der Erlösung; diese Stelle wird von C. teils zitiert, teils paraphrasiert und abweichend vom Original kursiviert, vgl. 77). Rosenzweig und Levinas werden gleichsam ›ineins‹-gelesen, indem beide oft im selben Satz zitiert werden (vgl. 218 f.), als gäbe es keinerlei sprach- und zeitphilosophische sowie theologische Unterschiede. C. verweist auf das Vorwort zu Totalité et Infini, wonach Rosenzweigs Stern in Le­vinas’ Buch zu oft gegenwärtig ist, um zitiert zu werden (60), und arbeitet dann ebenfalls im ›Freistil‹ und spart sich so manchen Beleg.
C. betont aus gutem Grund Levinas’ gründliche Kant-Kenntnis. So rekurriert Levinas auf Kants These vom Primat der praktischen Vernunft, wobei all das praktisch ist, was durch Freiheit möglich ist (42.200). Jene Passivität, die laut Levinas nicht mehr als korrelativ zu Akten gedacht werden kann, identifiziert C. mit dem in Kants Opus postumum genannten Hören: »Das Denken ist ein Sprechen und dieses ein höhren« (62, vgl. 194.198); doch fragt es sich, ob dieses »vorbehaltlose« (63) Hören nicht ein Minimum an Rezeptivität, wenn nicht sogar Aktivität enthalten muss. C. diskutiert das nicht, sondern geht aus von einer »hörenden« Passivität (85). Es hätte sich angeboten, auch einen Kontrast zwischen Kant und Levinas herauszustellen, z. B. Levinas’ Verständnis von Verantwortung, die im Verhältnis zur Freiheit vorzeitig ist (73), anstatt Freiheit vorauszusetzen.
Auf jeden Fall bietet C. seinen Lesern ein Füllhorn an aufschlussreichen Informationen und Überlegungen. Dass Levinas vermutlich durch den Straßburger Aristotelesforscher und -übersetzer Henri Carteron die in den Titel seines ersten Hauptwerks Totalité et Infini. Essais sur l’extériorité (1961) eingehende Differenz zwischen holon und apeiron (totum vs. infinitum) kennenlernte, ist nur ein Beispiel dafür: Unendlich ist nur das, was immer noch etwas außerhalb seiner selbst lässt (38 f.204). Das Aufzeigen solcher Zusammenhänge und geistesgeschichtlicher Familienähnlichkeiten ist die große Stärke dieses Buches.