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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

576–578

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hilpert, Johanna

Titel/Untertitel:

Neologie in Jena. Johann Christoph Döderleins Wirken in Theologie und Universität.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XV, 404 S. = Beiträge zur historischen Theologie,196. Lw. EUR 99,00. ISBN 9783161594182.

Rezensent:

Marco Stallmann

Hatte die Universität Jena aufgrund ihrer Gründungsgeschichte lange als »Hort des wahren Luthertums« gegolten, so durchlebte sie im 18. Jh. eine tiefgreifende Modernisierung. Diese Aufbruchs-bewegung hin zu einem Zentrum der Aufklärung in theologie-historischer Perspektive nachzuzeichen, hat sich die vorliegende Studie von Johanna Hilpert zur Aufgabe gemacht, die im Wintersemester 2017/2018 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation im Fach Kirchengeschichte angenommen und 2019 mit dem Promotionspreis der Universität ausgezeichnet wurde. Mit dem Jenaer Theologieprofessor Johann Christoph Döderlein (1746–1792) steht ein Hauptprotagonist der moderaten Aufklärungstheologie im Mittelpunkt, der in dem genannten Modernisierungsprozess eine zentrale, wenngleich bisher unzureichend erforschte Rolle spielt. Damit ist auch die untersuchte Fragestellung benannt, die in der Einleitung klar umrissen und diskutiert wird. Die Arbeit bezieht aktuelle wie ältere Forschungen und Editionen zur theologischen Aufklärung ein und greift mit kritischem Weitblick auf die universitätsgeschichtlichen Beiträge des Sonderforschungsbereiches »Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800« zurück. Der methodisch durchdachte Aufbau zerfällt in fünf größere Abschnitte (A–E), die wiederum in sich differenziert sind und aufschlussreiche Ergebnisse fixieren:
Während seiner frühen Tätigkeit als Professor und Diakon in Altdorf profiliert sich Döderlein in den 1770er Jahren auch gegen Widerstände an der Fakultät als exegetisch kompetenter Aufklärungstheologe, dessen historisch-grammatische Schriftauslegung in seinen »Antifragmenten« im Kontext der Reimarus-Kontroverse erstmals zur Anwendung kommt (A). Mit dem Wechsel an die Herzoglich-Sächsische Gesamtuniversität Jena im Jahr 1782 verstärkt und stabilisiert er die theologische Fakultät, die mit Johann Jakob Griesbach und Johann Gottfried Eichhorn 1775 bereits zwei bedeutende Vertreter der neologischen Bibelwissenschaft gewonnen hatte und aufgrund der fürstlichen Reformbestrebungen ein zunehmend wissenschaftsfreundliches Klima genoss (B). Im Hinblick auf Döderleins Wirken in Jena arbeitet die Untersuchung eindrucks-voll die wissenschaftspolitischen Konfliktfelder vor dem Hintergrund der ernestinischen Erhalterstruktur und die persönlichen Spannungen im Beziehungsgeflecht der Jenaer Professoren aus den Quellen heraus: Aufgrund der scharfen Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der Fakultät und den Umgang mit studentischen Orden konnte sich Döderlein beispielsweise trotz seines guten Rufes als akademischer Lehrer nie richtig in Jena zuhause fühlen (C).
Neben dieser universitätsgeschichtlichen Quellenanalyse bildet die Untersuchung der theologischen Hauptschriften und der vielseitigen Herausgebertätigkeit Döderleins den zweiten größeren Komplex der Studie. Insbesondere die deutsche Übersetzung der in Altdorf verfassten Dogmatik formulierte als »Christlicher Religionsunterricht nach den Bedürfnissen unserer Zeit« einen Grundkonsens der neologischen Akkommodationstheorie und ließ Döderlein am intensivierten populartheologischen Diskurs des 18. Jh.s federführend partizipieren (D). Das umfangreichste Kapitel (E) fasst am Ende die Grundzüge von Döderleins »vermittelnder Theologie in der Spätphase der Neologie« (253) zusammen und evaluiert kritisch deren Potential und Grenzen unter Einbeziehung einschlägiger Urteile über den »Mann der Mitte« (348). Mit dieser Bezeichnung profiliert H. ihren Protagonisten als eklektischen, zwischen biblisch-dogmatischer Tradition und philosophischer Vernunft sorgsam abwägenden sowie gegenüber einseitiger Polemik und radikalem Rationalismus zurückhaltenden Gelehrten, dessen Mäßigung gelegentlich den Eindruck positioneller Unbestimmtheit erweckt und dennoch für die reflektierte Ablösung des orthodoxen Systemdenkens im 18. Jh. unbestritten repräsentativ ist. Wenn daher von einem »Bruch mit der Tradition« (356) die Rede ist, darf dies nicht im Sinne einer scharfen Abgrenzung vom Altprotestantismus missverstanden werden, vielmehr lassen sich Döderleins Schriften in den geschichtlichen Horizont einer modernefähigen Umformung des Christlichen einordnen.
Das übergeordnete Anliegen der Untersuchung, Theologie- und Universitätsgeschichte konstruktiv miteinander zu verbinden, wird bereits im Titel »Neologie in Jena« deutlich. Den damit in den Mittelpunkt rückenden Neologiebegriff definiert H. »in Abgrenzung« zu Döderleins Jenaer Nachfolger Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, dessen von Kant beeinflusste, spätaufklärerische Auslegung der »Vernunftreligion Jesu« gegenüber den Neologen »eine andere Form der Aufklärungstheologie« (4) repräsentiere. Diesbezüglich hätte noch die neuere Forschungstendenz aufgegriffen und diskutiert werden können, im theologischen Rationalismus weniger einen geschichtlichen Abschnitt als vielmehr ein durchgehendes Strukturmoment der Aufklärung zu sehen und gleichzeitig den (ursprünglich sogar negativ konnotierten) Neologiebegriff in seiner historiographischen Aussagekraft und Eindeutigkeit zu hinterfragen. Dennoch wird deutlich, dass die Arbeit den Begriff in einem heuristisch-pragmatischen Sinne gebraucht und nicht von allzu distinkten Lehrbestimmungen oder Periodisierungen, sondern von einem vielschichtigen Religionsdiskurs ausgeht, der mit Blick auf konkrete Fachdebatten, etwa zur Frage nach der Seligkeit der Heiden (vgl. 254–270), zur Versöhnungslehre (vgl. 316–335) oder zur Wunderthematik (vgl. 336–348), aus der Perspektive Döderleins rekonstruiert wird.
Wenngleich rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen in den einzelnen Kapiteln aufgeworfen werden, etwa bei der Auswertung einschlägiger Rezensionen, konzentriert sich die quellengesättigte Arbeit nachvollziehbar auf die Anschlussfähigkeit der Jenaer Theologie an die Problemstellungen und Transformationsprozesse des 18. Jh.s. Die entsprechenden Langzeitwirkungen werden am Ende lediglich angedeutet: »Es ist das Verdienst der Jenaer Neologen, dass der Theologischen Fakultät in Jena der Übergang ins 19. Jahrhundert gelang« (357). Diesbezüglich hätte der Leser gerne mehr erfahren, aber damit wäre die methodische Anlage wohl aus dem Gleichgewicht gebracht worden. Kurz rückt noch der an der Fakultät geschätzte »Spätneologe« (357) Johann Philipp Gabler in den Blick, der mit seiner wegweisenden Unterscheidung von biblischer und dogmatischer Theologie auf den Erkenntnissen seiner Jenaer Lehrer aufbaute und die »Neologie in Jena« ab 1804 auch als Professor ins neue Jahrhundert überführte. Zur differenzierten Erforschung dieser geschichtlichen Übergänge leistet die vorliegende Studie einen wertvollen Beitrag, der auch interdisziplinäre Stimulierungen freisetzen dürfte. Die Arbeit ist durchgehend verständlich geschrieben und bietet neben dem sinnvoll gegliederten Quellen- und Literaturverzeichnis einen aufschlussreichen Lebenslauf Döderleins. Das Register der Personen, Orte und Sachen erleichtert die gezielte Texterschließung und rundet den Band ab. Insofern darf die intensivierte theologische Aufklärungsforschung Goethes Rede von Jena als einer »Stapelstadt des Wissens« wohl zunehmend auf sich selbst beziehen.