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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

571–573

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bloch, Gregor

Titel/Untertitel:

Calvinismus und Aufklärung. Die calvinistischen Wurzeln der praktischen Philosophie der schottischen Aufklärung nach Francis Hutcheson, David Hume und Adam Smith.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIV, 425 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 191. Lw. EUR 99,00. ISBN 9783161569890.

Rezensent:

Christian Weidemann

Es ist ein bemerkenswertes Phänomen der Geistesgeschichte, dass manchmal an einem bestimmten Ort binnen weniger Jahrzehnte eine Phalanx an Denkern, Autoren und Künstlern auf den Plan tritt, deren Werk die Welt verändert – während sich zur gleichen Zeit in der unmittelbaren Nachbarschaft kaum Revolutionäres ereignet. Das Athen des 5. und 4. vorchristlichen Jh.s liefert hierfür das wohl erstaunlichste Beispiel. Schottland beheimatete im 18. Jh. nur knapp ein Fünftel der Bevölkerung Englands und blieb auch an politischer Bedeutung und wirtschaftlicher Stärke weit hinter dem großen Nachbarn zurück. Trotzdem erlebte die Region eine beinahe beispiellose intellektuelle Blüte. Edinburgh galt als »Athen B ritanniens«. Die Schotten zeigten sich als mindestens ebenbür-tige Naturforscher, während sie die Engländer auf dem Gebiet der Philosophie an Originalität übertrafen. Worin lagen die Ursachen der »schottischen Aufklärung«? Eine Teilerklärung liefern das Schulsystem sowie die hervorragenden Universitäten, von denen die Schotten drei mehr als England besaßen. Zudem hatte der jahrhundertelange politische und religiöse Antagonismus auf der britischen Insel bei den zahlenmäßig unterlegenen Bewohnern des Nordens einen Widerspruchsgeist kultiviert, der die Infragestellung althergebrachter Überzeugungen und wissenschaftlichen Fortschritt begünstigte. Welche Rolle spielte es, dass der reformierte Glaube in Schottland vorherrschend war? (1690 wurde der Presbyterianismus gesetzlich als Nationalreligion etabliert.) »Wurzelte« das Werk der großen schottischen Aufklärer gar im Calvinismus? Dieser Frage widmet sich die Dissertation Gregor Blochs.
Er konzentriert sich dabei auf Hutcheson, Hume und Smith. Die Auswahl ist aus zwei Gründen überraschend. Zum einen spart B. ausgerechnet den Common-Sense-Theoretiker Thomas Reid (1710–1796) aus, obwohl dieser jüngst von den prominenten calvinistischen Philosophen Nicholas Wolterstorff und Alvin Plantinga zum Stammvater einer im doppelten Wortsinn »reformierten« Erkenntnistheorie ausgerufen wurde. Zum anderen werden mit Hume und Smith zwei Autoren behandelt, die nicht nur nach allgemeiner Meinung dem Christentum ablehnend bzw. indifferent gegenüberstanden, sondern deren Werk auch in historischer wie systematischer Hinsicht bereits eine Flut an Literatur hervorgebracht hat.
Nach einer knappen Einführung in die Geschichte des schottischen Calvinismus zeigt B. zunächst überzeugend, dass Hutchesons Denken in starkem Maße seinem Lehrer, dem liberalen Presbyterianer John Simson (1667–1740), verpflichtet war. B. belegt ferner – wenn auch, ohne es zu merken –, dass Hutcheson besagten liberalen Presbyterianismus weiter verwässerte; so lange, bis nichts spezifisch Calvinistisches mehr zurückblieb. Ein drastisches Beispiel: »Indem Hutcheson Güte und Wohlwollen ins Zentrum sei-ner Ausführungen zur Bestimmung des göttlichen Wesens stellt, zeichnet er sich wiederholt als Rezipient der calvinistischen Theologie aus, in der die Güte ebenfalls als ein Wesensmerkmal Gottes betrachtet worden war.« (57) Genauso wie bei Anselm, Thomas, Luther, Anglikanern, Unitariern und Deisten! Außerdem: Hutcheson lehnte die Annahme einer Reihenfolge von Schöpfungsdekreten ab, über die es zwischen Infra- und Supralapsarianern zum Bruch gekommen war. Auch die Lehre der doppelten Prädestination wies er zurück. B. schreibt: Mit seinem »Festhalten an der Rede vom Ratschluss Gottes bleibt Hutcheson trotz der angezeigten Differenz im Grundsatz auf dem Boden der calvinistischen Theologie.« (60 f.) Nur dass auf diesem Boden eben auch Thomisten, Molinisten und (mit Ausnahme von Spinoza) sämtliche wichtigen theologischen Denker der Zeit Platz finden. Der vermeintlich calvinistische Einfluss auf Hutchesons Ethik und politische Philosophie be­schränkt sich ebenfalls auf christliche Allgemeinplätze wie die zentrale Bedeutung des Liebesbegriffs oder die Behauptung, dass Gott den Menschen einen moralischen Sinn (vgl. Röm 2,15) eingegeben habe. Den einzig wirklich überzeugenden Hinweis auf calvinis-tische Restbestände in Hutchesons Denken – die Unterscheidung von kommunikablen und inkommunikablen Attributen Gottes – verpatzt B. gründlich, indem er von »mittelbaren« und »unmittelbaren« (52.68 u. ö.) statt mitteilbaren und unmitteilbaren Eigenschaften spricht.
War David Hume ein Atheist? Aus seinen Schriften ergibt sich, dass er sowohl das Christentum als auch die deistische Vorstellung einer vernünftigen Urreligion ablehnte. Er attestierte dem Theismus eine Tendenz zu Intoleranz und Dogmatismus, verwarf den Glauben an Wunder ebenso wie gängige Lösungen des Theodizeeproblems und war skeptisch, was den Erfolg physikotheologischer Argumente betraf. Man muss es B.s intellektueller Redlichkeit zugutehalten, dass er in seiner ausgreifenden Analyse der Schriften Humes all das mehr oder weniger einräumt. Lediglich hinsichtlich der Physikotheologie verteidigt er eine implausible Minderheitenposition und nimmt an, Hume habe sich in den Dialogues ebenso sehr (oder gar mehr) mit dem Verteidiger natürlicher Theologie Cleanthes wie mit dem Skeptiker Philo identifiziert. Auch wenn die Dialogues (anders als die Natural History) erst postum erschienen, wird Humes (keineswegs unbegründete) Furcht vor Verfolgung von B. bei der Interpretation m. E. nicht genug gewürdigt. Wie auch immer: Falls Hume überhaupt an die Existenz Gottes geglaubt hat, dann nur in einem »dünnen Sinne« (Paul Russell), der die meisten Fragen hinsichtlich Eigenschaften und Handeln eines obersten Wesens offenließ. B. bemüht sich gleichwohl, Wasser (oder Whiskey?) aus einem harten Stein zu pressen: Die zentrale Rolle des Wohlwollens in Humes Ethik sei nur durch die positive Rezeption Hutchesons zu erklären und damit »aufgrund eines Transformationsprozesses innerhalb des schottischen Calvinismus in Bezug auf die Gotteslehre zu verstehen«; Hume sei daher als ein »Enkel des Calvinismus« zu betrachten (240).
Ein solches Diktum ist wohl nicht völlig falsch, genauso wenig, wie es völlig falsch ist zu behaupten, Kant sei ein »Spross des Pietismus«. Doch was helfen derartige Bestimmungen, wenn man das Werk oder gar die Argumente besagter Denker verstehen und beurteilen will? Nicht viel. Hutchesons Ethik enthält gewiss christlich motivierte Anteile. Sie mögen systematische Unterschiede zum Vorgänger und anderen wichtigen Moral-Sense-Theoretiker Shaftesbury erklären helfen, der im Christentum einen dubiosen Heilsegoismus am Werk sah (97 ff.). Aber in keinem irgendwie interessanten Sinne sind Hutchesons oder gar Humes Ethik calvinistisch. Wenn überhaupt, ist das Gegenteil richtig: Die meisten Presbyterianer der Zeit empfanden die Betonung der Güte und des Wohlwollens Gottes als Zumutung, wie der Prediger Hutcheson am eigenen Leib erfuhr (58).
Noch den größten Ertrag erbringt B.s calvinistische Spurensuche beim dritten der behandelten Philosophen, Adam Smith. Insbesondere die Ausführungen zur Sozialdisziplin und dem sogenannten praktischen Syllogismus verdienen Beachtung (z. B. 308. 371 f.), obgleich mir auch hier die Parallelen eher oberflächlich erscheinen.
Es lässt sich natürlich nicht leugnen: Hutcheson, Hume und Smith wuchsen unter Presbyterianern auf. Ihre intellektuelle Biographie wäre anders – und vermutlich weniger beeindruckend – verlaufen, wären sie unter Katholiken, Juden oder Anglikanern groß geworden. Wie B.s Buch aber unfreiwillig zeigt, ist diese Feststellung verträglich damit, dass sich in ihrem Werk kaum reformierte Motive, geschweige denn Theoriestücke, finden lassen. Man tut daher am besten daran, vorliegende Schrift als Einführung in Leben und (praktisch-philosophisches) Werk dreier interessanter Denker zu lesen. In dieser Hinsicht leistet sie Beachtliches. Von einigen Idiosynkrasien abgesehen (der Leser wird mit der vielhundertfachen Verwendung von Namensplatzhaltern – »der Ulster-Schotte«, »der Edinburgher«, »der Ostschotte« – gequält!), ist B.s Stil klar, die Darstellung der Positionen zumeist verlässlich. Leider wird nirgendwo gefragt, was von den Auffassungen der drei Denker der Sache nach zu halten ist. Den schottischen Aufklärern hätte das nicht gefallen.