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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

560–562

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sheridan, Ruth

Titel/Untertitel:

The Figure of Abraham in John 8. Text and Intertext.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2020. 472 S. = Library of New Testament Studies, 619. Geb. £ 90,00. ISBN 9780567238061.

Rezensent:

Lukas Bormann

Die meisten Exegeten ringen mit der Darstellung »der Juden« im Johannesevangelium. Zu offensichtlich werden hier Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe stereotypisierend dargestellt. In der Differenzkonstruktion, die das Johannesevangelium dem Leser geradezu aufdrängt, erscheinen diese Menschen als Gegner des von Gott gesandten Sohnes, der nichts anderes als die Werke des Vaters vollbringen möchte. »Die Juden« bestreiten seine Sendung und werfen ihm vor, er mache sich selbst zu Gott und sei besessen von einem Dämon. Sie wollen ihn steinigen und fordern seinen Tod. Das Othering (Spivak), das im Johannesevangelium gegenüber den Juden stattfindet, wird noch verschärft durch die Emotionalisierungsstrategien und die Affektsteuerung, die dieser neutestamentliche Text anwendet: »Die Juden« sind nicht nur Gegner, sondern stammen »vom Vater des Teufels«, der wiederum ein »Menschenmörder« und »Lügner« ist.
Dieser Höhepunkt der abwertenden Stereotypisierung »der Juden« ist in Joh 8,31–59 eingebunden in eine komplexe Diskussion um die Frage der wesensbestimmenden Zugehörigkeit. Jesus hebt hervor, dass er »von Gott« komme. »Die Juden« verweisen darauf, dass sie »von Abraham« abstammen und zum erwählten Volk Israel gehören. Die Kontrahenten sprechen sich wechselseitig diese Herkunft ab.
An diesem Punkt der Debatte setzt die zu besprechende Arbeit der australischen Exegetin Ruth Sheridan ein. Sie identifiziert mit vielen anderen in Joh 8,31–59 den »locus classicus of New Testament anti-Judaism« (1). Zugleich wird nur hier im Johannesevangelium und dies gleich elf Mal auf Abraham verwiesen. Es liege ein Diskurs vor, den es einer widerständigen Relektüre zu unterziehen gelte. Die Kommentarliteratur zum Johannesevangelium hingegen habe in ihrem Bemühen, die antijüdischen Aussagen zu erklären, bis auf wenige Ausnahmen der neueren deutschsprachigen Forschung (z. B. Dietzfelbinger, Theobald, Thyen) diese eher verstärkt (133.366 u. ö.). Die Vfn. sucht einen anderen Weg: Sie will eine Gegenlektüre entfalten, die die »Stimme der Juden« als Kinder Abrahams legitimieren soll (371).
Ein detaillierter, aber nicht umfassender Literaturüberblick in Kapitel 1 (81–45) führt zu dem Ergebnis, dass die bisherigen Untersuchungen zu sehr an quellenkritischen Fragen interessiert gewesen seien und die intertextuellen Bezüge, in denen die Nennungen Abrahams stehen, nicht genügend beachtet hätten. (8–41). Kapitel 2 (47–87) befasst sich mit den methodischen Grundlagen: die Intertextualitätstheorie von Roland Barthes, von dem die berühmte programmatische Aussage vom »Tod des Autors« stammt. Es gehe nicht darum, eine vermeintliche intentio auctoris des »Werkes« zu rekonstruieren, sondern vielmehr sei das relevante Ziel einer Textanalyse, die sinnbildende Verbindung des »Textes« zu anderen Texten und damit ein »Gewebe von Texten« zu interpretieren. Die Wahl der Methode führt dazu, dass Auslegungen, die historisch-kritisch vorgehen und das Johannesevangelium durch sein Verhältnis zu antiken Autoren verstehen möchten, mit dem abwertenden Etikett »Parallelomania« versehen werden (41 u. ö.). Selbst Arbeiten, die eine literaturwissenschaftliche Leserorientierung mit historischer Kritik verbinden wollen, wird vorgeworfen, dass sie letztlich nur eine Rückkehr zur Quellenkritik darstellten (56 f.). Die Vfn. hingegen versteht den Vergleich als einen Vorgang, der sich in der Imagination des Forschers abspiele (59). An die Stelle des in der Exegese vorherrschenden historistischen Paradigmas solle eine in­tertextuelle Lektüre treten, die es erlaubt, Texte ohne Berücksichtigung von Entstehungszeit und Abfassungsverhältnissen zum Verständnis des Johannesevangeliums heranzuziehen.
Kapitel 3 (89–130) unterzieht Joh 8,31–59 einer vertieften Analyse. V. 30, der von glaubenden Juden spricht, wird abgegrenzt. Diese seien nicht die Adressaten, sondern »Juden«. Der übrige Text wird in drei Teile untergliedert (8,31–37, 38–47 und 48–59). Dieser kohärent strukturierte Text wird dann in Beziehung zum Sukkotfest und dessen »kulturellen Code« gesetzt (112). Der »Sukkot-Diskurs« von der Hebräischen Bibel bis zur rabbinischen Literatur umfasse die Themen Sünde, Verdienst und Gnade, Ablehnung des Götzendienstes, Freude, die Gabe des Wassers, die Bedeutung Abrahams als Vorbild und Gast, Gottes unbedingte Fürsorge für sein Volk und das Lernen der Tora (130).
In den Kapiteln 4–6 werden jeweils drei mit Abraham verbundene Aussagen, die in Joh 8,31–59 vorkommen, intertextuell analysiert: Der »Same Abrahams« (131–226), die »Werke Abrahams« (227–313) und »das Sehen und die Freude Abrahams« (315–363). Das Vorgehen ist jeweils ähnlich strukturiert: Es werden relevante Aussagen der Hebräischen Bibel, der zwischentestamentlichen Literatur, Josephus, Philo, Neues Testament und Rabbinica ausgewertet (Teil 1), der johanneische Gebrauch analysiert (Teil 2) und die Ergebnisse beider Teile dann zu einer intertextuellen Lektüre zu­sammengeführt (Teil 3). Die in Joh 8 dargestellten Sichtweisen der Juden auf ihre Abstammung von Abraham sei »zutiefst rabbinisch (oder proto-rabbinisch)«, indem sie auf den befreienden Bund Gottes mit seinem Volk verwiesen (223). Die seltener zu fassende Wendung »Werke Abrahams« wird als »Toraobservanz« interpretiert (313). Die Vorstellung vom Sehen und der Freude Abrahams wird unter den Stichworten »Sehen« und »Freude« untersucht. Diese Überlegungen kommen zu einem eher intuitiven Ergebnis: In jüdischer Perspektive verwiesen diese Motive auf die Ablehnung des Götzendienstes, für die Abraham stehe, während das johanneische Verständnis eher Abraham als Mittlerfigur aufgreife (362 f.).
Die Vfn. nimmt für sich explizit eine »jüdische Perspektive« in Anspruch, die gegenüber dem Johannesevangelium eine »morbide Faszination« empfinde (366). Daraus entstehe eine widerständige Gegenlektüre, die sich dem dominanten, monologischen, ja ge­waltsamen Text entgegenstelle und ihn herausfordere, um die Stimme »der Juden« in Joh 8 zu legitimieren, d. h. ihren Bezug auf Abraham, die Tora und das Tun des Guten als berechtigt zu erweisen. Während die Taten Jesu niemand nachahmen könne, würden die Taten Abrahams vorbildlich wirken und letztlich auch die »Lebensrettung« einschließen, also gerade nicht zur Tötung Jesu führen (368 f., vgl. 313).
Insgesamt liegt eine lesenswerte Studie vor, die Fragen behandelt, die sich heute viele Leser des Johannesevangeliums stellen: Ist die Christologie nicht zu dominant, die Darstellung »der Juden« nicht zu negativ und schließlich die Gesamtkonzeption des Johannesevangeliums zu monologisch-deterministisch? Angesichts dieser Eindrücke ist es berechtigt und lohnenswert, die Dialogpartner Jesu deutlicher zu Wort kommen zu lassen, ihre Stimmen zu re­konstruieren und zu legitimieren. Die neueren Kommentare leis- ten dies in der Regel bereits (besonders Klaus Wengst). Da diese zudem historisch-kritisch denken und die Situation der bedrängten johanneischen Gemeinde im Blick haben, bieten sie eher Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen als die vorgelegte Arbeit, die sich aufgrund ihrer betonten Perspektivität und ihrer Bindung an eine bestimmte Intertextualitätstheorie als weniger anschlussfähig erweist. Ihre Stärke liegt in der Rekonstruktion der »Stimme der Juden« aus einer heutigen philologisch kontrollierten Leserperspektive, durch die sie einen wichtigen Beitrag zu dem Gespräch zwischen jüdischen und nichtjüdischen Lesern des Evangeliums leisten kann.