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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

491–493

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schoen, Ulrich

Titel/Untertitel:

Bi-Identität. Zweisprachigkeit, Bi-Religiosität, doppelte Staatsbürgerschaft. Mit einem Vorwort von A. Schimmel.

Verlag:

Zürich-Düsseldorf: Walter 1996. 264 S. 8. ISBN 3-530-30017-9.

Rezensent:

Christoph Elsas

Ein ausgesprochen gut lesbares Buch liegt vor, das aus einer Fülle von eigenen und aus Gesprächen nacherlebten praktischen Erfahrungen eine theoretisch durchdrungene und doch durch die vielen Beispiele und bildhaften Vergleiche lebendige Summe zieht: aus dem Leben als Doktor der Agrarwissenschaft und der Theologie in Deutschland, Marokko, Algerien, Libanon, Frankreich und in der Abteilung für interreligiöse Beziehungen am Weltkirchenrat in Genf. Das Buch will - und es gelingt ihm vorzüglich - zum Nachdenken anregen. Es möchte informieren, definieren, präzisieren, komplizieren und Fenster öffnen. Es möchte auch Menschen ansprechen, die sich die Frage der Identität und des Identitätsverlusts unserer Gesellschaft als Ganzer stellen "und deshalb Ängste erleben" (23): "Gesteine und Böden - reine und unreine Systeme - gehören beide zur Wirklichkeit" formuliert das Schlusskapitel (209-233, hier 227; als Anhang folgen knappe, informative Anmerkungen sowie zentrale Literatur und ein - m. E. verzichtbares - Glossar).

Den in den Kapiteln 2-4 behandelten Zentralthemen "Zwei Sprachen" (65-125), "Zwei Religionen" (127-173) und "Zwei Staatsbürgerschaften" (175-207) steht - nach der Ermutigung zum Risiko durch Frau Prof. Schimmel als bekanntem "Brückenmenschen" - mit Kap. 1 "Doppelte Lottchen sind wir alle" (15-64) anknüpfend an Erich Kästner die Grundbesinnung auf unser aller Situation voran: "Die kleine Welt, die ich als Kind miterlebt habe, besteht eigentlich aus zwei Welten: aus der Welt meiner Mutter und aus der Welt meines Vaters" (20). Obwohl im Blick auf doppelte Identität - so Schoen - zunächst die "realistische Denkweise" als angemessen erscheint, bei der Identität "etwas Konkretes" ist, "das eine bestimmte Gruppe von Menschen kennzeichnet" bzw. "die einzelne Person", plädiert er doch für ein neues Durchdenken besonders auch im Blick auf die "idealistische Denkart, die vom wesentlichen und eigentlichen Urbild her denkt, ... vom homo islamicus beispielsweise": "Die kollektiven oder individuellen Urbilder brauchen ja nicht zeitlos zu sein. Sie können sich in der Tat ändern, so daß es unnötig ist, starr an ihnen festzuhalten. Nur so kann das von den Veränderungen der Zeit nicht unberührte - und dennoch jenseits bleibende - Urbild als Klammer zwischen verschiedenen Kulturen, Religionen und Rechtssystemen im Verborgenen wirken" (33-36).

Der Ansatz zum Thema Sprache ist entsprechend: "Eine Sprache sagt alles nach, was Erde und Himmel ihr vorsagen. Sie versucht so die Einheit des Ganzen herzustellen. Äußere und innere Zwänge hindern eine Sprache oft daran ... Es erscheint dabei ganz natürlich, dass einer anderen Sprache - und sei sie noch so mächtig - Elemente entnommen und der eigenen einverleibt werden" (38-40). Der Ansatz des Themas Religion schließt daran an: "Auch Religionen vollziehen den Zusammenschluß der Welt durch Einschließen oder durch Ausschließen". Der Unterstellung von Seiten starrer Konzeptionen, die "tatsächlich gelebte Doppelexistenz sei eine Schizophrenie", ist dabei nur durch eine Theorie zu begegnen, die "das Nebenprodukt eines täglich begangenen Fußweges" ist (41 f.). Der Ansatz zum Thema Recht ist die Segmentierung der Welt von Kolonisierten: "Das geistige Band, welches die losen Teile verband, wurde von den Unterlegenen hergestellt durch Einschließen und Einordnen in eine einzige Wertepyramide. Das Ordnungsprinzip der Kolonisatoren dagegen hieß ,Ausschließen’" (42 f.). - Hinsichtlich der "Verhaltensmuster von Brückenmenschen" (47-64) "hat die Weisheit von Fall zu Fall zu unterscheiden, welches Verhalten angemessen ist, um das Leben lebbar zu machen"1.

Viele Überlegungen auch des Sprachenkapitels sind direkt oder übertragen religionswissenschaftlich und theologisch bedenkenswert. Im Religionenkapitel folgen mit Schalom-Ben-Chorins Zuversicht "Kann das Spannungsfeld nicht zum Kraftfeld werden?" den Überlegungen zum "Spannungsfeld der religiösen Absolutheitsansprüche" (129-153) solche zum Brückenschlag: "Die religiöse Zweisprachigkeit funktioniert" (154-173). Schoen kann hier auf das Sprachenkapitel zurückgreifen, insofern "beim Entstehen der Sprache - einschließlich der Sprache, mit der die Religion die Wahrheit ausdrückt - der Mensch selber entscheidend mitgewirkt hat" (144). Im Staatsbürgerschaftenkapitel folgen in Parallelisierung von Religions- und Staatsvölkern den Überlegungen zum "Kräftespiel der gesetzlich geschützten Normen und Marken" (177-187) - mit "Übereinkunft zu einem Kompromiß" und "Abgrenzung von Besitzansprüchen" (179) - solche zum Brückenschlag: "Wie doppelte Staatsbürgerschaft funktioniert" (188-207), indem "schwache Staaten ... mit Hilfe einer Diaspora ... eine verborgene Macht aufzubauen" vermögen (194).

Fussnoten:

1) S. 64; vgl. die in qualitativer Sozialforschung gefundenen Typen bei Christiane Paulus, Interreligiöse Praxis postmodern. Eine Untersuchung muslimisch-christlicher Ehen in der BRD, Frankfurt 1999.