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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

480–482

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kopp, Stefan [Hg.]

Titel/Untertitel:

Kirche im Wandel. Ekklesiale Identität und Reform.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2020. 464 S. = Quaestiones disputatae, 306. Kart. EUR 58,00. ISBN 9783451023064.

Rezensent:

Oliver Schuegraf

»Über die Identität der Kirche und ihre Reform nachzudenken, damit sie ihrem Auftrag gerecht werden kann« (11) – die Relevanz dieses Anliegens muss angesichts der aktuellen Herausforderungen der Kirchen nicht weiter begründet werden. In der vorliegenden Publikation wird die Frage für die römisch-katholische Kirche und unter römisch-katholischem Blickwinkel erörtert. Der Sammelband geht zum Teil auf Vorträge der Paderborner Montagsakademie im Wintersemester 2018/2019 zurück und wurde um weitere Beiträge ergänzt. Das Buch gliedert sich in vier große Blöcke mit insgesamt 19 Aufsätzen.
In dem ersten Abschnitt »Vortheologische Wahrnehmungen« werden von außen die strukturellen, gesellschaftlichen und religiösen Veränderungen und der damit entstehende Druck, der auf der römisch-katholischen Kirche lastet, beschrieben. Renate Köcher stellt als Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach gesellschaftliche Veränderungsprozesse dar. Der Soziologe und Theologe Michael N. Ebertz beschreibt das derzeitige »kirchliche Feld«, in dem kirchliche Akteure miteinander in Beziehung treten. Aus philosophischer Perspektive konstatiert Andreas Koritens-ky, dass das Christentum die philosophische Tradition geerbt hat, sich einsichtig auf »das Erfassen unwandelbarer intelligibler Strukturen« auszurichten. Doch die Kirchen sollten ihr Augenmerk stärker auf Handlungen legen, deren Wesen in der Setzung eines Neuanfangs besteht, als auf Herstellungsprozesse, die immer von ihrem Endprodukt her determiniert sind.
Der Abschnitt »Biblisch-historische Vergewisserung« wird von Dominik Markl eröffnet. Er führt vor Augen, wie im Alten Testament das Volk Gottes tiefe Krisen in der Rückschau als Chancen zur Neuorientierung wahrnehmen konnte. Thomas Söding zeigt anhand der Stichworte »Sinn für Sprache«, »Option für Wachstum« und »Zeit für Kooperation«, wie der neutestamentliche Aufbruch zur Völkermission die entscheidenden Impulse für die Entwicklung der Kirche gegeben hat. Franz Xaver Bischof versteht Reform als Strukturprinzip der Kirche und weist dies vor allem anhand des Zweiten Vatikanums und Fortschreibungen von Papst Franziskus auf.
»Systematisch-theologische Reflexionen« bilden den dritten Ab­schnitt. Michael Seewald ruft angesichts des römisch-katholischen Sonderwegs der Verrechtlichung der Glaubenslehre die geschichtliche und kulturelle Bedingtheit und inkarnatorische Dimensionen selbst des ius divinum neu ins Bewusstsein. Für Johanna Rahner ist die »Erfindung der Tradition« eine der kühnsten Erneuerungen und Modernisierungserscheinungen im Ka­tholizismus des 19. Jh.s. Jedoch seien Tradition und Innovation gleichermaßen unaufgebbare Grundmodi kirchlicher Lehre und zwei Seiten desselben permanenten Transformationsprozesses, wie sie am Beispiel der Religionsfreiheit zeigt. Mit dem Beitrag von Wolfgang Thönissen kommt erstmals die Ökumene in den Blick. Er zeichnet nach, wie der katholische Kirchenbegriff im 20. Jh. unter der Leitperspektive Communio Sanctorum dynamisiert und ökumenisch-anschlussfähig weiterentwickelt wurde. Klaus von Stosch weitet den Blick auf die nichtchristlichen Religionen und zeichnet den Umgang mit den anderen Religionen nach, besonders die »kopernikanische Wende« des Zweiten Vatikanums in der Beziehung zum Judentum. Jochen Sautermeister zeigt nach einigen normtheoretischen Vorbemerkungen anhand der freiwilligen Lebendorganspende auf, welche moraltheologischen Lern- und Einsichtsprozesse hin zu einer ganzheitlichen medizinischen Hilfe stattgefunden haben. Hans-Joachim Höhn möchte die dominierenden dogmatischen und kirchenrechtlichen Veränderungsdiskurse um religionsphilosophische Reflexionen erweitern, die den Fragen nach Interdependenz von Religion und Gesellschaft und einer sozialtheoretisch anschlussfähigen Kriteriologie für kirchliche Reformen nachgehen. Ursula Nothelle-Wildfeuer entfaltet das katholische Subsidiaritätsprinzip und begreift ein subsidiaritätsgeprägtes Kirchenverständnis als Schlüssel zur Reform angesichts derzeitiger Glaubwürdigkeitsprobleme.
Der vierte Abschnitt wendet sich »Praktisch-theologischen Vertiefungen« zu. Rüdiger Althaus kommt zunächst nochmals auf das Kirchenrecht zu sprechen. Auf die Frage, wie unwandelbar und eng kirchliche Gesetze sein müssen, verweist er auf deren »salus animarum dienende Funktion« und angesichts sich wandelnder soziokultureller Verhältnisse auf die immer wieder notwendige Prüfung ihrer Funktionalität. Stefan Kopp, Herausgeber des Bandes, zeichnet liturgische Reformen in der Geschichte der katholischen Kirche nach und kommt zu dem Schluss, dass diese ein Dauerauftrag für die Kirche sind. Winfried Haunerland plädiert dafür, neue gottesdienstliche Angebote jenseits der Sakramente (»Gottesdienste des zweiten Programms«) nicht auf Hinführungen zum Eigentlichen zu reduzieren, sondern als wünschenswerten selbstlosen Dienst der Kirche (»Ritendiakonie«) ernst zu nehmen. Ulrich Riegel stellt die Lernorte Schule und Gemeinde vor und skizziert, wie auch nach dem Ende der volkskirchlichen Ära in beiden religiöses Lernen als zukunftsträchtiges kirchliches Handeln verstanden werden kann. Unter der Überschrift »Abschied von der Macht« beschreibt Herbert Haslinger, wie Machtausübung (in der Kirche) funktioniert und was sich mit dem Ende der Machtfrömmigkeit für die Personen, die für die Institution Kirche stehen, ändern muss. Christoph Jacobs schließlich wendet Erkenntnisse aus der Organisationspsychologie, besonders das Drei-Phasen-Modell der Veränderung von Kurt Lewin und das Drei-Ebenen-Modell von Edgar Schein, auf notwendige Wandlungsprozesse für das pastorale Personal an.
Als Gesamteindruck ist festzuhalten: Die Stichworte »Zeichen der Zeit« und »Aggiornamento« (Verheutigung der Kirche) ziehen sich wie ein roter Faden durch den Sammelband. Damit wird so-fort augenfällig, wie stark das Zweite Vatikanische Konzil der be­herrschende Referenz- und Angelpunkt der Autorinnen und Autoren ist. Immer wieder klingt dabei auch die Frage an, ob der Perspektivenwechsel des Konzils als Bruch, Diskontinuität oder Re- form zu verstehen ist. Insgesamt bietet der Sammelband eher Grundsatzüberlegungen als konkrete Lösungsvorschläge für derzeitige Fragen an. Natürlich werden immer wieder die aktuellen Re­formdiskussionen angesprochen (Zulassung von Frauen zum kirchlichen Amt, Synodaler Weg, Beteiligung der Kirchenbasis), aber es fällt auf, dass viele Beispiele und Illustrationen eher historisch gewählt sind (Religionsfreiheit, Organspende, frühere Liturgiereformen). Die Dogmengeschichte wird als »Innovationspool« (Rahner, 173) für anstehende Reformdebatten genutzt. Höhn bringt es folgendermaßen auf den Punkt: »Man muss in der Kirchengeschichte nur weit genug zurückgehen, um zu entdecken, dass es früher längst gegeben hat, was heute als Reform und Innovation gefordert wird« (285). Eigens sei nochmals auf den erfrischenden Beitrag von Ebertz verwiesen, der in nicht-theologischer Sprache schonungslos die Spannungen zwischen »religiös qualifizierten Experten und Laien« analysiert. Ebenso schonungslos und radikal sind die Ausführungen und das Fazit von Haslingers Beitrag: »Das Spiel der Macht ist vorbei« (426).
Gelungen ist der Einstieg über vortheologische Wahrnehmungen. Aus der Sicht eines Ökumenikers wäre es jedoch lohnend gewesen, neben diesen Einsichten auch einen ökumenischen Blick von außen auf die Lage vorzunehmen. Im Sammelband kommen ökumenisch-offene und -sensible Autorinnen und Autoren zu Wort. Doch ein evangelischer, lutherischer oder orthodoxer Blick auf die Situation der römisch-katholischen Kirche hätte die Fragestellung nach Reform und Identität bereichern können.