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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

474–476

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wagerer, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Zum Hören ermutigt. Identitätskonstruktionen in Begegnung mit biblischen Texten.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 348 S. m. 48 Abb. = Religionspädagogik innovativ, 31. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783170348905.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Aus der Fülle bibeldidaktischer Konzeptionen sticht Wolfgang Wagerers Entwurf hervor, der das Hören in das theologische, hermeneutische und didaktische Zentrum des Religionsunterrichts rückt. Zu Recht bemängelt W., dass die meisten bibeldidaktischen Konzepte die unmittelbare Begegnung von Schülern mit dem Text ungefragt voraussetzen, ohne den elementaren Akt, in dem Schüler und biblische Erzählungen aufeinandertreffen, näher zu betrachten (vgl. 11). Wo dies doch geschieht, werden meist nur Teilkompetenzen in den Blick genommen, statt grundlegend nach der Kompetenz von Schülern zu fragen, literarische Texte zu verstehen. Die Folgen sind ein unreflektierter, verzweckender Bibelgebrauch, die Fragmentierung, Banalisierung oder auch Moralisierung biblischer Texte sowie ein durch Aktionismus gekennzeichneter Unterricht, der sie »auf die Rolle des Impulsgebers für handlungs- und produktionsorientierte Methoden reduziert« (13).
Diesen Missständen sucht W. auf überzeugende Weise mit einem bibeldidaktischen Modell Abhilfe zu schaffen, das die elementaren Vorgänge des Hörens wie auch des Erzählens ins Zentrum rückt. Das geschieht in eindrucksvoller interdisziplinärer Theoriearbeit, welche den Bogen von Theologie und Bibelexegese über die Psychologie und die Neurowissenschaften zu literaturwissenschaftlichen Modellen einer Ästhetik des Hörens (insbesondere die Hörästhetik Jutta Wermkes) und weiter zur Narratologieforschung spannt. Auch wird das eigene bibeldidaktische Modell im intensiven, kritischen Gespräch mit anderen Konzepten entwickelt und profiliert. Dabei lautet eine der Leitfragen, welche Rolle Hören und Erzählen für Identitätsbildung und Identitätsstiftung gleichermaßen für das Individuum – konkret für Schüler und Schülerinnen – wie auch für Gemeinschaften spielen.
W.s Buch zeichnet sich nicht nur durch seine interdisziplinäre Theoriearbeit auf der Höhe der Forschung, sondern auch durch seinen erfahrungsgesättigten Praxisbezug aus. W. war viele Jahre an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems sowie als Lehrbeauftragter an den Universitäten Graz und Wien tätig. Wenn W. der üblichen Fragmentierung von Bibeltexten seine These entgegenstellt, das Ganze – konkret ein Makrotext wie das Buch Exodus – sei Schülern zumutbar (vgl. 15 f.), belässt er es nicht bei einer narratologischen Analyse dieses Buches (241 ff.) sowie seiner Nacherzählungen in gängigen Kinderbibeln (313 ff.). Er bietet auch auf zehn Seiten eine eigene schlüssige, da exegetisch und bibel-didaktisch gut begründete Nacherzählung des ganzen Buches Exodus (293–302), die sich im Religionsunterricht in der Grundschule einsetzen lässt. Das Erzählen ist für W. im Bibelunterricht nicht eine Methode neben anderen, sondern die schlechthin elementare, weil es in ihr »um die Bewahrung des Herzstücks christlicher Offenbarung« geht (150). Genauer gesagt zielt W. auf ein »strukturanaloges elementarisiertes Erzählen« (178), das nicht nur den Inhalt eines Textes zu wahren, sondern auch seiner Form zu entsprechen versucht. Die Rolle des Lehrers vergleicht W. mit der eines Musikers, der ein Orchesterwerk für Klavier bearbeitet und solchermaßen elementarisiert vor Publikum spielt. Gewissermaßen in einer Fassung für eine Stimme soll auch der Lehrer ein komplexes Werk – im konkreten Fall das Buch Exodus – vor seinen Schülern zu Gehör bringen (320).
Besondere Beachtung verdient W.s theologische und hermeneutische Grundlegung einer Didaktik des Hörens und Erzählens. Sie fördert Einsichten zutage, die auch für andere Disziplinen, darunter die Systematische Theologie, von Interesse sind. Differenziert und kenntnisreich rekonstruiert W. die fundamentale Bedeutung des Hörens in der gesamtbiblischen Überlieferung. Der Hörsinn ist gleichermaßen anthropologisch wie hermeneutisch und theologisch für die Beziehung zwischen Gott und Mensch zentral. Niemand kann Gott sehen, wohl aber hören. Auch Gott ist in der Bibel als Hörender präsent (124 f.). Im wechselseitigen Hören von Gott und Mensch zeigt sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen, wie auch der Glaube nicht aus dem Sehen, sondern aus dem Hören kommt (vgl. Röm 10,17). W. lotet »die immanenten Hör-Konzepte biblischer Schriften« (17) und die ihnen innewohnende »emanzipatorische und befreiende Dimension« aus, die sich im Sch’ma Israel (Dtn 6,4) verdichtet (ebd.; vgl. 126). Dabei gilt es nach W., »den Akt des Hör-Spiels unter den […] Aspekten Freiheit und Bindung zu reflektieren« (130). Nebenbei bemerkt, hat auch Hans Weder in seiner Neutestamentlichen Hermeneutik (1986) unter rechtfertigungstheologischen Gesichtspunkten auf das Hören als anthropologischen Anknüpfungspunkt im Rahmen der hermeneutischen Diskussion über Voraussetzung und Vorverständnis des Glaubens hingewiesen.
Gegenläufig zum »visual turn« (M. Jay) in der (post)modernen Gesellschaft legt W. überzeugend dar, weshalb der Hörsinn weiterhin ganz allgemein und insbesondere auch für Kinder eine zentrale Rolle spielt. Im Hören überschneiden sich aktive und passive Momente, wobei W. unter didaktischen Gesichtspunkten das Gewicht auf das Zuhören als Vernehmen legt (vgl. 57). Vor dem Bibellesen steht das Bibel-Hören, das durch eine Hör-Ästhetik geschult werden soll. Was aber zu Gehör gebracht wird, sind identitätsstiftende oder Identitätsbildung ermöglichende Geschichten, die erzählt werden und sich gegen normierende Einsinnigkeit sperren. So bettet W. das von ihm entwickelte »Modell des Erzählbogens im Rahmen der narrativen Re-Inszenierung biblischer Texte […] in eine Didaktik des Hörens bzw. Vernehmens« ein (17). Für den Prozess, in dem in den Rezipienten Bilder entstehen, die wiederum als Bausteine einer neu zu konstituierenden Identität fungieren, prägt W. den Begriff »Hör-Spiel« (18).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass W. bereits bekannte Konzepte narrativer Theologie in Richtung einer Theologie des vernehmenden Hörens erweitert. In Analogie zum Begriff des »heilsamen Erzählens« (H. Streib) bildet W. den des »heilsamen Hineinhörens« (115) in biblische Texte, das Kindern und Jugendlichen, aber auch Erwachsenen bei der in der Postmoderne höchst ambivalenten »Identitätsarbeit« (107 ff.), nämlich der narrativen und auditiven Identitätsrekonstruktion (114 ff.) hilfreich werden kann. Die bekannte Formel W. Schapps, nach welcher wir stets in Geschichten verstrickt sind und werden, wandelt W. dahin ab, dass wir »ins Erzählen verstrickt« sind (143 ff.). Als Erzählbogen bezeichnet W. die »elementarisierte Ganzheit« (152 ff.) einer Geschichte oder eines biblischen Buches. In der vorliegenden Arbeit erweitert W. sein Modell des Erzählbogens zum Modell des Hörbogens (168 ff.).
Auf höchst anregende Weise wird die Arbeit am schriftlich überlieferten Text mit dem Unterrichtsgeschehen verbunden, wobei W. unterstellt, dass biblische Texte oftmals lange Zeit mündlich tradiert wurden, bevor man sie verschriftlichte. Das ist allerdings heute exegetisch umstritten, etwa im Fall der synoptischen Jesusüberlieferung. Richtig ist allerdings die Beobachtung, dass biblische Texte für die mündliche Verlesung gedacht sind, wobei sowohl der jüdische Synagogengottesdienst als auch die christliche – für W. insbesondere die katholische – Liturgie (vgl. 72.131 ff.) ausgezeich nete Orte gemeinschaftlichen Hörens sind. Sowohl im Gottesdienst als auch im bibeldidaktischen Unterricht findet eine »Re-Oralisierung und narrative Re-Inszenierung« statt (168 ff.), wobei W. im Sinne M. Bubers das Anliegen verfolgt, »die Bibel als Stimme« (221) wahrzunehmen.
Letztlich fußt W.s bibeldidaktisches Konzept auf einer Theologie der Gabe, welche »den biblischen Text als reine Gabe« (29) versteht. Das erweist sich nicht nur didaktisch, sondern auch bibelhermeneutisch als fruchtbarer Gedanke.