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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

472–474

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Gärtner, Claudia, u. Jan-Hendrik Herbst[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik. Diskurse zwischen Theologie, Pädagogik und Politischer Bildung.

Verlag:

Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2020. XII, 649 S. m. 5 Abb. Kart. EUR 69,99. ISBN 9783658287580.

Rezensent:

Axel Bernd Kunze

Besitzen »Kritik« und »Emanzipation« für die Religionspädagogik in Zeiten einer Kompetenz- und Lebensweltorientierung noch konzeptionelle Bedeutung? Können sie mit dem ihnen inhärenten Fortschrittsoptimismus angesichts gegenwärtiger Krisenwahrnehmung noch eine Rolle spielen? Der Band erhebt den Anspruch, die Potentiale kritischer Theoriebildung für eine politisch relevante Religionspädagogik zu rekonstruieren – weder in nostalgischer Rückschau noch in einem legitimatorischen Rückgriff auf die Vergangenheit, sondern im Blick auf »zukünftige Befreiungsprozesse« (12). Kritik im emphatischen Sinne wolle (soziale) Zusammenhänge analysieren und Alternativen erschließen, so die Einleitung. Kritik und Emanzipation verhielten sich wie Kopf und Zahl einer Münze, indem Letztere die Richtung der angezielten Veränderung angebe.
Im Folgenden soll jeweils ein Beitrag aus jedem der sechs Teile näher beleuchtet werden. In einer historischen Selbstvergewisserung (I) wird die »religionspädagogische Reformdekade« um 1968 rekonstruiert. Für Bernhard Grümme bleibt der Emanzipationsbegriff für eine bildungstheoretisch fundierte, an Freiheit orientierte und auf eine solidarische Existenz zielende Religionspädagogik weiterhin elementar. Allerdings plädiert er für eine deutliche Grenzziehung: Religiöse Bildung dürfe nicht politisiert werden, sondern müsse vielmehr ethische, sozial-politische, reflexive und ästhetische Dimensionen integrativ zusammenführen. Eine solche didaktische Sachanalyse entspreche der biblisch-christlichen Ge­samtüberlieferung.
Teil II unterzieht die gewählten Zentralbegriffe Kritik und Emanzipation einer religionspädagogischen Reflexion. Judith Kö­ne­mann warnt die eigene Disziplin vor Machbarkeitsphantasien. Emanzipation könne gefördert, aber nicht hergestellt werden. Bildung habe verändernde Kraft – aber nicht über Systemveränderungen, sondern durch die Befähigung der Einzelnen, sich als aktiv handelnde Subjekte zu begreifen. Dieses selbstreflexive Moment könne zwar strukturell gestützt werden, würde aber in Überfremdung umschlagen, wenn dem Einzelnen von außen Bedürfnisse zugeschrieben würden.
Teil III bringt die Religionspädagogik mit der Politischen Theologie und der kritischen Erziehungswissenschaft ins Gespräch. Zentral ist dabei die Frankfurter Erklärung »Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung« von 2015. Jürgen Kroth hält die politische Theologie immer noch für aktuell: Ihrem Solidaritätsbegriff könne es weiterhin gelingen, Gesellschaftskritik und Handlungsperspektiven zu verknüpfen – durch Wahrnehmung der Gegenwart, Urteilskraft der Erinnerung sowie praktische Antizipation universaler Hoffnungsvorstellungen.
In Teil IV werden die Möglichkeiten pädagogischer Kritik mithilfe kritischer Bildungstheorie auf ihre Chancen und Grenzen hin befragt. Kritik und Emanzipation seien nicht Programm-, sondern Problembegriffe: Eine selbstkritische Religionspädagogik müsse auch über die Ambivalenzen kritischer Theoriebildung reflektieren. Bettina Lösch greift dabei auf den Beutelsbacher Konsens zurück und fragt: »Wie politisch darf und sollte politische Bildung sein?« Diese sollte engagiert, nicht neutral sein. Ferner wendet sich L. gegen Ansätze der Demokratiepädagogik, welche zur Partizipa-tion »erziehen« wolle. Emanzipatorische Bildung hingegen müsse Heranwachsende bereits in der pädagogischen Gegenwart als eigenständige Autoren künftiger Selbstgesetzgebung ernst nehmen. So plädiert L. dafür, Bewegungen wie »Fridays for Future« pädagogisch aufzugreifen.
Teil V beleuchtet exemplarische Praxisfelder, etwa Tage religiöser Orientierung, kirchliche Begabtenförderung im Cusanuswerk, Seelsorgeausbildung im Bistum Trier, Jugendarbeit in der Christlichen Arbeiterjugend, Compassion-Projekte oder den weltwärts-Freiwilligendienst. Claudia Gärtner moniert einleitend, dass die seinerzeitige Problemorientierte Religionspädagogik zwar Praxismodelle für die verschiedenen schulischen, außerschulischen oder andragogischen Lernorte entwickelt habe, aber jenseits dieser Spezialreflexionen ein Diskurs darüber fehle, was die Vielfalt der verschiedenen Bereiche zusammenhalte.
Teil VI fungiert als Abschluss und Ausblick. Die Herausgeber binden die verschiedenen Argumentationsstränge und Aspekte des Bandes gewinnbringend zusammen. Bezugnehmend auf Heydorns kritische Bildungstheorie wird dafür plädiert, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Emanzipation zusammenzudenken: Es gehe um die Reflexion des Individuums, das im Bildungsprozess »die eigene Situiertheit in den gesellschaftlichen Widersprüchen vermittelnd aufhebt« (629).
Der Band rekonstruiert die Ansprüche kritisch-emanzipatorischer Religionspädagogik aus fachgeschichtlicher Perspektive. Die Reflexionen auf den soziopolitischen Kontext religiöser Bildung heute bergen wenige Überraschungen. So wäre zu fragen, ob nicht eher mangelnde Unvoreingenommenheit als falsch verstandene Neutralität den öffentlichen Diskurs polarisiert. Sollte diese Diagnose stimmen, wäre es wichtig, zunächst die Selbstverständnisse der kontroversen Lager wahrzunehmen und so bearbeitbar zu machen. Die kritische Bildungstheorie böte hierfür ein gutes Fundament.
Im Rückgriff auf diese Tradition des Bildungsdenkens wird festgehalten, dass Mündigkeit und Befreiung zusammengehören. Unentschieden zeigen sich die Beiträge allerdings gegenüber der Kompetenzorientierung. Zwar wird das »unternehmerische Selbst« abgelehnt, gleichzeitig folgen aber etliche Beiträge – nicht selten in (be­rufs-)pragmatischer Hinsicht – kompetenzorientierten An­sprüchen, ohne systematisch zu reflektieren, wie diese einer kritischen, funktionalistische Ansprüche abwehrenden Bildungstheorie genügen können.
Nicht jedes beliebige Infragestellen des Bestehenden ist schon rationale Kritik. Wenn Gerechtigkeit nicht einfach aus ein für alle Mal gültigen Normen und Regeln abgeleitet werden kann, hat Schule die Aufgabe, die Lernenden in die Verfahren (sozial-)ethischer Urteilsbildung einzuführen. Dabei werden sich unterschiedliche handlungspropädeutische Zugänge verbinden. Für eine politisch interessierte Religionspädagogik wäre es wichtig, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen gesellschaftsbezogenen Teilpraxen aus der Perspektive des eigenen Faches auszuleuchten und auszuweisen, wie andere Zugänge mit dem spezifischen Reflexionshorizont der eigenen Disziplin vernetzt werden können. Dies gelingt im Band nur begrenzt, bleibt aber eine zentrale didaktische Herausforderung. Die Aufgabe, die hier zu leisten wäre, ist keinesfalls trivial, wenn für die Educandi am Ende nicht ein unverbundener Flickenteppich verschiedener Perspektiven übrigbleiben soll, sondern sich diese unter Berücksichtigung der verschiedenen Dimensionen ein tragfähiges Handlungskonzept zur Bewältigung sozialer Praxis erarbeiten sollen.
Was im Blick auf die äußere Vernetzung einer kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik mit anderen gesellschaftsbezogenen Perspektiven angemahnt wird, gilt auch für die interne Rückfrage nach der Eigenlogik religiöser Bildung. Diese darf nicht aus dem Blick geraten, wenn Religionspädagogik zwar gesellschaftlich relevant sein soll, aber nicht zu einer Funktion politischer Bildung absinken will. Der Band rekurriert um des eigenen Propriums willen etwa auf mystische, biblische, ethische oder ästhetische Zugänge. Wichtig wäre allerdings, stärker darauf zu reflektieren, wie diese verschiedenen Perspektiven religiöser Praxis innerlich zusammenhängen und für eine multidimensionale Religionspädagogik fruchtbar gemacht werden können.