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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

468–470

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Dahms, Regina

Titel/Untertitel:

Religiöse Vorstellungen von jungen Menschen mit vielseitig undefinierten Begabungen – eine qualitative Untersuchung.

Verlag:

Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim; Zürich: Georg Olms Verlag 2019. 446 S. m. Abb. = Hildesheimer Beiträge zu Theologie und Geschichte. Reihe A: Evangelische Theologie und Religionspädagogik, 15. Kart. EUR 68,00. ISBN 9783487157931.

Rezensent:

Nadja Boeck

Die Arbeit – betreut von Martin Schreiner – wurde im Bereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Stiftung Universität Hildesheim als Dissertation angenommen. Es ist die erste umfangreiche wissenschaftliche Arbeit von Regina Dahms, die an einer Fachschule für Heilerziehungspflege mit Klassen des Berufsbildungsbereichs der Werkstätten für behinderte Menschen tätig ist. Aus ihrer Lehrtätigkeit heraus entstand die Fragestellung für die hier zu besprechende Untersuchung über religiöse Vorstellungen junger Menschen mit vielseitig undefinierten Begabungen.
Auf dem Gebiet der Religiosität und religiösen Vorstellungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegen bereits viele Forschungsergebnisse vor (vgl. Ziebertz 2003; Streib/Gennerich 2013; Käppler/Morgenthaler 2013), aber zur Religiosität von Menschen mit geistigen Behinderungen hat nur Stefan Anderssohn Arbeiten vorgelegt (vgl. z. B. Anderssohn 2002 und 2007).
Bereits im Titel der Arbeit wird deutlich, dass D. den Begriff »geistige Behinderung« vermeidet. Sie folgt hier der Auffassung der Gestalttherapeutin Gerry Besems-van Vugt (2004), die die Meinung vertritt, dass die Potentiale von Menschen mit geistiger Behinderung nicht erkannt werden, weil man sie nicht versteht. Deshalb ist es in erster Linie notwendig, die Ausdrucksweise von Menschen mit geistiger Behinderung verstehen zu lernen, erst dann wird ihre Entwicklungsfähigkeit und ihr Handlungspotential für die Gestaltung ihrer religiösen Welt erkennbar (22). Deshalb entschied sich D. für den Begriff »Menschen mit vielseitig undefinierten Begabungen«. Sie stellt ausführlich dar, dass es keine einheitliche Definition der »geistigen Behinderung« gibt. D. arbeitete mit dem diskursiven Religions- und Religiositätsbegriff nach Joachim Matthes (1992) und begründet im Anschluss an die Auffassungen von Bernd Schröder (2015), dass dieser Religionsbegriff besonders für die Er­forschung der Religiosität von Menschen mit vielseitig undefinierten Begabungen geeignet ist, da sie sich verbal weniger gut mitteilen können (55). Ihren subjektiven Sichtweisen wird so trotzdem Raum gegeben (62).
D. beschreibt ausführlich die aktuelle Forschung zur Lebenswirklichkeit von Menschen mit vielseitig undefinierten Begabungen, um daraus dann die Entscheidung für ihre Forschungsmethode abzuleiten. Sie zeigt auf, dass sich bis heute keine systematische Forschung mit anerkannten Forschungsmethoden etablieren konnte, die den Besonderheiten der Untersuchungsgruppe Rechnung trägt (99). Sie diskutiert auch den aktuellen Stand der Forschung zur Religiosität junger Menschen mit vielseitig undefinierten Begabungen im Alter von 18 bis 25 Jahren in der Religionspädagogik. Dazu liegen nur die bereits erwähnten Studien von Anderssohn vor, der herausgearbeitet hatte, dass Menschen mit geistiger Behinderung eigentätige Subjekte und nicht Objekte religiöser Erziehung sind. Ihre Religiosität kann nicht einfach mit der von jüngeren Kindern gleichgesetzt werden.
In ihrer Arbeit konzentriert sich D. auf folgende Fragen: Welches Gotteskonzept haben junge Menschen mit vielseitig undefinierten Begabungen? Wo und wie erleben sie Gott im Zusammenhang mit Leid? In welchen ethischen Dimensionen denken sie? Wie und wo erfahren sie Gott in ihrem Leben?
D. wählte ein methodisches Design mit umfangreichen Gestaltungs- und Anpassungsmöglichkeiten, um den Teilnehmenden gerecht werden zu können. Sie entschied sich für den qualitativ-heuristischen Forschungsansatz nach Gerhard Kleining (1995). Dieser ermöglicht eine kontinuierliche Anpassung an den Untersuchungsgegenstand (139). Um eine maximale strukturelle Variation zu erreichen, nutzte D. das »Rostocker Methodenensemble«, das von Anna-Katharina Szagun (2006) zur Erforschung von Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern entwickelt wurde. Es ist durch Materialcollage, Persönliches Gespräch (nach Langer 2000) und Positionierungsübungen charakterisiert. Neben dem Einholen von biographischen Daten führte D. Elterngespräche, die Informationen ergänzen, aber den Analyseprozess nicht beeinflussen sollten (161). Insgesamt wurden fünf Gespräche mit den Teilnehmenden über einen Zeitraum von sechs Monaten geführt. Ausgewertet wurden elf Einzelfallstudien. Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnehmenden jeweils über ein Gotteskonzept verfügen, die Gottesbeziehungen sehr individuell, teilweise kaum vorhanden, teilweise sehr ausgeprägt sind. Da D. nur bei zwei Teilnehmenden das Elterngespräch einfließen lässt, wodurch Hintergründe zur religiösen Sozialisation sichtbar werden, ist es nicht möglich einzuordnen, wie die Gotteskonzepte der Teilnehmenden geprägt wurden. Eine konsequentere Darstellung zu diesem Punkt wäre hilfreich gewesen. Auffällig ist, dass fast alle Teilnehmenden Gott im Himmel verorten. Zudem werden sowohl personale als auch apersonale Gottesbilder vertreten. Beim Theodizeethema ordnen sie die Schuld am Bösen in der Welt grundsätzlich den Menschen zu. Hier greifen die Teilnehmenden auf kirchlich geprägte Sprache zurück: Hölle, Himmel, Schöpfung, Bestrafung der bösen Menschen durch Gott. Leider bleiben die Definitionen und Kriterien für das Vorhandensein von Gottesverständnis wie auch Gottesbeziehungen unklar.
Die Interpretation der Ergebnisse fällt sehr kurz aus. Sie gehen über die Feststellung der vorhandenen Gotteskonzepte, der Fähigkeit des Empfindens von Nähe und Distanz zu Gott und der unterschiedlich vorhandenen Fähigkeit des ethischen Beurteilens nicht hinaus. Hier wäre eine genaue Beobachtung der Einzelfallstudien sicher fruchtbar. Beispielsweise machen diese Prozesse sich entwickelnder Gottesbeziehungen sichtbar. In dem sechsmonatigen Untersuchungszeitraum scheinen die Fragen bei den Teilnehmenden eine intensivere Auseinandersetzung mit ihrer Gottesbeziehung ausgelöst zu haben. Dieser Befund liefert m. E. eine wichtige Begründung für integrativen Konfirmationsunterricht: die ge­meinsame Beschäftigung junger Menschen mit Gottesvorstellungen, die Austausch über Erfahrungen und die Aktivierung durch Fragen nach einer Gottesbeziehung ermöglicht und die Weiterentwicklung der eigenen Gotteskonzepte und Gottesbeziehung er­laubt, unabhängig von ihren Begabungen.
Der große Gewinn dieser Arbeit ist, dass junge Menschen mit vielfältig undefinierten Begabungen in den Mittelpunkt gerückt werden. Die Forschungsmethode wurde sehr sorgfältig ausgearbeitet, um die religiösen Vorstellungen dieser Menschen wirklich wahrnehmen zu können. Das ist die große Stärke der Arbeit, die gerade dadurch wegweisend für weitere Forschung wird.
Die abschließende knappe Forderung nach integrativem Konfirmationsunterricht oder Gottesdienst ist jedoch nicht ausreichend. Anhand der Ergebnisse ließe sich zeigen, dass nicht der In­halt für die verschiedenen Jugendlichen anders dargeboten, sondern Methodenvielfalt dahingehend eingesetzt werden muss, damit es Jugendlichen mit vielfältig undefinierten Begabungen als noch we­niger sprachfähigen Subjekten ermöglicht wird, ihre eigene reli-giöse Welt zum Ausdruck zu bringen. Methoden, die Gefühle – wie zum Beispiel die gefühlte Nähe und Distanz zu Gott – sichtbar machen und alle Sinne beanspruchen, wären für Jugendliche unabhängig von ihren Begabungen und Fähigkeiten gewinnbringend. Grundsätzlich zeigt die Forschung zur Religiosität Jugendlicher, dass ein Zugang zu religiösen Fragen über Emotionen stattfinden muss. Erinnert sei an die Forderung von Michael Meyer-Blanck, dass das Lernen von Religion etwas Emotionales haben muss, weil die großen Gefühle der Bereich sind, in dem sich Menschen für re-ligiöse Fragen öffnen (Meyer-Blanck 2018, 24 f.). Hierin liegt ein wichtiger Ansatz der integrativen Religionspädagogik (Friese 2018).