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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

449–450

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kotva, Simone

Titel/Untertitel:

Effort and Grace. On the Spiritual Exercise of Philosophy.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury Academic 2020. 248 S. = Re-inventing Philosophy as a Way of Life. Geb. £ 85,00. ISBN 9781350113657.

Rezensent:

Thomas Sojer

Mit Simone Kotvas »Effort and Grace. On the Spiritual Exercise of Philosophy« erscheint der zweite Band in der Reihe »Re-inventing Philosophy as a Way of Life« bei Bloomsbury. Dabei handelt es sich um eine Überarbeitung von K.s Dissertation, mit der K., die inzwischen als Postdoctoral Researcher an der Universität Oslo forscht, bei Catherine Pickstock und Douglas Hedley an der Faculty of Divinity der Universität Cambridge promovierte.
Das Werk präsentiert eine historisch-systematische Studie des Spiritualisme français, einer einflussreichen philosophischen Strömung der letzten zwei Jahrhunderte, die im deutschen Sprachraum als eigenständige Denkrichtung bisher so wenig Beachtung fand, dass ihr eine adäquate deutsche Bezeichnung fehlt. Im Zentrum der Ausführungen steht das Bemühen, Philosophie als spirituelle Einübungspraxis für die philosophischen sowie theologischen Herausforderungen im 21. Jh. neu zu etablieren. Dabei sieht K. eine Zukunft spiritueller Einübung als philosophische Praxis davon abhängig, ob und wie der anhaltende Richtungsstreit innerhalb der zugrundeliegenden Denktraditionen zwischen Leistung und Gnade, Aktionismus und Passivität in ein Gleichgewicht ge­bracht werden kann.
»Effort and Grace« fußt in K.s vorausgehender Beobachtung, dass zeitgenössisches französisches Denken (Sartre, Foucault, Derrida, Deleuze usw.) in einer fortlaufenden, jedoch oft ausgeklammerten Auseinandersetzung mit dem Spiritualisme français steht, nicht zu­letzt durch die Resonanz von Pierre Hadots »La philosophie comme manière de vivre«. Obwohl selten im Zentrum aktueller philosophischer Diskurse, befeuert und konserviert der Spiritualisme français seit über 200 Jahren den Konflikt zwischen der kulturprägenden Rezeption von Augustins Gnadentheologie, besonders in den Nachwehen des Jansenismus, und der Wiederentdeckung der Stoa als religionsunabhängige Lebensphilosophie im Zuge der Aufklärung.
Die Studie oszilliert in knapp 180 Seiten zwischen immer neuen (Re-)Versionen alter Dualismen: Ignatianische Exerzitien versus augustinische Betrachtung, Stoa versus Christentum, Selbstoptimierung versus Mystik. In einer schichtenweisen Freilegung der Geistes- und Ideengeschichte schält K. mit Maine de Biran, Félix Ravaisson, Henri Bergson, Alain (Émile Chartier) und Simone Weil kapitelweise die tragenden Fundamente heraus, die in einer Gesamtschau schließlich einen massiven Bruch in der Entwicklung des Spiritualisme français offenlegen: Während Aktivität und Passivität im Ausgang des französischen Augustinianismus des 19. Jh.s noch als eine ideale Polarität philosophischer Praxis verstanden werden können, verdrängt die Folgegeneration am Beginn des 20. Jh.s das Passive, das Gnadenabhängige, das Schwache in einen polemisierten Außenbereich, der dem vermeintlichen Übel des »Quietismus« zugerechnet wird. Mystik bleibt zwar eine treibende Kraft im Denken der spiritualistes français, aber lediglich in Form einer außergewöhnlichen Eigenleistung. Erst Simone Weil unternimmt es, den zunehmend offenen Widerspruch beider Pole als anthropologische Notwendigkeit neu zu kultivieren, und formuliert daraus wieder eine einzige philosophische Methode.
Am Beginn der Studie stellt K. die Frage, wie es in Frankreich und darüber hinaus überhaupt zum Triumph der Leistung über die Gnade kommen konnte und warum Denker wie Michel Foucault oder Peter Sloterdijk spirituelle Übung und Askese vornehmlich im Rahmen von Leistungsdenken beschreiben – ohne, und hier liegt das Herzstück der Studie, die für K. offensichtlichen kontemplativen bzw. passiven Elemente ausreichend zu berücksichtigen. Einen historischen Kontrapunkt zu diesem spätmodernen Leis-tungsoptimismus setzt K. mit Maine de Biran (1766–1824) und seiner Kritik des reinen Leistungsdenkens. Biran steht gleichermaßen in den Traditionen von René Descartes’ (1596–1650) Rationalismus und Étienne Bonnot de Condillacs (1714–1780) augustinischer Gnadentheologie und argumentiert aus einer Zusammenschau beider Traditionen, dass spirituelle Leistung zwar notwendig, aber be­grenzt bleibt. Diese Prämisse erlaubt Biran, seine Anthropologie ausgehend von einer Revision des homo duplex zu entwerfen, in der das menschliche Selbst (moi) mit seinen beiden mehr-als-menschlichen Kräften, der animalischen sowie spirituellen Kraft, gleichzeitig aktiv und passiv in die Welt gestellt wird. Um Biran mit seinem Pessimismus gegenüber Leistung vor der öffentlichen Stigmatisierung als Quietist zu bewahren, betont Birans Herausgeber Victor Cousin (1792–1867) das unbedingte Festhalten an der (aktiven) Vernunftfähigkeit des Menschen. Félix Ravaisson (1812–1900) entwirft darauf eine Alternative zu Biran und erkennt unter den Vorzeichen des Heroischen die philosophische Praxis spiritueller Einübung zwischen Anspannung ( tonos) und Entspannung (anesis) als das gemeinsame Anliegen von Christentum und antiker Stoa, personifiziert in Christus und Hercules. Mit diesem Schulterschluss der Helden ist es nur mehr ein kleiner Schritt zum Vitalismus von Henri Bergson (1859–1941) und dem Stoizismus des Kraftaktes im Werk Alains (1868–1951), die für K. den zeitgenössischen Leistungsoptimismus im französischen Denken des 20. Jh.s mitverursachen werden. Simone Weil (1909–1943), Alains Schülerin, bricht mit dem Bruch im Spiritualisme français durch ihre Vorgängergeneration, indem sie mit ihrem Konzept eines effort négatif die notwendige Paradoxie im Vollzug von Aufmerksamkeit herausarbeitet. Darin verbindet die Philosophin eine Passivität im wartenden Empfangen mit einer Aktivität im spontanen, affektiven Handeln und knüpft damit an den ursprünglichen Balanceakt zwischen Leistung und Gnade.
»Effort and Grace« wirft einerseits Licht auf eine (fast) vergessene Tradition, andererseits auf ein schlummerndes Potential innerhalb der Ökotheologie und Religionspädagogik, in der Aktivität/ Leistung und Passivität/Verzicht ein neues Gleichgewicht suchen.