Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

443–446

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Zager, Werner [Hg.]

Titel/Untertitel:

Was ist (uns) heilig? Perspektiven protestantischer Frömmigkeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 161 S. = Veröffentlichungen des Bundes für Freies Christentum, 3. Kart. EUR 24,00. ISBN 9783374061723.

Rezensent:

Wolf Krötke

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

[Zager, Werner:] Notwendiges Umdenken. Festschrift für Werner Zager zum 60. Geburtstag. Hgg. v. M. Wriedt u. R. Zager. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 310 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374060795.


Der »Bund für Freies Christentum« ist ein eingetragener Verein, der sich für »einen offenen religiösen Dialog« und eine »weltoffene Form des christlichen Glaubens« einsetzt. Was seine Anliegen sind, kommt u. a. in dem Band über das »Heilige«, der Vorträge der Jahrestagung des »Bundes« von 2018 dokumentiert, und der Festschrift (FS) für den »Präsidenten« Werner Zager zum Ausdruck.
Wichtig für das »freie Christentum« ist das eigene Erleben. Das heben Wolfgang Pfüller und Jörg Lauster hervor, die sich auf jener Tagung mit dem Verständnis des »Heiligen« bei Rudolf Otto beschäftigt haben (vgl. 9–45; 47–59 sowie FS, 275–288). Bei aller Kritik an Otto werden seine »Impulse« für die Bewertung der Religion als »Gefühl« »wegweisend« genannt (38). Das Heilige als »mysterium tremendum et fascinans« konzentriere auf das »Urmoment subjektiven Erlebens« (50). Der Vortrag von Werner Zager über die »Unterscheidung von heilig und profan im Alten Testament und deren Aufhebung im frühen Christentum« (61–84) bestätigt dieses Verständnis des Heiligen freilich nicht gerade. Die frühchristliche »Universalisierung« sowie die »Spiritualisierung« und »Ethisierung« des alttestamentlichen Heiligkeitsverständnisses (vgl. 76–82) haben nach Zager vielmehr die Konsequenz, dass für »Christen […] nichts sakrosankt, d. h. unhinterfragbar sein« (84) darf – auch nicht (so ist man versucht hinzuzufügen) das subjektive »Erleben« des Heiligen!
Wie es um dieses Erleben heute bestellt ist, schildert Michael Großmann (vgl. 85–113), der auch einen Beitrag zur FS über das »Prinzip Verantwortung« bei Hans Jonas beigesteuert hat (FS, 225 ff.). Er konstatiert, dass das Religiöse »diffundiert« (98). Es wird von vielen Menschen heute allenfalls im ekstatischen Ergriffensein von säkularen Ereignissen erlebt. Als »idealen Anknüpfungspunkt« für ein Gespräch über das Heilige mit Atheisten empfiehlt der Autor »apollinische Ekstase«. Sie stelle sich »bevorzugt beim Blick durchs Fernrohr« in das Universum ein (112 f.). Hans-Ulrich Gehring da-gegen beschreibt die »Erfahrung des Heiligen in der Ästhetik des Kinos« (115–129). Das »Überwältigungskino« von Science-Fiction-Filmen erinnere an Ottos Beschreibung des »Erhabenen« als einer »Erlebensform des Numinosen« (127 f.). Zu kurz kämen allerdings »ruhiges Trauen, […] stilles Sinken und Gelassensein in Gott« (129).
Dergleichen »Sinken« ist vermutlich mit der Erfahrung des »Seinsgrundes« gemeint, welche das Nachdenken von Andreas Rössler über die »Heiligkeit Gottes und die Heiligkeit des Lebens« leitet (132–151). Im Anschluss an Albert Schweitzer und Paul Tillich werden Gott aufgrund dessen »seinshafte (ontologische) Heiligkeit und eine vollkommen gute (ethische) Heiligkeit« zugesprochen (136). Beides begründet die »Ehrfurcht vor dem Leben«, das auch »heilig« ist (vgl. 140.143). Es verleiht »Kraft zum Guten« (150). In seinem Beitrag zur FS über »befreiende und fatale Bibelworte« (FS, 25–40) lobt Rössler darum Schweitzers und Tillichs Gebrauch von Bibelworten zu solchem Zweck.
Die 20 Beiträge der Festschrift sind ansonsten nach den vier theologischen Disziplinen geordnet. Der Titel »Notwendiges Um­denken« ist dem Aufsatz von Bernd Jaspers entlehnt, der ein »Notwendiges Umdenken in der Kirchengeschichte« fordert (FS, 155–163). Als theologische Disziplin soll sie sich auf die »unverhandelbare Botschaft Gottes«, die Jesus vertreten hat, konzentrieren (FS, 157 f.). Diese Botschaft muss »Maßstab für das angemessene Sein der Kirche in ihrer Geschichte« werden (FS, 159 f.). Als Titel der Festschrift meint »notwendiges Umdenken« jedoch grundsätzlich die Profilierung des Christentums im Rahmen des neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses und damit die Verabschiedung der kirchlichen Christologie, ja überhaupt kirchlicher »Dogmen«.
Nicht alle Beiträge der Festschrift beteiligen sich jedoch an diesem »Umdenken«. Ulrich Oelschlägers Analyse von Adolf Schlatters Verständnis des Judentums (FS, 41–66) zeigt z. B., wie gefangen Schlatter trotz seiner Betonung der Verwurzelung des christlichen Glaubens im Alten Testament in seinem Antisemitismus war. Das sensibilisiert für den Umgang mit den Kommentaren dieses Exegeten. – Lehrreich ist auch der Aufsatz »Schriftauslegung des Neuen Testaments bei Luther« von Markus Wriedt (FS, 109–128). Er arbeitet die »existentiale […] Erweiterung des vierfachen Schriftsinns« beim Reformator heraus (FS, 117) und skizziert Elemente seiner Schriftauslegung. Im Kontext dieses Bandes ist das Insistieren auf dem »Sinngehalt des Wortes Gottes (!)« im textus receptus zu beachten (FS, 126)! Als Nächstes beschreibt Joachim Ufer das Entstehen und das Profil des Wormser »Agendenbüchleins« von 1560 (FS, 129–141). Otto Merk würdigt Helene Schweitzer, geb. Breßlau, die Frau des ersten »Ehrenpräsidenten« des »Bundes« (FS, 143–153). Und wie Dorothea Zager im praktisch-theologischen Teil schließlich die Möglichkeiten und Grenzen auslotet, mit dem Internet die »Generation Y« zu erreichen (FS, 249–263), ist für die kirchliche Jugendarbeit anregend.
Nicht so recht zum hier gemeinten »Umdenken« passt auch das »Plädoyer für ein Menschenrechtsbekenntnis im Gottesdienst« von Gerd Theißen (FS, 167–185). Es lädt zur theologischen, ethischen und liturgischen Verantwortung eines solchen Bekenntnisses ein. Dieser Einladung kann man gerne folgen. Ob dazu Raphael Zager (einer der Hgg. der FS) auch bereit wäre, ist die Frage. Denn er hält im Namen der »Pluriformität« des Glaubens nichts von kirchlichen Bekenntnissen »mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit« (vgl. »Von der Deutung zum Dogma – Vom Dogma zur Deutung«; FS, 188–199: 197). Dieser Anspruch ist, wenn es um die Rechte aller Menschen geht, aber gar nicht zu vermeiden.
Welche Wege das deutende »Umdenken« zu gehen vermag, zeigt sich ziemlich spezifisch an Wolfram Zollers Text »Freiheit aufgrund von Tranzendenzerfahrungen im Wirken Jesu« (FS, 67–79). Ausgehend von »Nahtoderfahrungen«, die der Kardiologe Pim van Lommel beschrieben hat, gilt: »So etwas muss auch Jesus erfahren haben« (FS, 73), allerdings auch Schamanen, Buddha und Mohammed (FS, 77 f.). Jesu »Transzendenzerfahrung« wird jedoch als die »lebensdienlichste« beurteilt, weil sie Freiheit und Zuwendung zum Mitmenschen gewährt (FS, 79). Im Unterschied dazu ist die Botschaft Jesu in der Sicht von Kurt Bangert ganz von »Diesseitigkeit geprägt« (FS, 81–105: 102). D. h. Jesus wollte die in Menschen »schlummernden Möglichkeiten« freisetzen, sich selbst (!) von »inneren Beschränkungen und Behinderungen« zu befreien und »Selbstheilungskräfte (zu) aktivieren« (ebd.). Gerhard Klumbies sorgt sich in seinem Aufsatz darum, dass heute die »Gottesbe-ziehung« aus der Exegese verdrängt wird (FS, 13–24). Diese Sorge teilt Bangert nicht. Er versteht die »wahre Gottesherrschaft« als menschliches Werk, an dem sich die Kirche im Interesse »einer besseren, humaneren Welt« beteiligt (FS, 105).
Diese Tendenz zum Entfernen der Eschatologie bei Jesus und in der Verkündigung heute findet sich auch sonst in der FS. Bei Helmut Fischer (»Der Paradigmenwechsel als Aufgabe für die Verkündigung«; FS, 239–248) kommt das sehr deutlich zum Ausdruck. Das »subjektivistische Weltverständnis«, das in Weltphänomenen Gott am Werke sieht, sei heute endgültig überholt. Die Welt bestehe nur aus einer »Abfolge von Vorgängen […], die […] mit Gott nichts zu tun haben« (FS, 243). Dieser Weltsicht wird auch die Rede Jesu vom »Reiche Gottes« beigeordnet. Dieses Reich sei kein »von Gott bewirktes überirdisches Geschehen«, sondern eine »Lebenswirklichkeit […], die aus uns Menschen hervorgehen kann« (FS, 245), indem wir für ein »wahrhaft menschliches Gesicht unserer Welt« (FS, 247) eintreten.
Der Ausfall der Eschatologie wird theologisch nicht erst seit heute gemeinhin durch das Reden vom »Sinn des Lebens« kompensiert. So geschieht es auch hier. Michael Blume führt die hohe Geburtenrate bei »religiösen Populationen« auf einen mit der Vernunft verbundenen, Sinn stiftenden Glauben zurück (FS, 201–205). Im Unterschied dazu bewirke »Vernunft ohne Glauben« ein »Verebben der Sinn- und Lebensströme« (FS, 205). Auch Wilhelm Gräb hebt darauf ab, dass der entkirchlichten, pluralisierten und individualisierten »Präsenz der Religion« in der säkularen Gesellschaft die Funktion der »Sinnvergewisserung« zukommt (FS, 207–223). In einem Brief an den Jubilar aber unterstreicht Hans-Georg Wittig auch, dass Religion nach Albert Schweitzer »über unsere Erscheinungswelt hinausweist« und so etwas wie »metaphysische Geborgenheit« erschließt (FS, 265–274: 271).
Die Anliegen des »Bundes« können also auf durchaus unterschiedlich akzentuierte Weise vertreten werden. Das Spektrum reicht vom Bemühen um die Identität des christlichen Glaubens unter den Bedingungen der säkularen Gesellschaft mit ihren multireligiösen Strömungen bis hin zum Verständnis der Kirche als einer Art Wohlfahrtsverband. Beides begegnet im Raum von Theologie und Kirche ja auch sonst auf vielfältige Weise. Sich damit auseinanderzusetzen gehört heute zur Aufgabe jeder Theologie. Darum dürfen und sollen auch die Einlassungen des »Bundes« Aufmerksamkeit beanspruchen.
Auffällig ist jedoch, dass hier auf der ganzen Linie so gut wie kein Gespräch mit der wissenschaftlichen und kirchlichen Theologie der Gegenwart über die brennenden Themen des christlichen Glaubens geführt wird. Diese Themen werden weithin so traktiert, als gäbe es keinen breiten Diskurs über die Dogmenhermeneutik, die Gotteslehre, die Anthropologie, die Christologie, die Soteriologie, die Eschatologie, usw. Vielleicht hängt diese Selbstisolation mit dem Vereinswesen zusammen, für das es erfahrungsgemäß charakteristisch ist, die Vereinsmitglieder vor allem zur Beschäftigung mit den besonderen Vereinszielen und ihren Leitfiguren anzuhalten. Aber wie dem auch sei! Etwas mehr Beteiligung an diesen Diskursen würde manche Polemik gegen das Gelten von »Dogmen« in der Kirche überflüssig machen und auch sonst der Vermittlung des angestrebten »Umdenkens« zugutekommen.