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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

430–431

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bearb. v. A. Stegmann.

Titel/Untertitel:

Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte(1517–1615). 2 Bde.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. LXVIII, 1594 S. Lw. EUR 249,00. ISBN 9783161594236.

Rezensent:

Matthias Pohlig

Gibt es eine »typische« territoriale Reformation? Der kursächsische oder hessische Weg einer frühen obrigkeitlichen Reform der Kirche etwa ist, blickt man auf die Territorien des Reichs insgesamt, sicher ein Sonderfall unter Sonderfällen. Besonders viele Spezifika weist die brandenburgische Reformation auf – ein weiterer Sonderfall: Hier hat man es mit einer Reformation zu tun, die nach relativ unklaren Anfängen und Abwehr durch den Landesherrn erst unter seinem Nachfolger (Joachim II.) ab 1539 eingeführt wurde. Allerdings folgte sie aus religiösen und reichspolitischen Gründen lange eher einer via media, bevor ab ca. 1560 ein konfessionell eindeutiges Luthertum etabliert wurde.
Brandenburg entwickelte sich zu einem Pfeiler des Konkordienluthertums, das allerdings ab 1613 in einen Konflikt mit Kurfürst Johann Sigismund geriet: Dieser nahm die reformierte Konfession an und hätte diese gern in seinem Territorium eingeführt, was bekanntlich scheiterte. Die Bikonfessionalität wurde damit zu einem wichtigen Faktor der brandenburgischen und preußischen Geschichte.
Andreas Stegmann, Kirchenhistoriker und Privatdozent der evangelischen Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat zur komplexen brandenburgischen Reformationsgeschichte eine gewichtige zweibändige Quellenedition zusammengestellt. Die Arbeit und Mühe, die in diesen zwei Bänden steckt, ist nicht genügend zu rühmen: In jahrelanger minutiöser Arbeit hat S. eine Vielzahl von Archiven (die zu Beginn der Einleitung in hilfreicher Weise vorgestellt werden) und frühneuzeitlichen Drucken durchforstet.
Die Quellen, die nach den Standards frühneuzeitlicher Editionsphilologie sorgfältig präsentiert werden, reichen von landesherrlichen Gesetzen bis zu theologischen Diskussionen, bieten Einblicke in die Frömmigkeitspraxis und die Reaktionen der Bevölkerung und integrieren Brandenburg in die Debatten der Reichspolitik und der gesamtkirchlichen Reform. Der erste Band ist für die Entwicklung der Reformation von 1517 bis 1615 der interessantere; der zweite dokumentiert, im Anschluss an Teilabdrucke bei Sehling oder zeitgenössische Drucke, die Kirchenordnungen von 1540 und 1572 sowie die Visitations- und Konsistorialordnung von 1573, bietet also zentrale Dokumente landesherrlicher Ordnungspolitik und konfessioneller Konsolidierung. Die Bände zielen nicht auf eine historisch-kritische Edition (die z. B. alle Textvarianten dokumentieren müsste), sondern auf einen »verlässlichen und hinsichtlich der Textkonstitution überprüfbare(n) Abdruck der Quellen« (LXIII f.). Die Edition präsentiert in chronologischer Reihenfolge eine umfangreiche Quellenauswahl, umfasst Bekanntes und Unbekanntes, Lokales wie Übergreifendes. Für Forschung wie Lehre wird dieses Quellenbuch zur Standardreferenz und ersten Anlaufstelle werden.
Wenn im Folgenden einige kritische Anmerkungen gemacht werden, zielen diese doch kaum auf die Bedeutung der Edition. Meine Anfragen haben auch weniger mit der Edition als solcher zu tun, sondern mit drei anderen Punkten: einmal mit der zugrundeliegenden Reformationsdeutung; zweitens mit dem Verhältnis historischer Forschung zu den Quellen; drittens mit der Benutzbarkeit der Edition.
Zur Reformationsdeutung: S. stellt der Edition einen Abriss der brandenburgischen Reformationsgeschichte »im Spiegel der Quellen« (XXV) voran. Der Reformationsbegriff, den er in einer aufschlussreichen Anmerkung entfaltet, wird dabei zeitlich in eine Phase theologischer Neuerungen, eine Phase der reformatorischen Bewegung und eine der Etablierung der evangelischen Kirche differenziert. Populäre Aneignungen der Reformation in Aufruhr und Umsturz werden dementsprechend als theologisch unreflektiert oder undurchdacht gekennzeichnet (XXIX f.). Das ist ein sehr kon ventioneller, theologiezentrierter Reformationsbegriff, den man mit der neueren Forschung auch anders akzentuieren könnte. Die Konflikte nach 1560, so S., seien dagegen strenggenommen »schon nicht mehr Reformation, wohl aber unmittelbare Folge und auf Dauer angelegte Gestaltwerdung der Reformation und insofern noch Teil der Reformationsgeschichte.« (XXVI, Anm. 78) Seine Entscheidung, in die Edition Quellen bis zur gescheiterten »zweiten Reformation« aufzunehmen, ist überzeugend, aber begründungsbedürftiger, als dies hier geschieht. Denn man könnte ja tatsächlich sagen, dass mit der zweiten Hälfte des 16. Jh.s die lutherische Reformation abgeschlossen war und es sich bei späteren Ereignissen um typische Konflikte des konfessionellen Zeitalters handelt, die man von der ›eigentlichen‹ Reformation unterscheiden muss. Vor dem Hintergrund der Debatten um die Forschungskonzepte R eformation (im Singular wie Plural) und Konfessionalisierung müsste S.s Interpretation der brandenburgischen Reformation konzeptionell schärfer ausgearbeitet und diskutiert werden, statt einfach gesetzt zu werden. Dies führt bereits zum zweiten Punkt: dem Verhältnis von Quellen und Forschung.
S.s Kurzdarstellung der brandenburgischen Reformationsgeschichte in der Einleitung ist am Leitfaden der hier edierten Quellen geschrieben, ja, diese Einleitung dient auch dazu, die Quellen vorzustellen und zu kontextualisieren (darauf komme ich zurück). S. weist darauf hin, dass es die Einleitung überfrachten würde, umfassende Literaturhinweise zu geben, und die Literatur leicht aufzufinden sei. Da aber S., wie gesagt, eine nicht völlig unproblematische sachliche und zeitliche Deutung der Reformation vorträgt und überdies mit voraussetzungsreichen Forschungskonzepten wie etwa »Konfessionskultur« arbeitet (LIX), gibt sich diese quellengesättigte und forschungsliteraturlose Darstellung sehr viel neutraler und unkontroverser, als sie ist. Die hier aufscheinende Trennung von »objektiven« Quellen und nur deutender »Sekundär«-Literatur verweist auf ein quellenpositivistisches Geschichtsbild, das typisch für Editionen und nichtsdestoweniger problematisch ist.
Schwerer wiegt der letzte Punkt, so klein er ist. Meine Einschätzung dieses wunderbaren Quellenbuches ist ganz aus der Nutzersicht geschrieben. Doch gerade aus dieser Perspektive fällt auf, dass der erste Band, der 242 oft relativ kurze Quellen enthält, kein Inhaltsverzeichnis besitzt. Zwar sind die Quellen mit kurzen Re-gesten versehen, aber der einzige Ort, an dem die Quellen vorgestellt werden, ist der bereits erwähnte Abriss der brandenburgischen Reformationsgeschichte, in dem die Quellen im narrativen Verlauf erwähnt werden. Um also eine bestimmte Quelle zu finden oder auch um unspezifischer Quellen zu suchen, die z. B. für die Lehre interessant wären, muss man entweder mühsam die fast 30-seitige Kurzdarstellung der Reformationsgeschichte konsultieren oder den ganzen Band durchblättern (für den zweiten Band stellt sich dieses Problem nicht, weil er nur drei sehr umfangreiche Ordnungen enthält). Es gibt zwar ein Orts-, Personen- und Sachregis-ter, aber oft wird man einfach eine Übersicht brauchen, welche Quellen der Band enthält. Warum eine solche fehlt, erschließt sich nicht. Dies erschwert die Nutzung stark – und ist angesichts der B edeutung und Qualität der Edition nicht nur unverständlich, sondern auch ausgesprochen schade. Dies alles schmälert allerdings die große Leistung kaum, die S. mit seiner Edition vollbracht hat.